VIER
»Wie kommst du hierher?« Daniel lehnte sich zurück und betrachtete sie staunend. »Es hieß, wir wären die erste Gruppe, die es bis Soricium geschafft hat.«
Vhalla wollte etwas sagen, gab aber nur einen erstickten Laut von sich. Sein Anblick war ihr so unfasslich vertraut – so sehr, dass sie sich wegen der Erleichterung, die sie verspürte, fast schuldig fühlte. Sie trat einen Schritt zurück und löste sich aus der Umarmung, damit sie seine Hände nehmen konnte.
»Lass uns woanders hingehen«, flüsterte sie. Die Hälfte der Anwesenden saß nah genug, um jedes Wort mitzubekommen.
Daniel nickte. »Erion, Jax, wir stoßen später an.«
»Du weißt ja, wo die Hütten sind; alles ist noch so, wie ihr es verlassen habt.« Erion nippte an seinem Getränk. Raylynn und Craig schauten interessiert auf Daniels und Vhallas verschlungene Finger.
Jax begnügte sich nicht mit Blicken. »Unser kleiner Daniel ist erwachsen geworden! Er entführt junge Frauen!«, feixte er.
Vhallas Wangen brannten angesichts des Gelächters, das nach dieser Bemerkung in der Halle ausbrach.
Um ihnen weitere Peinlichkeiten zu ersparen, führte Daniel sie eilig nach draußen. Inzwischen war die Sonne fast ganz untergegangen und im schwächer werdenden Licht erkannte Vhalla, dass sein Gesicht ebenso rot war wie ihres.
»Jax, e-er ist ein wenig irre, deshalb verhält er sich so«, sagte Daniel hastig und in entschuldigendem Ton.
Vhalla nickte. Das war ihr schon vom Moment ihrer ersten Begegnung an klar gewesen.
»Aber er ist ein guter Mensch, wirklich, eben nur ein bisschen …« Daniel seufzte, verlangsamte seine Schritte und wandte sich ihr zu. Als würde er erst jetzt bemerken, dass er ihre Hand hielt, ließ er sie schnell los und stopfte die Fäuste in die Hosentaschen.
Stumm sah Vhalla dem ostländischen Lord in die Augen.
»Ich kann nicht fassen, dass du hier bist«, flüsterte er.
»Ich wäre lieber woanders …« Vhalla blickte Richtung Süden.
»Natürlich.« Daniel nickte, wie um seine Benommenheit abzuschütteln. »Komm, wir gehen an einen Ort, wo wir uns in Ruhe unterhalten können.«
Er marschierte rechts am Lagerpalast entlang, zu den Zelten der Soldatinnen und Soldaten. Es war das erste Mal, dass Vhalla sich unter sie mischte. Die meisten nahmen keine große Notiz von ihr, doch für Daniel galt das nicht. Obwohl er versuchte, ein ordentliches Tempo vorzulegen, brauchten sie ewig für den kurzen Weg zu einer Reihe von Hütten, die sich um eine überdachte Feuerstelle gruppierten. Offenbar wollten alle hier das Mitglied der Goldenen Garde willkommen heißen.
Vhallas Vermutung, dass es sich bei den behelfsmäßigen Hütten um die Unterkünfte für die Elite-Schwertkämpfer handelte, wurde bestätigt, als Daniel sie in eine davon führte. Ein Vorhang war das Einzige, was seine Behausung von der Umgebung abtrennte. Trotzdem fühlte sie sich sofort entspannter.
»Es ist recht bescheiden.« Daniel rieb sich verlegen den Nacken.
Es waren kaum mehr als vier Wände und ein Dach darüber. Daniels Gepäck hatte man bereits hergebracht. Auf einem einfachen Ständer hing seine Rüstung und auf einem kleinen Tisch lagen ein paar persönliche Sachen. Seine Wolldecke war auf einem niedrigen Podest ausgebreitet, sodass sie nicht mit dem staubigen Boden in Berührung kam.
»Es ist perfekt«, sagte Vhalla.
Dieser Raum war so weit entfernt von allem, was sie bisher gekannt hatte, dass er für sie mit keinerlei Bedeutung aufgeladen war. Im Lagerpalast war alles von Aldrik erfüllt und von dem Kriegsgeschehen, das sie überhaupt erst in den Norden gebracht hatte. Hier war ein Ort, an dem sie Serien sein konnte, oder jemand anders oder niemand – es spielte keine Rolle.
»Wieso bist du hier?«, wiederholte Daniel seine frühere Frage und machte einen Schritt auf sie zu.
Wenn Baldair keine Ahnung von Aldriks Zustand gehabt hatte, dann war es nur logisch, dass die anderen Ankömmlinge auch nichts wussten.
»Wir sind an der Tiefe angegriffen worden.« Vhalla versuchte, sich innerlich zu stählen, wie sie es als Serien gelernt hatte – zu sprechen, als drohten die Erinnerungen sie nicht mit jedem weiteren Wort zu zermalmen. »Aldrik ist in die Schlucht gestürzt …« Sie riss erschrocken die Augen auf, als ihr klar wurde, dass sie nicht seinen offiziellen Titel benutzt, ihn nicht als Kronprinzen bezeichnet hatte. Doch Daniel wirkte vollkommen ungerührt. Er wusste es bereits. »Ich habe versucht, ihn zu retten, aber es ist mir nicht gelungen. Er schwebt zwischen Leben und Tod. Ich bin vorausgeritten, damit er schneller neue Arznei bekommt.«
Daniel schaute sie fassungslos an. »Wenn du sagst, du bist vorausgeritten …«
»So schnell ich konnte.« Vhallas Tonfall war entschlossen und ein bisschen abwehrend, für den Fall, dass er ihre Entscheidung infrage stellte. »Ich bin auf Baston geritten und habe sein Tempo mithilfe des Windes beschleunigt, bis sie ihn getötet haben …«
»Sie?«
»Nordländer.« Vhalla fand das offensichtlich.
»Du musstest dich mit Nordländern auseinandersetzen?« Daniel kam jetzt noch näher.
»Ich habe gegen sie gekämpft und sie getötet, um es hierher zu schaffen.« Sie musste diese Tatsache nicht ausschmücken, um zu spüren, wie sehr das an ihr zehrte. »Seit Tagen bin ich hier, ganz allein, und weiß nicht mal, ob diese Aktion irgendwas gebracht hat. Ich weiß nicht mal, ob er noch lebt.«
Zum zweiten Mal nahm Daniel sie in die Arme und zum zweiten Mal erwiderte Vhalla seine Umarmung. »Du hast alles richtig gemacht.« Er rieb ihr über den Rücken. »Es war genug. Du hast genug getan.«
Sie schloss die Augen und genoss seine Worte. Vielleicht war es nur ein bedeutungsloses Lob. Vielleicht stimmte es, vielleicht war es falsch. Aber sie hatte sich trotzdem danach gesehnt, es zu hören.
»Vhalla, ich …« Daniel zog sich ein Stück von ihr zurück.
»Nicht«, flüsterte sie und er wurde ganz still. »Keine Namen, keine Worte mehr. Lass mich hier für eine Weile bei dir unterschlüpfen und tröste mich, wie du auch irgendjemand anderen trösten würdest.«
Daniel hob den Kopf, sodass er ihr in die Augen sehen konnte. Ganz allmählich verlangsamte sich ihr Herzschlag, bis Vhalla etwas Frieden fand – genug, um das widersprüchliche Durcheinander aus Gefühlen vorübergehend zu verdrängen. »Du bist nicht irgendjemand. Aber ich tue, was du möchtest.«
»Danke.«
»Es gibt nichts, wofür du mir danken müsstest.« Scheu hob Daniel die Hand und strich ihr zart über die Wange.
Er erfüllte ihren Wunsch und die restliche Nacht über sprach keiner von ihnen mehr ein Wort. Alles war vollkommen selbstverständlich und wunderbar unkompliziert. Daniel hielt Vhalla im Arm und verscheuchte die Leere, mit der sie seit Tagen zu kämpfen hatte. Bei ihm Trost zu suchen, war egoistisch, aber sie hatte diesen Trost bitter nötig.
Als sie am nächsten Morgen aus Daniels Hütte kam, wirkte Erion nicht sonderlich überrascht. »Frühstück«, sagte er leise, was Vhallas Aufmerksamkeit auf die Bratpfanne über dem Gemeinschaftsfeuer lenkte.
Das Essen roch tatsächlich vielversprechend. Es dämmerte gerade erst, und sie hatte nichts weiter zu tun, also ließ sie sich auf einem der Baumstümpfe nieder. Nachdenklich betrachtete sie Lord Le’Dan, den sie mittlerweile wie allen anderen nur »Erion« nannte. Krieg war ein interessanter Gleichmacher. Er brachte Edelleute dazu, Essen zu kochen wie gewöhnliche Menschen, und das Einzige, was man unter diesen Umständen besaß, hatte man sich verdient oder genommen.
»Woher kennst du Daniel?« Erion blickte konzentriert auf das Feuer.
»Wir …« Vhalla hielt kurz inne. »Wir haben uns kennengelernt, als ich mich im Westen der kaiserlichen Armee angeschlossen habe.«
Er hob den Kopf. »Im Westen, ja ?«
Vhalla nickte. Die Tarnung als Serien funktionierte nicht mehr so gut, wie sie es früher getan hatte.
»Aus welcher Ecke des Westens stammst du?« Hellblaue Augen musterten sie gründlich.
»Qui.« Vhalla wusste, wann sie auf dem Prüfstand war.
»Qui?« Erion stieß einen leisen Pfiff aus. »Wie kommt eine Frau aus dem Osten nach Qui?«
Sie merkte, wie er ihre bernsteinfarbene Haut und ihr Haar taxierte. »Hab nie danach gefragt. Mutter hat nicht viel geredet, ehe sie starb. Und Vater war meist zu betrunken, um überhaupt irgendwas zu sagen.« Bevor Erion weiterbohren konnte, drehte Vhalla den Spieß um, sah ihm scharf in die südländisch blauen Augen und ergänzte: »Und was verschlägt einen Südländer wie dich …«
»… nach Estrela?« Erion grinste und sie begriff, wie durchschaubar ihr Versuch war, mit einer Gegenfrage von sich abzulenken. »Sicher weißt du doch genau, wo ich eigentlich herkomme.«
Vhalla runzelte die Stirn. Während ihrer Arbeit in den letzten Tagen hatte sie sich alles in Erinnerung gerufen, was sie je zur Militärgeschichte gelesen hatte. Hauptsächlich war es um die Eroberung des Westens gegangen. Beinahe wäre sie in seine Falle getappt.
»Natürlich weiß ich das. Es gibt wohl keinen Westländer, der die Le’Dan-Familie nicht kennen würde.«
Erion warf ihr einen beifälligen Blick zu und stocherte dann in der Bratpfanne herum. »Ich glaube, im ganzen Reich gibt es keinen, der das nicht weiß, wenn man an die Geschichte von Leron Ci’Dan und Lanette Le’Dan denkt.«
Vhalla nickte halbherzig. Die Geschichte dieser verhängnisvollen Liebe hatte sie nur ein Mal gelesen – die Lektüre war langatmig und zäh gewesen. In den meisten Fassungen wurden die Familiennamen der unglückseligen Liebenden gar nicht erwähnt. Ci’Dan, Aldriks Familie … Der Gedanke an den Kronprinzen verlieh der Erinnerung an vergangene Nacht einen unangenehmen Beigeschmack. Auf einmal fühlten sich diese Stunden, in denen sich enge Freunde arglos Trost gespendet hatten, sehr falsch an.
»Der Mutter sei Dank, du kochst noch immer.« Ein noch schlaftrunkener Daniel kam zu ihnen herübergestolpert, als hätte sie ihn mit ihren Gedanken herbeizitiert.
Vhalla beobachtete, wie sein Hemd über seine Haut glitt, als er sich mit der Hand durch sein fast schulterlanges braunes Haar strich. Es stand so weit offen, dass man fast seinen Bauchnabel sehen konnte. Sie musste an die Wärme denken, die sein Körper ausgestrahlt hatte in der vergangenen Nacht. Schnell schaute sie auf ihre Hände, verschränkte sie zwischen den Knien und löste sie dann wieder.
Auf dem Marsch Richtung Norden hatten sie Seite an Seite geschlafen. Daniel hatte in ihr nicht Vhalla gesehen, und auch in der letzten Nacht war sie eine Namenlose gewesen. Doch das war nur eine fadenscheinige Entschuldigung für etwas deutlich tiefer Gehendes, und das war ihr sonnenklar.
»Serien, möchtest du auch was?«
Sie blinzelte und schaute auf den Teller, den er ihr hinhielt.
»Serien?«, wiederholte Daniel.
»Nein, nein, ich …« Vhalla erhob sich kopfschüttelnd. »Ich habe keinen Hunger.«
»Aber du musst doch völlig ausgehungert sein, schließlich haben wir gestern Abend gar nichts gegessen«, wandte Daniel besorgt ein.
»Ich muss dringend jemanden aufsuchen«, sagte sie, was gelogen war, aber nur zum Teil.
Ohne ein weiteres Wort erhob sie sich und hastete Richtung Lagerpalast.
»Halt!« Einer der beiden Wachsoldaten neben den Eingangstüren hielt sie auf. »Was ist dein Anliegen?«
»Ich habe hier mein Quartier.«
»Davon weiß ich nichts. Der Lagerpalast ist Heeresführern und kaiserlichen Hoheiten vorbehalten.« Mit einer Handbewegung versuchte er, sie zu verscheuchen.
Vhalla schüttelte den Kopf. »Nein, du verstehst nicht.« Auf einmal wurde ihr bewusst, dass ihr Kettenhemd – das Kettenhemd, das Aldrik für sie geschmiedet hatte – sich noch in seinem Zimmer befand. »Du musst mich durchlassen.« Sie machte einen Schritt nach vorn, doch der Wachsoldat verstellte ihr den Weg.
»Das geht zu weit, Soldatin!«
»Es ist viel zu früh, um hier Ärger zu machen.« Wie aus dem Nichts tauchte Jax vor ihr auf. Die beiden Wachsoldaten salutierten vor dem obersten Anführer der Schwarzen Legion.
»Was tust du denn hier?«, fragte Vhalla erschrocken.
»Das könnte ich dich auch fragen.« Jax legte den Kopf schief. Dann wandte er sich an die Männer: »Und jetzt lasst uns durch!«
Die Soldaten gehorchten dem Oberstmajor.
Die große Halle war leer, doch überall auf den Tischen lagen Dokumente und Protokolle. Vhalla hatte unterschätzt, wie früh es noch war.
»Also?« Jax verschränkte die Arme vor der Brust.
»Ich muss zu Baldair«, erklärte Vhalla.
»Das habe ich mir schon gedacht.« Er grinste. »Du wechselst schnell von einem Mann zum anderen, nicht wahr?«
Ehe er sichs versah, hatte Vhalla ihn am Hemdkragen gepackt. »Wag es ja nicht!«, fauchte sie.
Die anfängliche Überraschung verschwand schnell aus Jax’ Miene, und sein Blick wurde dunkler und noch bohrender als sonst. Es veränderte seine joviale Haltung und ließ ihn eher einschüchternd wirken. Langsam verzog Jax den Mund zu einem Grinsen, das an ein Raubtier erinnerte. »Willst du das wirklich, hier und jetzt?«, fragte er sanft. »Bisher war ich ein überaus großzügiger Gastgeber, und das würde ich gern auch weiterhin sein.«
Ihr Griff an seinem Hemdkragen lockerte sich. Die Launen dieses Mannes wechselten schnell. Inzwischen konnte Vhalla sich sehr genau vorstellen, wie und warum er der oberste Anführer der Schwarzen Legion geworden war. Langsam hob Jax eine Hand und legte sie Vhalla auf die Schulter. Obwohl sie seine Bewegungen verfolgte, zuckte sie zusammen.
»Wir lassen das lieber, oder?« Mit der anderen Hand löste er mühelos ihre Finger von seinem Kragen.
»Es ist nicht, wie du denkst«, sagte Vhalla noch immer feindselig.
»Ich schwöre, du hast keine Ahnung , was ich denke.« Jax legte ihr den Arm um die Schultern. »Und jetzt bringe ich dich zu deinem Prinzen.«
Vhalla verkniff sich die Bemerkung, dass der goldhaarige Prinz nicht ihr Prinz war.
Mit jedem Schritt wuchsen die Zweifel an ihrem Vorhaben. Was wollte sie damit erreichen? Als Jax sich anschickte, an Baldairs Tür zu klopfen, hätte sie ihn beinahe aufgehalten. Doch die Gelegenheit war schnell vorbei, und sein Klopfen verhallte.
»Wer ist da?«, fragte eine schlaftrunkene Stimme.
»Deine errötende Prinzessin«, antwortete Jax mit mädchenhafter Falsettstimme.
»Verschwinde, Jax.«
Sie hörte, wie sich drinnen etwas regte.
»Leider bin ich nicht allein, mein Schatz.« Jax blickte auf Vhalla herab. »Eine gewisse Lady verlangt nach dir.«
Es folgte Gemurmel, unter anderem von einer Frauenstimme, bevor schwere Schritte zu hören waren. Die Tür wurde von innen entriegelt und einen Spaltbreit geöffnet. Der Prinz schaute heraus. »Du?«
Vhallas Entschlossenheit war wie weggeblasen. »Bitte entschuldige die Störung. Ich habe meine Rüstung nebenan vergessen.«
»Warum kommst du zu mir, wenn du bloß deine Rüstung haben willst?« Baldairs Frage klang unerwartet sanft.
Vhalla wusste nichts darauf zu sagen.
»Warte in seinem Zimmer auf mich.« Baldair deutete mit dem Kopf auf die gegenüberliegende Tür.
Während Vhalla auf ihn wartete, lief sie ruhelos auf und ab. Bei jedem Schritt wechselte sie zwischen den Rollen, in die man sie im vergangenen Jahr gedrängt hatte: Bibliothekselevin, Magierin, Soldatin, Vollstreckerin des Todes. Einerseits hatte sie das Gefühl, an dieser Entwicklung keinerlei Anteil zu haben, auch nicht an ihrem Verhältnis zu Daniel, das ihr plötzlich so schwer auf dem Gewissen lastete. Andererseits konnte sie doch nicht ganz leugnen, dass sie bei alldem selbst die Hand im Spiel gehabt hatte. Unruhig verknotete Vhalla die Finger.
Dann drang Baldairs melodische Stimme durch die dünnen Wände. »Natürlich, ich mache es heute Abend wieder gut. Mehr als das.« Und einen Augenblick später stand ein ordentlich gekleideter Prinz im Türrahmen von Aldriks Zimmer.
Er schloss die Tür hinter sich. »Nun, Vhalla?« Abwartend sah er sie an.
»Wer bin ich?«, flüsterte sie.
Der Prinz runzelte verwirrt die Stirn.
»Bin ich Vhalla? Oder Serien?« Sie schüttelte hilflos den Kopf. »Gehöre ich noch immer jemandem? Bin ich frei? Bin ich stark oder schwach oder … Ich weiß es nicht mehr.« Vhalla schaute auf ihre Hände, als sähe sie diese zum ersten Mal. »Ich kann mit demselben Herzen töten und lieben. Ich habe keine Furcht vor Dingen, vor denen ich mich fürchten sollte, und doch kann mir genau das Angst einjagen. Baldair, ich weiß einfach nicht mehr, wer ich bin.«
All das bewegte sie schon lange Zeit, ohne dass sie bewusst darüber nachgedacht hatte. Vhalla hatte sich in die Tiefe gestürzt und war als anderer Mensch wieder daraus hervorgekommen. Sie war nicht länger Vhalla Yarl, die Bibliothekselevin, und sie brauchte auch nicht länger die schützende Hülle von Serien Leral. Sie war mehr als das Werkzeug, als das der Kaiser sie betrachtete, und weniger als die Frau, die sie zu werden gehofft hatte. Dieser ungewisse Zustand drohte sie zu ersticken.
»Aber ich weiß es«, sagte Baldair sanft und ergriff ihre Hände. »Ich weiß, wer du bist.«
Sie sah zu ihm auf. Was konnte er über ihr Herz wissen, das sie selbst nicht herausfinden konnte? Er war der Bruder des Mannes, den sie liebte. Er war der Sohn des Mannes, dessen Eigentum sie war. Doch tatsächlich war er selbst für sie bisher niemand von besonderer Bedeutung gewesen. Jetzt würde sich das vielleicht ändern.
»Du bist so unnachgiebig und willensstark wie der Wind. Du tust, was du tun musst, um zu überleben. Wir alle tun das – wir tun, was nötig ist, um alles zusammenzuhalten.«
Sie schüttelte den Kopf, ihre Schuldgefühle erlaubten ihr nicht, das zu akzeptieren. »Das ist nur eine Entschuldigung.«
»Eine Entschuldigung wofür?«, fragte Baldair behutsam.
»Eine Entschuldigung für …« Vhalla schlug die Hände vors Gesicht. »Für die Dinge, die ich getan habe.«
»Was für Dinge?«
Wieder schüttelte sie abwehrend den Kopf.
»Geht es hier um Daniel?« Es war als Frage formuliert, aber sie konnte hören, dass Baldair die Antwort bereits kannte.
Vhalla nahm die Hände vom Gesicht und Baldair seufzte. »Hast du mal darüber nachgedacht, dass das vielleicht auch etwas Gutes sein könnte?«
»Untersteh dich, das zu sagen!« Feuer schoss durch ihre Adern.
»Mein Bruder ist nicht …«
»Ich liebe ihn!«, schnitt Vhalla ihm das Wort ab. »Ich liebe Aldrik.« Es laut auszusprechen, ließ ihr jüngstes Schuldgefühl wieder aufflammen.
Mit einem Blick, in dem sich Hoffnungslosigkeit spiegelte, sah Baldair sie an, seine Schultern sackten nach unten. Vhalla wandte sich ab, um sich wieder in den Griff zu bekommen. Wenn er nicht mehr als das zu sagen hatte, wollte sie diese Unterhaltung nicht länger führen.
Zwei starke Arme umfassten sie. Baldair zog sie an sich. »Schon gut, schon gut, ich weiß, dass du ihn liebst.«
»Aber warum sagst du dann …« Ihre Worte wurden von einem schweren Seufzer erstickt.
»Weil ich es hasse, tatenlos mit anzusehen, wie viel Kummer das Leben dir bescheren will«, erklärte Baldair. »Weil ich daran denke, wie wir uns zum ersten Mal begegnet sind.«
Bei der Erinnerung an die kaiserliche Bibliothek musste Vhalla lächeln.
»Meine Güte, du warst so ein kleines, nervöses Ding«, fuhr der Prinz fort. »Ich dachte, ich hätte dich allein durch meine Berührung schon halb in Verzückung oder in Qual gestürzt, und bei der Mutter: Es hat Spaß gemacht, mit dir zu spielen.«
»Ich war nie zuvor einem Prinzen begegnet.« Vhalla drückte seinen Unterarm und lachte leise. Die Berührung weckte weder Verzückung noch Qualen in ihr. Sondern spendete ihr unbeschwerten, unkomplizierten Trost.
»Und jetzt sieh dich an.« Baldair gab sie frei, ließ aber eine Hand auf ihrer Schulter liegen. »Es macht mich traurig, deinen Weltschmerz zu spüren, wo du dir doch weiterhin die Unschuld einer jungen Frau hättest bewahren sollen. Aber ich merke, dass sie unwiederbringlich verloren ist. Und es ist zwecklos, die Kräfte, die hier am Werk sind, noch aufhalten zu wollen.«
Mit seiner großen Hand umfasste Baldair ihr Gesicht. »Ich gebe zu, dass ich nicht besonders gut mit dir umgegangen bin. Aber ich wollte dir nie wehtun. Ich wollte dich nur vor alldem beschützen. Als ich dich damals zur Gala einlud, habe ich das aus purem Vergnügen getan – nur um zu sehen, wie mein Bruder reagiert. Hätte ich gewusst, dass dich das in den Krieg führen würde …«
Vhalla schloss kurz die Augen, sie hatte keine Ahnung, wie es plötzlich zu dieser Aussprache zwischen ihnen gekommen war. »Ich gebe dir keine Schuld.«
»Danke«, sagte Baldair aus tiefstem Herzen. »Also: Ich habe Aldrik versprochen, auf dich aufzupassen. Und ich werde dieses Versprechen halten, ganz egal, was mit ihm geschieht.«
Dass Baldair seinem Versprechen einen solchen Nachsatz hinzufügen musste, versetzte Vhalla einen Stich.
»Deshalb darfst du nicht aufgeben«, fuhr er fort. »Führe dein Leben: als Vhalla, als Serien, als Windläuferin oder als ein Niemand – wie auch immer du die Kraft findest, jeden Morgen aufzustehen und weiterzumachen.«
»Woher weiß ich, dass ich das Richtige tue?« Die Ungewissheit packte sie und sie hörte selbst, dass ihre Stimme, die während der vergangenen Woche immer kräftiger und zuversichtlicher geklungen hatte, plötzlich wieder brüchig war.
Baldair schenkte ihr ein herzliches Lächeln. »Das kannst du nicht wissen und wirst es auch nie. Wir alle versuchen unseren Weg zu finden, und alle sind genauso unsicher, wie du es bist. Da bist du nichts Besonderes, Windläuferin.«
Er stupste Vhalla freundschaftlich in die Seite und brachte sie damit zum Lachen. Noch immer waren ihre vielen Fragen unbeantwortet, aber wenn sie Baldair richtig verstanden hatte, konnte das auch ruhig noch eine Weile so bleiben. Sie durfte ihre Tage nicht damit verbringen, sich vor Sorge um Aldrik zu verzehren. Und genauso wenig durfte sie weitere Gefühle für Daniel entwickeln, nur weil sie sich verzweifelt nach Bestätigung und Trost sehnte.
Also behielt Vhalla ihre Tarnung als Serien bei und sorgte dafür, dass sie immer beschäftigt war. Niemand wusste, was die Zukunft für sie bereithielt, daher wäre es voreilig gewesen, diese Identität aufzugeben. Keiner stellte sie infrage – nicht einmal Erion, den Vhalla von nun an sehr viel öfter zu sehen bekam, da sie beschloss, sich weiter im Schwertkampf zu üben. Erion kämpfte ganz anders als Daniel und war erpicht darauf, all ihre bereits erworbenen Fähigkeiten zu korrigieren. Woraufhin Daniel sie anwies, ihre Kampftechniken wieder nach seinen Vorgaben zu verändern.
Vhalla war sich nicht sicher, ob sie sich selbst in Bezug auf Daniel trauen konnte, aber das hielt sie nicht davon ab, Zeit mit ihm zu verbringen. Inzwischen türmte sich nicht nur in Aldriks Zimmer ein kleiner Kleiderstapel aus Militärbeständen, sondern auch in Daniels Hütte. Eine zusätzliche Decke auf dem Boden neben Daniels Bett diente Vhalla als Schlafstätte, wenn die Nächte zu still waren und sie sich zu leer fühlte, um allein zu sein. Daniel fragte nie, was sie dazu bewog, zu ihm zu kommen. Er fragte auch nie nach ihren Albträumen, die sie stumm unter seine Bettdecke schlüpfen ließen.
Daniel war zehnmal so nobel wie der Rest der Goldenen Garde. Alle anderen ließen Bemerkungen über ihre ungewöhnliche Beziehung fallen, während er zu keinem Zeitpunkt ein Bekenntnis von ihr verlangt hatte. Und das belastete sie schon bald.
Mittlerweile aß sie regelmäßig mit Baldair zu Abend. Der Prinz nahm sich Zeit für sie, behutsam ergründete er Vhallas Verfassung – wie ein Heiler, der eine Wunde inspizierte, um zu prüfen, wie sie sich entwickelte. Während dieser Mahlzeiten, zu denen sie gewürzten Alkohol tranken oder eine Partie Carcivi spielten, öffnete Vhalla sich ihm gegenüber immer mehr. Sodass sie sich ihm anvertraute, als das Verhältnis zu Daniel noch verwirrender wurde, als es bereits war.
Der Prinz riet ihr schlicht und einfach, Daniel direkt nach der wahren Natur seiner Gefühle zu fragen. Ein einfacher und pragmatischer Vorschlag, dennoch brachte Vhalla es einen ganzen Tag lang nicht über sich, Baldairs Rat zu folgen. Doch dann trieb ein neuerlicher Albtraum – von rotäugigen, deformierten Ungeheuern, auf deren Körpern bläuliche, tückisch glitzernde Steine leuchteten – sie wieder einmal verstört und zitternd zu Daniel ins Bett und in seine Arme. Während sie darauf wartete, dass ihre ungeheure, irrationale Angst nachließ, konzentrierte sie sich auf seinen warmen Atem in ihrem Nacken.
»Daniel«, flüsterte sie ins Dunkel, hoffte gleichzeitig aber, dass er schlief.
»Ja?«
Vhalla schob ihre Beklommenheit beiseite. »Was sind wir?«
»Ich warte die ganze Zeit darauf, dass du es mir sagst«, erwiderte er nach einer längeren Pause. »Aber ich habe es nicht eilig.«
»Warum?«
Daniel lachte heiser. In letzter Zeit war ihr aufgefallen, wie rau seine Stimme oft klang – er musste hier im Lager mehr Kommandos erteilen als während des Marsches. »Warum … Ja, das ist die Frage.« Er bewegte sich hinter ihr und Vhalla spürte seinen Oberschenkel an ihrem. Er lag nur eine Handbreit von ihr entfernt, so keusch, wie es ging, um ihr dennoch Trost zu bieten. »Vielleicht habe ich einfach Angst, dass mir das Ergebnis nicht gefällt, wenn ich dich zu einer Entscheidung zwinge.«
Vhalla biss sich auf die Lippe.
»Ich begnüge mich lieber hiermit – was auch immer das ist – als mit gar nichts. Es ist schön, jemanden an meiner Seite zu haben, selbst wenn dieser Jemand im Moment ein Niemand ist.« Daniel drückte seine Stirn zwischen ihre Schulterblätter und Vhalla versteifte sich kurz bei der Berührung. »Klingt das jämmerlich?«
»Nein …« Ihre Hand tastete nach der von Daniel und sie verschränkten die Finger ineinander. »Nein. Es klingt ehrlich.«
Während der nächsten paar Tage gingen ihr Daniels Worte nicht aus dem Kopf. Brachte sie die Kraft auf, die Dinge einfach so zu akzeptieren, wie sie waren? Sie zu genießen, ohne sich darum zu sorgen, was die Zukunft bringen würde? Vhalla glaubte nicht, dass ihr das wirklich zustand.
Der Gedanke an Aldrik ließ sie nie ganz los. Er war da, wenn sie aus dem Augenwinkel Erion erblickte und seine hohen Wangenknochen und das glatte schwarze Haar sie zum Narren hielten. Er war da, wenn andere über ihn sprachen. Und er war auch jeden Abend und jeden Morgen da, wenn Vhalla nach Süden blickte und dafür betete, dass die Armee zurückkehrte.
Und dennoch traf sie die Nacht, in der der Kronprinz in ihr Leben zurückkehrte, völlig unvorbereitet.
Ohne Vorwarnung wurde der Vorhang von Daniels Baracke beiseitegezogen. Vhalla richtete sich schlaftrunken auf. Jax stand in der Tür. Über seiner Schulter brannte eine kleine Flamme und sofort war sie froh, dass sie in dieser Nacht Daniels Lager nicht mit ihm teilte.
»Bei den Göttern, Mann, was ist los mit dir?«, fluchte Daniel mit schwerer Zunge.
»Vhalla Yarl, du musst mitkommen.« In Jax’ Blick lag keinerlei Vertrautheit – nichts deutete auf die Freundschaft hin, die sich zwischen ihnen entwickelt hatte.
Ihr Herz begann heftig zu klopfen. »Was ist los?«
»Ich sagte, du sollst mitkommen, sofort .« Jax’ Bewegungen waren seltsam steif und reduziert.
»Wohin denn?«, fragte Daniel an Vhallas Stelle und setzte sich auf.
»Der Kaiser verlangt nach dir.« Jax sah nur Vhalla an. Nie zuvor hatten fünf Worte sie mit so viel Hoffnung und zugleich mit so viel Furcht erfüllt.
»Was ist denn los, Jax?«, fragte Daniel mit gesenkter Stimme. »Wir sind doch unter uns. Du musst seine Befehle deinen Freunden gegenüber doch nicht so rigoros durchsetzen.«
»Ich sagte, sofort .« Jax kam herein, packte Vhalla am Arm und zog sie mit sich.
»Das reicht jetzt, Jax!« Daniel sprang auf.
»Stell dich nicht gegen kaiserliche Befehle!«, blaffte Jax ihn an und schubste Vhalla aus der Hütte. Sie stolperte, richtete sich aber rasch wieder auf. Er musste sie nicht noch einmal anfassen, sie ging jetzt gehorsam neben ihm her.
Sie waren beide nur Schachfiguren der Krone , begriff sie. Doch ihr blieb keine Zeit, um diese Erkenntnis zu verarbeiten, denn ihr Blick fiel auf die vielen Menschen, die sich vor dem Lagerpalast versammelt hatten. Sie ballte die Hände zu Fäusten und ihr Herz schlug noch schneller. Wenn der Kaiser hier war, dann ganz bestimmt auch Aldrik.
Abrupt hielt sie inne. »Bevor wir da sind …«, wandte sich Vhalla an Jax, »… sagst du mir da bitte, ob der Kronprinz noch am Leben ist?«
Der Anführer der Schwarzen Legion schwieg, schob sie aber auch nicht vorwärts.
»Jax, sag es mir, bitte«, flehte Vhalla.
»Der Kronprinz lebt«, bestätigte Jax mit einem Nicken. Das war der einzige Hoffnungsschimmer, den er ihr bot, bevor sie weitergingen.
»Die Windläuferin!« Ein Soldat in der Menge hatte sie entdeckt. Seltsam, dass jemand sie auf den ersten Blick als Vhalla Yarl erkannt hatte. Aber diese Soldatinnen und Soldaten waren bei dem Kampf am Rand der Tiefe dabei gewesen: Sie hatte ihre Tarnung als Serien vor ihnen bereits aufgegeben.
Ehrfürchtig teilte sich die Menge für sie.
»Sie lebt«, flüsterte jemand.
»Es ist wahr: Sie ist geflogen wie ein Vogel.«
»Der Wind beschützt die Krone«, sagte eine andere Soldatin stolz zu ihrer Kameradin.
Vhalla starrte die Soldatinnen und Soldaten an, und die Erinnerung an den Sandsturm wurde in ihr wach. Sie kannte den Grund ihrer Hochachtung nicht. Ohne Zweifel waren diese Menschen Aldrik nicht besonders zugetan. Aber sie betrachteten die Frau, die ihren Prinzen gerettet hatte, wie den ersten Sonnenstrahl in der Morgendämmerung.
»Windläuferin!«, rief einer, als sie sich mit Jax den Türen des Lagerpalasts näherte. Vhalla blieb stehen und wieder ließ der Westländer es geschehen. »Wird es dir gelingen, den Prinzen aufzuwecken?«
Die Frage war wie ein Schlag ins Gesicht, dabei hatte der Fragensteller so hoffnungsvoll geklungen.
»Ich …« Vhalla schwankte und suchte nach einer Antwort.
»Der Kaiser verlangt nach der Windläuferin«, verkündete Jax und schob sie in die große Halle, sodass ihr weitere Erklärungen erspart blieben.
Der Kaiser stand allein über einen der Tische gebeugt. »Ihr könnt gehen, Jax«, sagte er, ohne sich zu ihnen umzudrehen.
Jax warf Vhalla einen zurückhaltenden Blick zu, dann verschwand er.
»Hörst du, wie sie nach dir rufen?« Der Kaiser seufzte missmutig. »Lass dir ihre Huldigung nicht zu Kopf steigen, Mädchen. Das machen sie nur, weil ich verkündet habe, dass ich derjenige war, der dich auf diese Mission durch den Norden geschickt hat.«
Endlich drehte Kaiser Solaris sich zu ihr um. Unter seinem bohrenden Blick fühlte Vhalla sich klein wie eine Maus.
»Du.« Er runzelte die Stirn. »Du, ein Niemand , hast den Kaiser dazu gezwungen, sein Volk zu belügen. Bist du darauf etwa stolz?«
»Nein.« Vhalla wandte den Blick ab, um Respekt vorzutäuschen. Auf keinen Fall wollte sie den Kaiser noch weiter reizen. Dass sie mit ihrem Handeln seinen Zorn heraufbeschworen hatte, war keine Überraschung – sie war eine Soldatin, die einen Befehl missachtet hatte. Aber sie hatte nicht bedacht, dass er es als Provokation ansehen könnte.
»Ich mag es nicht, zu etwas gezwungen zu werden, schon gar nicht von einem Niemand.« Langsam kam der Kaiser auf sie zu. »Bin ich nicht gnädig gewesen? Ich habe dich nur um eine Sache gebeten: dich darauf zu konzentrieren, mir den Sieg über den Norden zu schenken. Und im Gegenzug wärst du wieder frei gewesen.«
In einer fast väterlichen Geste legte er Vhalla die Hand auf den Kopf. Vhalla hätte sie am liebsten weggeschlagen.
»Und wie dankst du mir meine Güte?« In der Stimme des Kaisers schwang jetzt ein gefährlicher Unterton mit. Er umschloss ein Büschel ihres Haars mit der Faust. Vhalla schrie auf, als er sie daran in die Höhe zerrte und sie auf Zehenspitzen balancierte, damit er ihr nicht die halbe Kopfhaut abriss. »Sieh mich an, wenn ich mit dir rede!«
Vhalla zwang sich, ihre Augen auf den Kaiser zu richten, und blinzelte die Tränen weg, die sich vor Schmerz darin sammelten. Auf keinen Fall würde sie vor ihm weinen.
»Du dankst sie mir mit Ungehorsam. Mit Diebstahl und dem Tod von Baston – einem Pferd, das mehr wert ist als dein armseliges Leben. Du missachtest Befehle, schmiedest hinter meinem Rücken Pläne. Du hast dich selbst als Windläuferin zu erkennen gegeben. Du hast dein Leben sinnlos in Gefahr gebracht – ein Leben, das mir gehört.«
Vhalla sah ihn finster an. Der Versuch, das Leben seines Sohnes zu retten, war »sinnlos«?
Als läse er die rebellischen Gedanken in ihrer Miene, stieß der Kaiser Vhalla von sich. Sie stolperte und fiel auf die Knie. »Und wofür das alles?« Kaiser Solaris hob den Fuß und drückte ihr seinen Stiefel ins Gesicht. »Um das Leben eines Mannes zu retten, mit dem du rein gar nichts zu schaffen haben solltest. Dessen Namen auszusprechen deine Lippen kaum würdig sind, selbst wenn dein kleines Hirn sich tatsächlich an seinen korrekten Titel erinnern sollte.«
Kaiser Solaris schob den Fuß noch weiter vor, und Vhalla musste zurückweichen und sich auf den Boden pressen, wenn sie sich nicht von seinem Absatz die Nase brechen lassen wollte. Als sie der Länge nach vor ihm lag, baute er sich wieder breitbeinig vor ihr auf. Seine Ausstrahlung überwältigte sie – fast kam es Vhalla so vor, als sei sie wirklich nichts weiter als Dreck unter seinen Stiefeln.
»Ich werde dir einen Befehl erteilen, der so einfach ist, dass er selbst in deinen sturen Schädel reingehen sollte.« Kaiser Solaris sprach langsam, als wäre sie begriffsstutzig. »Noch eine Handvoll Wochen, dann hält der Frühling Einzug, und ich habe meinem Volk versprochen, dass Soricium zum Ende des Winters fällt. Bis dahin hast du Zeit, mir die Stadt zu übergeben, sonst lasse ich dich hängen und vierteilen, Windmagie hin oder her. Hast du mich verstanden?«
»Vollkommen.« Vhallas Stimme triefte vor Abscheu. Wie war es möglich, den Sohn zu lieben und den Vater mit gleicher Leidenschaft zu hassen?
»Was meine Armee betrifft, so bist du meine Heldin. Ich rate dir dringend, deine Rolle gut zu spielen.« Fast als wäre nichts geschehen, ging der Kaiser zurück zum Tisch. »Aber sei dir bewusst, dass das alles nur Schein ist. Du wirst deine Freiheit nie mehr zurückerlangen.«
Er nahm sein Wort zurück , wurde ihr klar. Es war egal, ob Vhalla ihm den Sieg über den Norden verschaffte oder nicht. Sie hatte nicht länger die Wahl zwischen Freiheit und Knechtschaft. Sie hatte nur noch die Wahl zwischen Knechtschaft und Tod.
»Und jetzt geh mir aus den Augen.«
Das musste er Vhalla nicht zweimal sagen.