FÜNF
Vhalla befolgte die Weisung des Kaisers. Als sie aus dem Lagerpalast kam, lächelte sie tapfer und ließ sich von den Soldatinnen und Soldaten mit Komplimenten und Lob überschütten. Äußerlich vermittelte Vhalla die gewünschte Botschaft, aber in ihrem Innern mischten sich Bitterkeit, Wut und das Gefühl des Betrogenseins zu galligem Gift. Die Rückkehr des Kaisers und seines Teils der Armee, der ihre wahre Identität kannte, hatte die Tarnung als Serien zerstört. Und mit ihr auch den Gedanken an Freiheit und eine hoffnungsvolle Zukunft.
»Vhalla?«
Eine leise Stimme drang durch das Chaos in ihr und auch durch den Tumult der Soldaten. Sie schien direkt in ihr Ohr zu sprechen. Wie getrieben fuhr Vhalla herum und suchte nach ihrem Besitzer.
»Vhalla!« Fitz reckte die Arme in die Luft, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen.
»Fitz!« Sie drängte sich grob an den Soldatinnen und Soldaten vorbei, um zu ihrem Freund zu gelangen, und schloss ihn ungestüm in die Arme. Der strubbelhaarige Südländer wirkte müde, schien jedoch unversehrt zu sein. »Der Mutter sei Dank, es geht dir gut!«
»Das sollte ich wohl zu dir sagen.« Fitz lachte unbeschwert, aber die Art, wie er sie umschlungen hielt, erzählte etwas anderes. »Du bist diejenige, die ganz allein den Norden durchquert hat.«
»Ach, das war doch nichts«, murmelte Vhalla.
»Ha, ›Das war doch nichts‹, sagt sie.« Fitz drückte seine Stirn kurz gegen ihre. »Ich habe mir große Sorgen gemacht.«
»Ich weiß.« Vhalla richtete sich auf.
»Wir haben uns beide Sorgen gemacht.« Das war Elecias Stimme. Stand sie schon die ganze Zeit neben Fitz?
»Du hast dir Sorgen um mich gemacht?« Vhalla lachte. »Wohl kaum.«
Hochmütig schüttelte Elecia den Kopf. »Doch nicht um dich. Sondern darum, dass du versagen könntest und was das für den Prinzen bedeuten würde.«
Vhalla lächelte schwach. Zuerst das mit Baldair, und jetzt fühlte sie auch noch Zuneigung zu Elecia; was war bloß los mit ihr?
»Entschuldigt, Leute, aber ich entführe euch jetzt meine Freundin!«, sagte Fitz laut und hakte sich bei ihr unter.
Arm in Arm und gefolgt von Elecia betraten sie den Teil des Lagers, in dem die Schwarze Legion kampierte. Vhalla war zum ersten Mal seit ihrer Ankunft hier. Als Serien hatte sie das vermieden. Und dennoch wurde sie jetzt von Leuten erkannt, die ihr vollkommen fremd waren – und die sie ziemlich sicher zuvor nie getroffen hatte. Vermutlich weil sie mit Fitz und Elecia zusammen war. Oder weil sich ihre Tat im Heer wie ein Lauffeuer verbreitet hatte. Einige waren bestürzt, andere ein wenig gekränkt, dass Vhalla sich schon so lange in der Zeltstadt aufhielt und trotzdem nicht zur Schwarzen Legion gekommen war. Bei den wenigen Heeresführern, mit denen sie an der Seite von Jax zu tun gehabt hatte, war die Verwunderung noch größer. Aber niemand nahm Vhalla das Täuschungsmanöver wirklich übel, denn es war dabei schließlich nur um ihr Wohlergehen gegangen.
»Ihr teilt euch ein Zelt?« Vhalla blinzelte überrascht, als Fitz die Segeltuchbahn am Eingang zur Seite schob.
Elecia verdrehte die Augen. »Tja, er kam nicht damit klar, allein zu sein«, sagte sie, aber ihre Worte klangen ungewohnt milde.
»Ich habe mir furchtbare Sorgen gemacht«, sagte Fitz noch einmal und ließ sich erschöpft auf dem Zeltboden nieder. »Ich dachte, ich würde dich auch noch verlieren und wäre dann ganz allein.«
Seine Worte jagten Vhalla einen Schauer über den Rücken. Rasch setzte sie sich neben ihn. »Das tut mir leid.«
»Ich fasse es noch immer nicht, dass du es geschafft hast!« Fitz schnalzte bewundernd mit der Zunge. »Du bist unglaublich, Vhalla.«
»Was ist passiert, nachdem ich in der Nacht losgeritten bin?«, fragte Vhalla vorsichtig und dachte dabei an ihre Begegnung mit dem Kaiser.
»Der Kaiser hat behauptet, er hätte dich geschickt.« So viel wusste Vhalla schon, aber in Elecias Worten lag eine Schwere, die ihr gar nicht gefiel. »Doch er wusste natürlich, dass jemand von der Schwarzen Legion deine Flucht eingefädelt hatte. Und dann gab es einen Unfall.«
»Einen Unfall?« Vhalla schaute zu Fitz, der reglos dasaß.
»Majorin Reale wurde getötet.« Elecia musste nichts weiter sagen, keiner von ihnen.
Vhalla hatte die Majorin nicht lange gekannt, aber sie hatte sie als knallharte Frau wahrgenommen, als perfekte Verkörperung einer Soldatin. Elecias Tonfall verriet ihr, dass die Majorin nicht so ruhmreich gestorben war, wie sie es verdient hätte. Noch vor Kurzem hätte Vhalla das Schuldgefühl über ihren Tod erdrückt. Doch jetzt wurden die rachelüsternen Winde, die sich in ihr regten, nur noch stärker.
»Der Kaiser …« Elecia spähte durch die offene Zeltklappe, um zu sehen, ob jemand in Hörweite war. »An deiner Stelle wäre ich sehr vorsichtig, Vhalla. Er misstraut sogar mir und hat mich von Besprechungen ausgeschlossen«, sagte sie aufgebracht. »Und ich bin immerhin mit dem Kronprinzen verwandt. In deinem Fall hat er keinerlei Grund, auch nur so zu tun, als läge ihm etwas an dir.«
Vhalla stützte sich mit den Händen ab. »Er hat mir bereits alles genommen.«
»Nein, hat er nicht.« Elecia ließ ihre Einschätzung nicht gelten. »Dem Mann gehört die ganze Welt. Es wird immer etwas geben, das er dir wegnehmen kann.«
Statt aufzubegehren, wandte Vhalla den Blick ab. Jeder Widerspruch war zwecklos, denn Elecia schien vollkommen überzeugt zu sein. »Wie geht es Aldrik?«, fragte sie stattdessen. Er war das Einzige, was den Zorn in ihrem Innern besänftigen konnte.
»Seine körperlichen Verletzungen sind gut verheilt«, berichtete Elecia. »Aber … ich habe noch immer große Befürchtungen, was seinen Geist betrifft. Er ist nach wie vor nicht bei Bewusstsein.«
»Er ist nicht aufgewacht?« Vhalla runzelte die Stirn.
Elecia schüttelte den Kopf.
»Was können wir tun?«
»Die Heiler und ich haben bereits alles versucht. Er kann in diesem Zustand weiterleben, bis sein natürliches Ende gekommen ist, aber …« Elecias Miene war so kummervoll, wie Vhalla sich fühlte.
»Es muss doch noch eine Möglichkeit geben.« Sie hatten schon so viel geschafft, hatten ihn dem Tod entrissen. Vhalla würde jetzt ganz bestimmt nicht nachlassen.
»Es ist alles getan«, sagte Elecia knapp, ihr Kummer machte sie reizbar.
»Dann gibst du ihn also auf?«, fauchte Vhalla, die ihre Frustration nun ebenfalls nicht länger unterdrückte.
»Wie kannst du es wagen?!«
»Es gibt noch eine Möglichkeit.« Fitz legte ihnen beiden je eine Hand auf die Schulter.
»Welche?«, blafften Elecia und Vhalla zugleich.
»Es gibt etwas, das noch niemand ausprobiert hat«, wiederholte Fitz.
»Ich habe alles in meiner Macht Stehende getan!« Elecia wirkte ehrlich gekränkt über Fitz’ Andeutung, dass dem vielleicht nicht so sei.
»Du schon, das weiß ich«, stimmte Fitz zu. »Aber damit sind nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft …« Er drehte sich zu Vhalla, die sofort begriff, worauf er hinauswollte.
Ihr Herz begann hoffnungsvoll zu schlagen – eine Hoffnung, die alle Schwächen seines Plans ignorierte. Die Idee war wie ein Lichtstrahl, der die Dunkelheit um Vhalla erhellte.
»Du meinst ihre Zusammenführung.« Elecia sprach aus, was Vhalla in ihren Gedanken bereits durchspielte. »Ganz bestimmt nicht. Das ist viel zu riskant.«
»Aber wir haben es schon mal getan«, erinnerte Vhalla sie.
»Es ist jedes Mal ein großes Risiko«, beharrte Elecia. »Sein Geist ist momentan nicht sehr stark. Du könntest dich in dieser Leere verlieren oder … was weiß ich. Eine Zusammenführung ist schon unter idealen Umständen gefährlich.«
Vhalla fragte sich, warum sie überhaupt noch diskutierten. In dem Moment, in dem Fitz es ins Spiel gebracht hatte, hatte sie bereits gewusst, dass es die einzig rettende Möglichkeit war.
»Was lässt dich glauben, dass es funktionieren könnte?«, wandte sie sich an den Südländer.
»Das kann nicht euer Ernst sein!« Elecia schäumte.
»Es ist nur eine Theorie.« Auf einmal klang Fitz unsicher, sein Blick wanderte von Vhalla zu Elecia. »Eine Zusammenführung ist im Grunde die Verschmelzung von zwei Wesen. Daher dachte ich, du könntest vielleicht in seinen Geist eindringen und ihn zurückbringen.«
»Ich versuche es«, entschied Vhalla, ehe Elecia noch einen weiteren Einwand vorbringen konnte.
Aber Aldriks Cousine ließ sich nicht so leicht abfertigen. Sie packte Vhalla an der Schulter. »Hörst du mir überhaupt zu?«
»Es gibt nichts mehr, was die Heiler tun können, das hast du selbst gesagt.« Vhalla würde sich von ihrem Vorhaben nicht abbringen lassen. »Und wenn wir es nicht tun, was dann? Soll er dann für immer in seinem Geist gefangen sein? Sollen wir zusehen, wie er ins Nichts abgleitet, nur am Leben erhalten von Heiltränken und deiner Magie?«
Elecia senkte den Blick. Ihre Hand glitt schlaff von Vhallas Schulter, als die sich erhob.
»Wo willst du hin?«, fragte Fitz.
»Es versuchen.« Vhalla wandte sich zum Gehen.
Elecia runzelte die Stirn. »Glaubst du wirklich, der Kaiser lässt dich auch nur in Aldriks Nähe?«
Vhalla warf ihr einen Blick zu. »Glaubst du wirklich, dass er mich aufhalten kann?« Sie hatte nie die Absicht gehabt, den Kaiser um Erlaubnis für einen Besuch bei Aldrik zu bitten.
»Aber wie willst du zu ihm gelangen?«, setzte Elecia nach.
Vhalla schüttelte den Kopf. »Mach dir darüber keine Sorgen. Und falls irgendetwas schiefgeht, vertraue ich darauf, dass du dich weiter um ihn kümmerst, Elecia.«
»Sofern ich es kann …«
Vhallas Blick fiel auf Fitz. Er war ganz offensichtlich besorgt um sie, obwohl er die Idee ja überhaupt erst ins Spiel gebracht hatte. Seufzend zog Vhalla ihn in eine feste Umarmung. »Wenn das hier vorbei ist, Fitz – wenn alles vorbei ist –, dann werden wir wieder zusammen im Turm lernen.«
Er lachte schwach. »Natürlich werden wir das, wenn dein Wagemut mich nicht vorher vor Sorge umbringt.« Er schniefte vernehmlich. »Wann ist die kleine Bibliothekselevin so unerschrocken geworden?«
»Keine Ahnung«, sagte Vhalla und küsste ihn auf die Wange. Doch sie wusste die Antwort nur allzu genau: Weder Studium noch Training hatten sie zu der Frau gemacht, die sie nun war. Es waren die Anforderungen des Lebens gewesen.
Mittlerweile kannte Vhalla die Zeltstadt ziemlich gut, deshalb blieb sie immer abseits der Hauptwege. Sie hielt den Kopf gesenkt und ging schnell genug, um den Anschein zu erwecken, ein Ziel zu haben. Aber doch nicht so schnell, dass es verdächtig wirkte. Sie umrundete den Lagerpalast in einem weiten Bogen bis zum rückwärtigen Teil. Die Zelte standen nicht sehr weit entfernt, und auch der helle Vollmond erschwerte ihr Vorhaben.
Nach kurzem Überlegen ging Vhalla zur nächsten Außenwand des Gebäudes und schnappte sich ein paar Holzbretter, die dort aufgestapelt lagen. So selbstverständlich wie möglich lehnte sie sie an die Wand neben Aldriks Fenster. Die meisten Soldatinnen und Soldaten schliefen längst, und die wenigen, die wach waren, bemerkten sie entweder nicht oder hinterfragten nicht, was die selbstbewusst agierende Frau da tat.
Zwei Bretter reichten aus, um sie von neugierigen Augen abzuschirmen. In dem zeltartigen Hohlraum kauerte sie sich eng an die Wand. Dann hielt sie den Atem an, schloss die Augen und horchte. Sobald Vhalla ihren Magiefluss geöffnet hatte, wurde sie zur Vertrauten des Windes, zur Mitwisserin seiner Geheimnisse. Feinnerviges Pulsieren, das im Wind mitschwang, in das Gebäude eindrang und wieder zu ihr zurückkehrte, verriet ihr, dass im Lagerpalast gegenwärtig drei Personen schliefen.
Durch die Ritzen zwischen den Brettern spähte sie hinüber zu den Zelten, um sich zu vergewissern, dass auch wirklich niemand ihr Tun beobachtete. Dann verließ sie ihr Versteck, zog einen der Holzläden vor dem niedrigen Fenster auf, kletterte vorsichtig hinein und schloss den Laden wieder hinter sich.
Drinnen war es dunkel, denn die Läden hielten das silbrige Licht des Mondes fast vollständig ab. Dennoch war ihr das Zimmer sehr vertraut, nach all den Tagen, die sie hier zusammengerollt im Bett verbracht hatte. Heute jedoch lag jemand anderer unter den Decken.
Fünf Schritte, und sie war bei ihm. Alle Kraft verließ sie, und sie brach an der Bettkante zusammen, berührte mit der Stirn seine Brust, um Fassung ringend. Aldriks Atem war sehr viel gleichmäßiger als beim letzten Mal. Erst als Vhalla sich sicher sein konnte, dass sie nicht geräuschvoll in Tränen ausbrechen und damit die anderen im Palast alarmieren würde, blickte sie ihm ins Gesicht
Die Erleichterung überwältigte sie. Aldrik hatte noch immer einen Verband um den Kopf, aber aus der Wunde schien kein Blut mehr auszutreten. Die übrigen Verbände, auch die an seinen Armen, waren größtenteils entfernt worden. Sein Gesicht hatte inzwischen eine fast normale Farbe, und sogar die Schwellung war zurückgegangen. Wangen und Kinn waren von Bartstoppeln überzogen. Vhalla konnte nicht anders, als sie zu berühren, als ihn zu berühren.
»Aldrik«, wimmerte sie leise. »Oh, Aldrik …« Federleicht fuhr sie ihm mit den Fingerspitzen übers Gesicht, rutschte näher an ihn heran. »Mein Liebster.«
Vhalla fühlte sich bloß und nackt, aller Unbill ausgeliefert. Bebend presste sie ihre Lippen auf seine. Er war der Anfang und das Ende ihrer Welt, er war es, der sie innerlich zusammenhielt. Er war alles, und ohne ihn war sie verloren.
Dann hob sie den Kopf und schaute ihn an. Er war alles für sie. Also musste sie das auch für ihn sein. Sie erforschte jeden Zentimeter seines Gesichts, seiner halb entblößten Brust. Für ihn musste sie stark sein. Aldrik brauchte sie auf eine Weise, wie er keinen anderen je brauchen würde.
Sie legte ihm die Finger an die Schläfen und drückte sie zart in die heiße Haut. Mit geschlossenen Augen verlangsamte sie ihren Atem. Es war wie bei der Projektion; sie verließ ihren Körper, aber nicht in die Welt da draußen, sondern in ihn hinein, in sie beide .
Ihr Atem ging in perfektem Gleichklang, ihr Herzschlag pulsierte im wissenden Rhythmus zweier Menschen, die so eng miteinander verbunden waren, dass selbst der Tod sie nicht trennen konnte. Vhalla verlor sich in dieser Sinfonie des Seins und verschmolz mit Aldrik. Sie löste sich aus ihrem Körper und betrat einen Ort, den nur sie beide kannten.
Einen Augenblick lang war alle Zielstrebigkeit verschwunden. Vhalla hatte das fehlende Gegenstück gefunden, die Leere, die sie verzehrt hatte, war gefüllt. Dieses Gefühl, vollständig und eins zu sein, überlagerte alles andere. Warum sollte sie daraus entkommen wollen? Warum sollte sie Aldrik aus diesem Ort der Wärme und Liebe hinaus in die raue Welt bringen?
Doch Vhalla gestattete sich nur kurz, in diesem Gefühl zu verweilen. Sie war aus einem bestimmten Grund hier. So gern sie vor der Welt davongelaufen und sich in ihm zurückgezogen hätte – die Welt brauchte noch immer ihren Prinzen. Sie brauchte ihren Thronfolger, den wunderbaren Mann, zu dem sie in Liebe entbrannt war.
Aldrik. Ihre Gedanken schnitten wie ein Messer durch die Welt, die nur für sie beide existierte. Du musst jetzt aufwachen.
Irgendwo am Rand ihrer Wahrnehmung fegte ein heißer Wind auf sie zu. Feuer folgte und setzte die Welt um Vhalla herum in Brand. Im Geiste wehrte Aldrik sich.
Genug jetzt! , rief sie, um sich nicht von seinem kindischen Protest vereinnahmen zu lassen. Kämpf nicht gegen mich.
Er war da. Vhallas Herz – ihrer beider Herz – begann zu rasen und ihr immaterieller Körper ergriff die Flucht. Vhalla rannte durch die Flammen, die sie nicht verbrannten. Durch die Dunkelheit, die ins Licht wirbelte.
In den Flammen sah sie die flackernden Umrisse einer Gestalt. Vhalla sah den Mann, den sie so gut kannte, aber auch den Jungen, der er früher gewesen war. Schatten von Aldriks Vergangenheit tanzten außerhalb ihrer Reichweite, zu unscharf, um sie deuten zu können. Die flackernden Gespenster versuchten, sie von ihrem Vorhaben abzubringen.
Aldrik! , rief Vhalla noch einmal. Sie verlor jedes Zeitgefühl. In der echten Welt konnten inzwischen Sekunden oder Tage vergangen sein – sie wusste es nicht. Vhalla hob die Hand und vollführte eine Geste vor ihrer Brust.
Der Wind zerschmetterte die Flammen und trieb sie davon. Vhalla drehte sich um, wiederholte die Geste und erstickte die brennenden Erinnerungen. Sie wirbelte im Kreis, verscheuchte all die Gräuel, die Aldrik in die düstersten Winkel seines Verstandes verbannt hatte. Vhalla blies alles weg, bis nur noch er allein übrig war.
Um sie herum war nichts; sie hatten keine physischen Körper, aber die Illusion von Aldrik saß zusammengekauert da, das Gesicht zwischen den Knien verborgen. Langsam ging Vhalla vorwärts, oder vielleicht zwang sie auch die Welt um sie herum, sich zu bewegen. Jedenfalls erreichte sie ihr Ziel.
Vhalla fiel hinter ihm auf die Knie, schlang die Arme um seine gebeugte Gestalt.
Aldrik , flüsterte sie seinen Namen, so zärtlich wie eine Liebkosung. Komm mit mir zurück. Bitte komm zurück.
Die Welt kräuselte sich widerstrebend.
Ich weiß. Ich weiß, da draußen ist es schrecklich. Aber du kannst nicht hierbleiben. Alle brauchen dich. Vhalla spürte, wie ihr Atem sich verlangsamte. Ich brauche dich .
Der Boden, der kein wirklicher Boden war, verschwamm. Er dampfte wie heiße Steine nach einem kurzen Sommerregen. Entweder widersetzte Aldrik sich der Zusammenführung oder sie verlor ihre magischen Kräfte, um die Verbindung weiter aufrechtzuerhalten. Was es auch war, die Zeit wurde knapp.
Bitte, wach auf. Komm mit mir zurück , drängte sie ihn. Jetzt musste sie sich bald zurückziehen. Wenn sie das nicht tat, würde sie sich wirklich in ihm verlieren. Aldrik, ich liebe dich.
Vhallas reale Augenlider öffneten sich flatternd, ihr schwirrte der Kopf. Unsicher löste sie die Hände von seinem Kopf und krallte sich im Kissen fest. Wie eine Ertrinkende schnappte sie nach Luft. Hatte sie etwa die ganze Zeit über gar nicht geatmet? Nach einer so weitreichenden Zusammenführung wieder ins reale Leben zurückzukehren, fühlte sich kalt und leer an.
»Lass mich nicht allein mit dieser Aufgabe«, murmelte sie. Aldrik lag noch immer reglos da, im Mondlicht wirkte seine Miene wie erstarrt. »Aldrik, tu mir das nicht an.«
Vhalla legte die Stirn auf seine Brust. Was war sie doch für eine Närrin gewesen, zu glauben, es würde funktionieren! Zu glauben, dass sie ihn zurückbringen könnte. Sie hatte doch schon vor langer Zeit akzeptiert, dass sie allen nur den Tod brachte.
Die Tränen strömten ihr jetzt übers Gesicht, und Vhalla unternahm nichts, um sie zurückzuhalten. Ihr Mund war verzerrt, ihr Atem kam stoßweise, weil sie aus tiefstem Herzen trauerte, dabei aber versuchte, keinen Laut von sich zu geben.
Er zuckte.
Vhalla richtete sich hastig auf. Jetzt rührte er sich nicht. Hatte ihr das nur ihre Erschöpfung vorgegaukelt? Sie umklammerte Aldriks Hand so fest, dass sie seine Finger erneut hätte brechen können.
Und dann bewegten sie sich in ihrem Griff.
»Aldrik«, flüsterte Vhalla. Begierig erforschte sie sein Gesicht, entdeckte aber keine weitere Regung. »Aldrik!« Jetzt war ihre Stimme nachdrücklicher. Die Götter würden ihr diese Gnade gewähren. Sie würden ihr Aldrik zurückgeben. »Verdammt noch mal, öffne die Augen!« Ihr Ausruf mündete fast in einen Schrei.
Sie hörte, wie die andere Tür im Gang aufging, und drehte automatisch den Kopf herum.
»Was ist?«, murmelte eine schwache Stimme vom Bett her.
Fassungslos schaute Vhalla wieder zu Aldrik, zu ihrem Prinzen . Mit seinen Bartstoppeln, den fettigen Haaren und mit Augen, die trotz seines langen Schlafs vollkommen erschöpft wirkten, sah er absolut grauenvoll aus.
Er sah perfekt aus.
Dann schwang die Tür zu Aldriks Zimmer auf, und am anderen Ende des Gangs knallte eine weitere Tür gegen die Wand. Vhalla sah hoch und blickte in Baldairs Gesicht. Er hielt eine Kerze in der Hand und war derart geschockt, dass er nicht mal merkte, wie ihm das Wachs über die Finger tropfte. Hastig löste sich Vhalla von Aldrik und stürzte zum Fenster.
»Was ist hier los?«, rief der Kaiser vom Flur aus.
Draußen kauerte Vhalla sich wieder hinter die Bretter und presste die Hand auf ihr laut klopfendes Herz, in der Hoffnung, dass es sie nicht verriet. Den Kopf an die Wand gelehnt lauschte sie dem Wind. Im Einklang mit ihren bebenden Atemzügen und stillen Tränen sang er ein wunderbares Lied der Freude.
Ihr Prinz war zurückgekehrt.
»Aldrik, du …« Es war Baldairs Stimme, die zuerst durch die dünnen Lamellen der Fensterläden drang. Vhalla stellte sich vor, dass die drei Männer in Aldriks Zimmer sich bis dahin nur wortlos angestarrt hatten.
»Es ist schön, dich wach zu sehen, Sohn«, sagte der Kaiser, der deutlich gefasster klang.
»Wo sind wir?«, fragte Aldrik schwach.
»In Soricium«, antwortete Kaiser Solaris. Sein Ton war freundlicher, als Vhalla es je bei ihm gehört hatte.
»Soricium?«, murmelte Aldrik. »Nein wir waren doch … Ich war doch gerade … Waren wir denn nicht in Estrela?«
Vhalla spähte hinauf zu den Fensterläden. Elecia hatte gesagt, sie könnte nicht beurteilen, wie es um Aldriks Verstand bestellt war. Und wenn er nun ihre gemeinsame Zeit vollkommen vergessen hatte?
»Wir sind schon lange nicht mehr in Estrela, Bruder«, sagte Baldair vorsichtig.
»Stimmt, wir waren … Wir waren …« Aldrik klang hilflos.
»Verlang dir nicht zu viel ab«, beschwichtigte ihn sein Vater. »Was in Estrela und danach passiert ist, spielt keine Rolle.«
Am liebsten hätte Vhalla ihren Protest laut herausgeschrien. In Estrela hatten sich Aldriks und ihre schwankenden Gefühle füreinander endlich gefestigt, und sie hatten eine Nacht miteinander verbracht: die schönste Nacht ihres Lebens.
»Nein« , sagte Aldrik leise. Die nächtliche Brise trug seinen Widerspruch von seinem Herzen zu ihrem. »Nein, wir waren in Estrela und dann … dann hast du mir Vhalla weggenommen.«
»Aldrik.« Die Stimme des Kaisers klang jetzt gänzlich anders.
»Und wir, die Tiefe … Ich …« Im Zimmer entstand eine gewisse Unruhe. »Wo ist sie?«, fragte Aldrik fordernd.
»Leg dich hin. Nein, Aldrik , nicht aufstehen.« Baldair klang wie ein besorgter Heiler.
»Wo ist sie? Geht es ihr gut? Baldair, du hast geschworen, sie zu beschützen!« Aldrik klang halb verrückt vor Sorge.
Vhalla kniff die Augen zusammen. Es tat ihr in der Seele weh, dass sie sich nicht bemerkbar machen konnte.
»Sagt es mir!«, brüllte Aldrik.
»Warum tust du das?« Die Stimme des Kaisers war jetzt so leise, dass Vhalla ihn kaum verstehen konnte. »Was ist das bloß für eine krankhafte Besessenheit, die dich an dieses Mädchen bindet?«
»Sie lebt?« Obwohl er gerade erst aus einem langen Koma erwacht war, entging Aldrik nichts. Wäre Vhalla einfach in der Tiefe ums Leben gekommen, hätte der Kaisers jetzt nicht so wütend geklungen.
»Sie lebt«, bestätigte sein Vater, woraufhin sich alles wieder einigermaßen zu beruhigen schien. »Vorläufig.«
»Was?«, stieß der Kronprinz geschockt hervor.
Vhalla wollte nicht, dass er vom Ultimatum des Kaisers erfuhr, schon gar nicht unter diesen Umständen. Ihre Finger zuckten. Am liebsten hätte sie Aldrik aus dem Raum und von seinem Vater weggezerrt.
»Ihr ist klar, dass sie sich ganz und gar auf die vor ihr liegende Aufgabe konzentrieren muss«, begann der Kaiser. »Und sie weiß auch, dass es gravierende Konsequenzen für sie haben wird, falls sie sich davon ablenken lassen sollte.«
»Vater, wovon redest du da?«, fragte Baldair.
»Wir hatten ein sehr produktives Gespräch, das Mädchen und ich«, drang Kaiser Solaris’ Stimme unheilvoll an ihr Ohr.
Das war natürlich auch eine Art, es auszudrücken.
»Und nun hoffe ich, dass unsere Unterhaltung genauso produktiv ausfällt, Aldrik.«
Statt einer Antwort herrschte Stille.
»Vhalla Yarl hat Zeit bis zum Frühlingsanfang, um mir den Sieg über den Norden zu bringen. Ansonsten wird sie gehängt und gevierteilt.« Es ein weiteres Mal zu hören, machte es kein bisschen leichter. »Aber ich fürchte, sie ist zu einem zu großen Risiko geworden. Deshalb: Auch wenn sie Erfolg hat, vertraue ich darauf, dass du die richtige Entscheidung triffst, sobald sie uns nicht länger von Nutzen ist.«
»Was meinst du mit ›die richtige Entscheidung‹?« Baldair war mutig genug, seinen Vater um Klarheit zu bitten.
»Sie ist eine Belastung. Sie kann jedes Gespräch belauschen, kann durch Wände gehen. Vor einem solchen Geschöpf lässt sich kein Geheimnis verbergen …«
»Sie ist eine Frau«, verbesserte Aldrik seinen Vater entschlossen.
»Ein Geschöpf «, fuhr der Kaiser ungerührt fort. »Ich hätte nie gedacht, dass ich die Kristallhöhlen überhaupt erwähnen müsste.« Eine Weile herrschte Stille, dann: »Bisher habe ich es nicht gedacht. Aber ich bin mir nicht mehr sicher, ob deine Tests aussagekräftig genug sind, Aldrik. Vielleicht kann sie doch mit Kristallen umgehen, und wenn das so ist, wird sie ein noch größeres Risiko für uns sein. Jemand könnte beschließen, sie dazu zu benutzen, die Kraft zu entfesseln, die dort schlummert. Im Krieg gibt es viele Verluste; es wäre keine große Überraschung, wenn sie dieses Schlachtfeld nicht lebend verließe.«
Vhalla kniff die Augen ganz fest zusammen, ihr war übel.
»Sie hat Aldriks Leben gerettet, Vater.« Dass Baldair sie verteidigte, war rührend, aber zwecklos.
»Das war ihre Pflicht! Das ist die Rolle einer Untertanin gegenüber ihrem Herrscher. Eine Rolle, die für mein Gefühl immer mehr zu verschwimmen scheint.« Kaiser Solaris führte seine Andeutung nicht weiter aus. »Jedenfalls erwarte ich deine Pläne, was dieses Thema betrifft, Aldrik.«
»Ich werde nichts dergleichen tun«, sagte Aldrik leise.
Vhalla blieb fast das Herz stehen.
»Wie bitte?«, fragte der Kaiser kalt.
»Sie hat zu viel für uns getan. Wir brauchen sie. Ich brauche …«
»In welcher Weise brauchst du sie?«, unterbrach Kaiser Solaris seinen Sohn brutal.
»Du weißt, in welcher Weise!« Aldrik verlor die Beherrschung. Der Feuerlord mit der Silberzunge, der furchterregende Prinz, war nur mehr ein von Verzweiflung getriebener Mann.
Wie hatte die Welt so sehr aus dem Gleichgewicht geraten können?
»Ja«, sagte der Kaiser langsam, »leider weiß ich es.«
Als Vhalla seine schweren Schritte hörte, sah sie vor sich, wie der Kaiser das Zimmer durchquerte, um seinen Sohn genauso drohend anzustarren, wie er sie angestarrt hatte. »Sie kann nicht gezähmt werden, das steht fest. Und deshalb muss sie sterben, Aldrik. Und ich nehme stark an, dass ein Tod durch deine Hand sehr viel sanfter sein wird als durch meine.«