SECHS

»Was wirst du tun?«, brach Baldair nach einer Weile das Schweigen, und Vhalla rührte sich endlich auf ihrem Platz unter dem Fenster.

»Geh, Baldair«, sagte Aldrik bitter.

»Bruder, wir können …«

»Ich sagte, du sollst gehen!«, zischte der Kronprinz, überwältigt von Kummer.

Als Vhalla den Fensterladen öffnete, drehten sich die beiden Prinzen zu ihr um. Hastig glitt sie über den Fenstersims ins Zimmer, ehe jemand von draußen ihre Silhouette im Kerzenlicht erkennen konnte. Dann zog sie den Laden, so leise es ging, hinter sich zu und richtete sich auf.

Mit großen Augen sah Aldrik sie an – voller Bewunderung, als wäre die Göttin selbst in Gestalt einer Sterblichen auf die Erde herabgestiegen. »Vhalla«, stieß er heiser hervor.

»Aldrik.«

Sie lief zu ihm und Aldrik versuchte vergeblich, sich aufzurichten. Doch Vhalla ließ sich einfach auf der Bettkante nieder und warf sich an seine Brust.

Vorsichtig legte Aldrik die Arme um ihren zitternden Körper. Leise schluchzend barg Vhalla den Kopf an seinem Hals.

»Vhalla«, flüsterte er und hielt sie ganz fest. »Meine Liebste. Du …« Ihm versagte die Stimme.

Vhalla löste sich ein wenig von ihm und blickte ihn staunend an. »Du bist da.«

»Genau wie du.« Er umfasste ihre Wange und Vhalla schmiegte sich in seine Handfläche.

Baldair räusperte sich. »Wenn sie nicht gewesen wäre, wärst du jetzt tot, Aldrik.«

»Was ist passiert?« Der Kronprinz blickte zwischen den beiden hin und her. »Erzählt mir alles.«

»Du solltest dich nicht zu sehr anstrengen.« Auf einmal bekam Vhalla Sorge, dass das Ganze zu viel für Aldrik sein könnte.

»Bitte erzählt mir alles«, wiederholte Aldrik entschlossen.

»Nachdem du in die Tiefe gestürzt warst …«, setzte Baldair gehorsam an.

Vhalla warf ihm einen angespannten Blick zu. Sie war nicht scharf darauf, zu hören, wie sie die Befehle des Kaisers missachtet hatte oder mit Aldriks Pferd durch den Norden gehetzt war. Außerdem hoffte sie inständig, dass Baldair nichts über die Verwirrung um Daniel verlauten ließ. Doch der jüngere Prinz verriet sie nicht.

Stumm nahm der Kronprinz die Worte seines Bruders in sich auf. Er schien wieder vollkommen klar zu sein. Für einen kurzen Moment ließ sich Vhalla von den wundervollen Linien und Kurven seines Gesichts ablenken – und von seinem Daumen, der über ihren Handrücken strich.

»Vhalla«, riss Aldrik sie aus ihrer Verzückung, sobald Baldair mit seinem Bericht fertig war. Er stockte, dann sagte er: »Du hast mich auch aus dem Koma aufgeweckt, nicht wahr?«

Sie sah ihm in die Augen, erforschte die Tiefen seiner Seele. Dann war es also real gewesen, was sie während der Zusammenführung erlebt hatte. Aldrik war dort gewesen – genau wie sie. Vhalla nickte.

»Danke«, flüsterte Aldrik fast ehrfurchtsvoll.

»Gern, mein Prinz.«

»Doch jetzt müssen wir überlegen, wie wir das mit meinem Vater regeln.« Aldrik schloss kurz die Augen, als hätte er Schmerzen.

Sofort krampfte sich Vhallas Magen zusammen. »Wenn der Kaiser meinen Tod will … dann gibt es kaum mehr Hoffnung, oder?«

»Doch. Wir werden diesen Krieg gewinnen, und dann wirst du frei …«

»Ich habe alles gehört.« Es war kaum zu ertragen, die Hoffnungslosigkeit in Aldriks Blick aufflackern zu sehen, als er begriff, dass sie von der Forderung seines Vaters wusste. »Ich werde lieber versagen, ehe ich dich dazu zwinge, mich zu töten.«

Aldrik schüttelte den Kopf. »Ich könnte es gar nicht. Du weißt, dass ich es nicht kann.«

»Er verabscheut, was ich für dich bin«, murmelte Vhalla resigniert. »Wenn mein Verbrechen Liebe ist, dann bin ich in der Tat schuldig.«

»Ich werde es nicht zulassen.« Aldrik wollte sich aufsetzen. Als er das Gesicht verzog, rückte Vhalla seine Kissen zurecht, um ihm mehr Halt zu geben. »Das verspreche ich dir.«

Sie starrte ihn an, dann stand sie rasch auf. »Tu das nicht. Nimm unseren Versprechen nicht die Kraft. Einige können nicht gehalten werden.«

»Doch!« Aldriks Stimme wurde lauter. Baldair legte den Finger an die Lippen und schaute nervös zur Tür. »Wenn es nötig ist, werde ich dich höchstpersönlich von hier fortschaffen und verstecken.«

Sichtlich überrascht beugte Baldair sich vor.

»Dann werden sie auch hinter dir her sein«, gab Vhalla zu bedenken. »Handle jetzt nicht vorschnell. So soll es nun einmal sein und …«

»Nein!« Zorn blitzte in Aldriks Augen auf und seine Stimme bekam einen tieferen Klang. »Wag es nicht, mir das anzutun, Vhalla Yarl.« Schneller und kraftvoller, als sie es ihm in seinem gegenwärtigen Zustand zugetraut hätte, zog Aldrik sie zurück zum Bett. »Ich habe dir gesagt, dass es nie leicht sein würde. Ich habe dich gewarnt. Ich habe dich angefleht, mein Herz zu verschonen, wenn du zu diesem Kampf nicht bereit bist.«

Schuldbewusst wandte sie den Blick ab.

»Sieh mich an«, verlangte Aldrik leise. Vhalla gehorchte. »Du bist keine, die aufgibt. Du hast die Befehle des Kaisers missachtet, du hast ganz allein den Norden durchquert, du , eine einfache Bibliothekselevin! Du bist klug und talentiert und stark und schön, und ich lasse nicht zu, dass du das jetzt vergisst. Ich lasse nicht zu, dass diese Dinge kleingeredet werden.«

Er packte Vhallas Hand, als wollte er die Reste ihrer Menschenwürde mit reiner Körperkraft zusammenhalten. Es tat Vhalla in der Seele weh.

»Ich habe es satt, zu kämpfen«, sagte sie seufzend. Die Erinnerung daran, wie der Kaiser ihr den Stiefel ins Gesicht gedrückt hatte, war noch zu frisch. Dieser Mann verstand es nur allzu gut, sie kleinzumachen. »Lieber nehme ich in Kauf, dass dein Vater mich weiterhin hasst, verbringe aber die restlichen Tage meines Lebens so, wie ich will, als dass ich ihn bis zu meinem letzten Augenblick unter Qualen bekämpfe.«

»Nein.« Aldriks Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. Ein müdes Lächeln, und doch steckte Hoffnung dahinter. »Ich schwöre vor dir und Baldair und den Göttern als meinen Zeugen, dass du an meiner Seite sein sollst. Ich werde mir etwas überlegen, ich finde einen Weg. Noch weiß ich nicht, was es sein wird, aber ich finde etwas, das meinem Vater wichtiger ist als dieser törichte Wunsch, dich zu töten. Und ich werde ihm damit drohen. Ich werde ihm – der ganzen Welt – die unglaubliche Frau präsentieren, die mein Herz gestohlen hat.«

»Aber wie lange wird das anhalten?« Vhalla fand es furchtbar, dass sie Aldrik widersprechen musste, obwohl sie sich nach genau diesen Worten so sehr gesehnt hatte. »Wie lange wird es dauern, bis du um meinetwillen wieder etwas Neues eintauschen oder gar opfern musst?«

»Das spielt keine Rolle«, sagte Aldrik bestimmt. »Ich werde bis zum Ende meiner Tage darum kämpfen, dich bei mir zu behalten.«

»Dann bist du ein Narr«, stellte Baldair klar und kam damit Vhalla zuvor. Allerdings strafte der anerkennende Blick, mit dem der jüngere Prinz die beiden Liebenden betrachtete, seine Worte Lügen. Obwohl Vhalla ihn noch immer nicht auf Anhieb durchschaute, konnte sie jetzt gerade sehr deutlich erkennen, dass er beeindruckt war.

Aldrik schmunzelte. »Wenn ich einer bin, dann ist allein meine Liebste daran schuld.«

Eine aufsteigende Röte wärmte Vhallas Wangen.

»Nun, solange du noch nicht mal das Bett verlassen kannst, wirst du wohl kaum irgendwelche selbstmörderischen Aktionen lostreten.« Baldair erhob sich. »Ich hole die Heiler.«

»Geh nur, aber warte noch ein bisschen mit den Heilern.« Aldrik richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Vhalla und strich ihr mit der Hand über den Arm.

»In einer Stunde dämmert es schon.«

»Dann hol sie in einer Stunde«, gab Aldrik zurück.

»Du brauchst medizinische Versorgung«, beharrte Baldair. »Deine Verletzungen sind zwar weitgehend verheilt, aber du brauchst Heiltränke zur Stärkung, damit du wieder richtig auf die Beine kommst.«

»Im Moment brauche ich meine Kraft nicht. Denn ich werde dieses Bett nicht verlassen«, bemerkte der Kronprinz. »Was ich jetzt gerade bei mir habe, wird sehr viel wirkungsvoller sein als alles, was die Heiler in Flaschen abfüllen können.«

Baldair schnaubte, halb amüsiert, halb resigniert, und schüttelte dann den Kopf. »Bei Sonnenaufgang bist du weg«, warnte er Vhalla noch, ehe er verschwand.

Sobald die Tür zugefallen war, umschloss Aldrik mit der Hand, die eben noch Vhallas Arm gestreichelt hatte, ihren Nacken und drückte seine Lippen auf ihre.

Er schmeckte ein wenig nach Kräutern, wahrscheinlich von den Arzneien und nährenden Tränken, die man ihm eingeflößt hatte. Seine Bartstoppeln kitzelten Vhalla. Trotzdem konnte nichts die Perfektion dieses Kusses schmälern.

»Ich liebe dich«, murmelte er, es klang wie ein Gebet.

»Und ich liebe dich«, erwiderte sie.

»Gib mich nicht auf.« Aldrik kniff die Augen zusammen. »Ich bin es nicht wert, was du für mich getan hast … Aber du, das hier , ist seit fast einem Jahrzehnt die erste Sache, derentwegen ich mich wieder wie ein Mensch fühle. Unseretwegen will ich mich wieder für etwas einsetzen. Du bist der erste Mensch, der mich wirklich glücklich macht, der mich wieder wünschen und hoffen lässt.«

»Ich habe dich nie aufgegeben«, sagte Vhalla zärtlich.

»Da bist du die Einzige.«

»Larel hat dich auch nie aufgegeben.«

»Stimmt, auch sie hat das nie getan …« Aldrik zog sanft an ihrer Schulter und Vhalla verstand. Sie schmiegte sich der Länge nach an ihn, barg ihren Kopf zwischen seinem Kinn und seiner Schulter, obwohl sie beide kaum zusammen in das schmale Bett passten. »Ich kann nicht fassen, dass du allein durch den Norden geritten bist. Bei den Göttern, Frau, hast du denn vor gar nichts Angst?«

»Ich war verrückt vor Angst«, gestand Vhalla leise. »Aber ich hatte noch mehr Angst davor, ohne dich leben zu müssen.«

Aldrik lachte, ein tiefes, kehliges Lachen. Mit den Fingerspitzen glitt er über ihren Arm und ihre Schulter. »Eine Angst, die ich gut kenne.«

Vhalla schloss die Augen. Von jenseits des Abgrunds starrte ihre Sterblichkeit zu ihr herüber. Aber sein fest um sie geschlungener Arm bewahrte sie davor, in die finstere Schlucht zu stürzen.

Sie ließ alle Zweifel fahren und hieß stattdessen die Hoffnung willkommen. Langsam stahl sich ihre Hand zu seiner Taille. Vhalla lauschte seinem Herzschlag, spürte das langsame Heben und Senken seiner Brust, in vollkommenen Gleichklang mit ihrer. Von nun an würden sie gemeinsam kämpfen.

»Bleib heute bei mir.« Aldrik drückte seine Lippen in ihr Haar.

»Ich weiß nicht, ob dein Vater …«

»Wenn die Heiler ihr Werk vollbracht haben, befehle ich, dass man dich zu mir bringen soll. Mein Vater wird das Zerwürfnis unserer Familie nicht öffentlich machen wollen, indem er mir widerspricht. Nicht, nachdem ich es für alle hörbar befohlen habe. Er wird meine Autorität vor den Untertanen, über die ich nach seinem Willen später einmal herrschen soll, nicht untergraben«, sagte Aldrik selbstsicher.

»Aber für wie lange?«, gab Vhalla zu bedenken.

»Den ganzen Tag und auch morgen wieder.« Seinen Worten wohnte eine tiefsitzende Kraft inne. In Aldriks Kopf entstand bereits ein Plan. »Ich will, dass alle Männer, Frauen, Heeresführer und Adlige sehen, dass du unter meinem Schutz stehst. Sie sollen merken, wie sehr ich deinen brillanten Verstand schätze. Und« – er hielt kurz inne, als müsse er sich selbst wappnen – »sie sollen auch mein Mitgefühl für dich erleben. Und was das Wichtigste ist: Mein Vater wird feststellen, dass es ihm durch bloße Drohungen nicht gelingt, dich mir wegzunehmen.«

»Das ist eine furchtbare Idee.« Vhalla schüttelte den Kopf und drückte sich noch enger an ihn.

»Sie ist großartig«, beharrte Aldrik. »Wirst du es tun?«

Vhallas Hand glitt über die Decke bis zu seinem Schlüsselbein. Zärtlich fuhr sie über seine Haut. »Das werde ich«, sagte sie kaum hörbar.

Aldrik hob mit dem Finger ihr Kinn an und zog ihren Kopf zu sich heran. Vhalla umfasste seine Schulter, und angesichts seiner leicht geöffneten Lippen versank die Welt in Glückseligkeit.

Sie hätte lachen und sie hätte weinen können, denn jeder Kuss untermauerte ihren Wahnsinn. Ihr Magen zog sich zusammen vor Anspannung. Mit jedem Kuss löste sie sich wieder ein bisschen, und mit jedem Atemzug kam neue Nervosität hinzu. Heute würden sie einen Trennungsstrich ziehen. Dann würden sie beide auf der einen Seite stehen. Und auf der anderen der Kaiser und ihr Tod.

Wie eh und je brach die Morgendämmerung viel zu schnell an. Nachdem sie ihr Vorhaben noch einmal bekräftigt hatten, schälte Vhalla sich aus dem Bett. Aldriks Arme gaben sie nur zögerlich frei, und auch sie hatte Schwierigkeiten, wieder hinaus in die kalte Welt zu treten.

Und so schlenderte Vhalla wenig später durchs Lager, ohne darauf zu achten, wohin ihre Füße sie trugen. Zweifel wetteiferte mit Hoffnung, und die Bandbreite ihrer Gefühle reichte von Entsetzen über Skepsis bis hin zu Euphorie. Und irgendwie steuerte sie wieder auf Fitz’ Zelt zu.

»Bei der Sonne, was ist los?«, rief Elecia, als Vhalla quasi auf ihr zusammenbrach.

Vhalla brachte kein Wort heraus – der Tribut, den die Zusammenführung von ihren magischen Kräften gefordert hatte, vermischte sich mit ihrem Schlafmangel. Sie war unglaublich erschöpft. Vhalla rollte auch noch über Fitz hinweg und kam schließlich auf dem Rücken zu liegen. Mit einem leisen Lächeln sah sie hinauf zu den Segeltuchbahnen, durch die schon das erste Licht fiel. Ganz gleich was geschah, er lebte .

»Ihr beide seid so lästig«, murmelte Fitz schlaftrunken an Vhallas rechter Seite.

»Er ist wach«, flötete sie.

»Was?« Elecia schoss hoch.

»Er ist wach«, wiederholte Vhalla und auch sie setzte sich jetzt auf. Strahlend griff sie nach Elecias Hand. »Aldrik ist wach.«

»Du …« Elecia entzog sich ihrem Griff nicht. »Du hast es tatsächlich geschafft?«

Vhalla nickte und schrie dann überrascht auf, weil Elecia sie in einer schraubstockartigen Umarmung an sich presste.

»Du treibst mich in den Wahnsinn, Vhalla Yarl.« Sie lachte.

»Du bist auch ganz schön nervig«, entgegnete Vhalla leichthin und die beiden Frauen genossen einen Moment aufrichtiger Freude.

Vhalla hatte gerade begonnen, ihr und Fitz in groben Zügen zu erzählen, was geschehen war, als Jax’ Stimme durchs Lager schallte.

»Lady Ci’Dan! Lady Yarl!«

Vhalla kam hinter Elecia aus dem Zelt hervor. »Wir sind hier.«

»Warum überrascht es mich nicht, euch hier zusammen zu sehen?«, fragte der Westländer grinsend.

»Du solltest aber überrascht sein.« Elecia stemmte die Faust in die Hüfte und schenkte ihm ein vertrautes Lächeln. »Ich kann diese Frau nicht ausstehen.«

»Dann ist das eine ganz neue Entwicklung?« Jax legte den Kopf schief.

Elecia antwortete nur mit einem »Mmh« und ging Richtung Lagerpalast, ohne dass es einer Aufforderung bedurfte. »Ich nehme an, unser Prinz hat nach mir rufen lassen?«

Jax nickte. »Ich bin überrascht, dass er dich mit hierhergebracht hat.«

Neugierig folgte Vhalla den beiden. Sie unterhielten sich wie alte Freunde.

»Wie es aussieht, braucht er mich.« Elecias hochmütiger Tonfall klang hohl in Vhallas Ohren. Es lag eine Spur Kummer darin. Elecia wünschte sich gar nicht, dass ihre Anwesenheit für Aldrik vonnöten war, begriff Vhalla. Elecia hätte es viel lieber, wenn ihre Fähigkeiten als Heilerin nicht gebraucht würden.

»Und was hat dein Großvater mit ihr und ihrem Herzoginnentitel vor?« Jax deutete mit dem Kopf in Vhallas Richtung.

»Woher soll ausgerechnet ich das wissen?« Auch Elecia blickte jetzt kurz über die Schulter zu Vhalla. »Ich habe es erst erfahren, nachdem er beschlossen hatte, das allererste Purpurband seit dem Sturz des westlichen Königsreichs zu verleihen.«

Vhalla schaute bewusst zur Seite. Sie wollte nicht mehr über das Purpurband wissen als nötig. Das zog nur unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich.

»Ich glaube nicht, dass er zuvor die Erlaubnis des Kaisers eingeholt hat«, sagte Jax mit gesenkter Stimme.

»Das musste er auch nicht.« Elecias Worte klangen angriffslustig, was Vhalla gefiel. »Er ist der Lord des Westens. Er kann so viele Purpurbänder verleihen, wie es ihm gefällt.«

Jax fing Vhallas umherschweifenden Blick ein. »Ich hab dir ja gesagt, dass einige Leute das sehr ernst nehmen.« Er grinste.

Als sie den Lagerpalast betraten, verstummten schlagartig alle Gespräche. In der linken hinteren Ecke standen dreizehn Männer und Frauen um einen hohen Tisch. Jetzt wandten sie sich von den ausgebreiteten Landkarten ab und den Neuankömmlingen zu. Am Kopf des Tisches befand sich der Kaiser, mit Baldair zu seiner Linken und einem schon viel kräftiger wirkenden Aldrik zu seiner Rechten.

Vhallas Blick entging nichts. Sie merkte, wie Aldriks Bewegungen bei ihrem Anblick leicht unsicher wurden. Und wie er am Tisch nach Halt suchte. Sie musste sich auf die Lippen beißen, um ihn nicht laut zu tadeln, weil er das Bett verlassen hatte.

»Bitte entschuldigt meine Verspätung.« Jax hielt sich nun aufrechter und schlüpfte in seine Rolle als Oberstmajor. »Der Kronprinz hatte mich geschickt, um Lady Yarl und Lady Ci’Dan zu holen.«

Aldrik begrüßte Jax mit einem Nicken, als der sich zu den anderen an den Tisch gesellte. Elecia ging sofort zum Prinzen, um seinen Zustand zu überprüfen. Nur Vhalla blieb ein paar Schritte vom Tisch entfernt stehen – wie gefangen im finsteren Blick des Kaisers.

»Vhalla, dein Platz ist neben mir«, verkündete Aldrik und alle Köpfe wandten sich zu ihm.

Vhalla holte tief Luft, presste sich die Hände auf den Bauch und ging dann mit hoch erhobenem Kopf und betont entschlossenen Schritten auf ihn zu. Obwohl sie Aldriks Pläne kannte, war ihr ziemlich zittrig zumute.

Elecia warf Vhalla einen Blick zu, während sie nacheinander Aldriks Hände umfasste. Aber sie sagte nichts, als Vhalla den Ehrenplatz zur Rechten des Prinzen einnahm.

»Aldrik«, setzte der Kaiser drohend an, »meinst du nicht, das Mädchen wäre woanders besser aufgehoben?«

»Nein«, wischte Aldrik die Worte seines Vaters beiseite, als wären sie nur ein halbherziger Einwand. »Ich halte es für klug, sie über all unsere Pläne auf dem Laufenden zu halten. Denn wenn sie bei ihrer Mission Erfolg haben soll, ist es von größter Wichtigkeit, dass Lady Yarl über unsere Streitkräfte Bescheid weiß.«

»Ach wirklich?« Kaiser Solaris’ Worte troffen geradezu vor Bosheit.

»Lady Yarl?«, fragte da Raylynn, die links neben Baldair stand. Erst jetzt fiel Vhalla auf, dass die Goldene Garde vollständig versammelt war – einschließlich eines abwartend dreinblickenden Daniel.

Die Zeit schien stillzustehen, als ihre Blicke sich trafen. Daniel hatte einen Platz ihr diagonal gegenüber, nur ein paar Armlängen entfernt, aber es fühlte sich wie das andere Ende der Welt an. Er sah kurz zu Aldrik neben ihr und dann zu Boden, doch Vhalla hatte bemerkt, wie seine haselnussbraunen Augen sich verfinsterten. Es schnürte ihr die Brust zusammen.

Der Rest der Anwesenden schien den stummen Austausch zwischen Vhalla und Daniel nicht mitbekommen zu haben. Sie konzentrierten sich auf das, was Aldrik gerade sagte: »… hat ihr das Purpurband verliehen.«

»Ein Titel ohne Bedeutung«, schnaubte der Kaiser höhnisch und schüttelte den Kopf.

»Bei allem Respekt, da muss ich widersprechen.« Erions Mundwinkel zuckten amüsiert, und er blickte gespannt über den Tisch hinweg, als wäre er Zuschauer eines spektakulären Schauspiels. »Als stolzes Mitglied einer der ältesten Familien des Westens wäre mir durchaus daran gelegen, die Windläuferin wie eine Lady zu behandeln, wenn Lord Ci’Dan das so verfügt hat.«

Statt sich über die Unterstützung zu freuen, verzog Aldrik verärgert den Mund, wie Vhalla überrascht bemerkte. Die beiden Männer sahen sich lange an. Sogar Elecia unterbrach ihre Untersuchung und musterte Erion mit offensichtlichem Misstrauen.

»Dem schließe ich mich an«, sagte ein weiterer Westländer.

»Ich heiße die Windläuferin am Hof des Westens willkommen.« Eine Frau nickte Vhalla zu.

Wütend öffnete der Kaiser den Mund, um etwas zu erwidern, doch Aldrik ließ ihm keine Gelegenheit dazu.

Mit einem »Ausgezeichnet, dann wäre das ja geklärt. Sollen wir fortfahren?« beendete er die Diskussion. Die Runde wandte sich wieder den Schriftstücken auf dem Tisch zu und begann über die Trainingspläne für die Truppen zu sprechen.

Verstohlen sah Vhalla zum Kaiser. Sein Unterkiefer war angespannt und sein Blick auf Aldrik gerichtet. Er durchschaute genau, was sie da taten, da war sich Vhalla sicher. Sie waren ja auch nicht gerade subtil vorgegangen.

»Bleibt die Frage, ob wir lieber Waffen zur Belagerung bauen oder die Soldaten weiter ausbilden sollen?« Einer der Heeresführer fuhr mit dem Finger über ein Dokument, das mit diversen Anmerkungen versehen worden war.

»Wenn sie uns die Tore zu Soriciums Festung öffnet«, gab Erion zurück und zeigte auf Vhalla, »dann scheint mir der Bau von Belagerungswaffen reine Zeitverschwendung. Wir sollten uns lieber auf einen Kampf vorbereiten.«

Vhalla beugte sich zu Aldrik und spähte auf das große Stück Pergament, das man ihm vorgelegt hatte. Dass sie ihm dabei so nah kam, schien ihn nicht zu stören, ihr Interesse fand seinen Beifall. Elecia hatte inzwischen ihre kurze Untersuchung beendet und war verschwunden.

»Falls sie uns Zutritt zu Soricium verschaffen kann«, gab der grauhaarige Major zu Vhallas Rechten zu bedenken.

»Das werde ich.« Vhalla war so versunken in die Betrachtung des Dokuments, dass ihr entging, wie sich alle Augen auf sie richteten, überrascht vom Selbstvertrauen in ihrer Stimme. »Hier.« Sie zeigte auf die rückwärtige Seite der aufgezeichneten Festung. »Warum sind dort keine Belagerungswaffen postiert?«

»Im dritten Jahr des Krieges haben sie diesen Zugang mit Schutt und Steinen blockiert, sodass sie nur einen Eingang bewachen müssen«, erklärte Aldrik.

»Dann kommen wir also von dort.« Vhalla legte die Hand auf den Tisch, beugte sich über das große Stück Pergament und glitt mit dem Zeigefinger ans andere Ende der Festung.

»Das Mädchen vermag zu schlussfolgern, dass wir durch den einzig offenen Zugang eindringen sollten? Warum überlässt du diese Sache nicht den Erwachsenen, Kind?«, höhnte ein Westländer mit Schnurrbart.

Vhalla ignorierte den Mann und deutete wieder auf das rückwärtige Tor. »Wir müssen trotzdem auch auf dieser Seite Belagerungswaffen postieren.«

»Was? Warum? Der Zugang ist doch verschlossen?«, warf Raylynn quer über den Tisch ein.

Alle schauten zu Vhalla, als wäre sie schwer von Begriff. Sie erwiderte die Blicke mit derselben Miene.

»Man nennt sie nicht grundlos Erdgebieter «, bemerkte sie dann. »Glaubt Ihr ernsthaft, etwas Schutt und ein paar Steine würden sie daran hindern, diesen Eingang nicht sofort wieder in Betrieb zu nehmen?« Vor ihrem geistigen Auge tauchte der Felsvorsprung auf, der unter Aldriks Füßen weggebrochen war.

»Genau wie in der Schlacht um Norin«, sagte sie mit einem kühnen Blick zum Kaiser. Diese Männer und Frauen würden ihr nie Respekt entgegenbringen, wenn sie ihnen nicht freiheraus zeigte, was sie wusste, was sie gelernt und studiert hatte. Sie musste ihr theoretisches Bücherwissen in der Praxis anwenden, es für ihre Zwecke nutzbar machen. »Damals habt Ihr mit nur einem Viertel Eurer Männer am Haupttor angegriffen, der Rest hat sich aufgeteilt, ist von beiden Seiten gekommen und hat die Stadt von hinten attackiert.«

Der Kaiser betrachtete sie mit kaltem Blick und Vhalla schluckte. Hoffentlich hatte sie da nichts durcheinandergebracht.

»Keiner rechnete damit, dass Ihr vom Meer her angreifen würdet. Ihr wart im Vorteil, und Ihr habt sie von allen Seiten in die Zange genommen.« Wieder schaute sie auf die Karte.

»Diesmal könnte es genauso sein, nur eben umgekehrt. Wir rechnen nicht mit einem Angriff von hinten, sichern diesen Bereich also nicht genügend. Während wir mit dem Hauptteil unserer Streitkräfte den vorderen Zugang angreifen, fliehen sie durch den hinteren Ausgang, verschließen ihn wieder, teilen sich in zwei Gruppen auf, und schon haben sie uns umzingelt. Und dann können sie uns in Ruhe abschlachten.« Vhalla holte tief Luft und hob den Blick. Alle schauten sie an. Einige der Anwesenden wirkten vollkommen verdattert, andere aufgebracht, nur Jax schien sich königlich zu amüsieren. Vhalla drehte sich zu Aldrik, der mit vor der Brust verschränkten Armen dastand und seinen Vater stolz angrinste.

»Sind Erdgebieter tatsächlich dazu fähig?«, fragte der Kaiser schließlich.

»Oh, absolut.« Jax lachte. »Stehen wir jetzt nicht ganz schön dumm da, weil wir daran nicht eher gedacht haben?«

»Wenn wir dann also unsere Truppen hierhin bewegen …«, fing jemand an.

Vhalla schwirrte derart der Kopf von ihrem plötzlichen Erfolg, dass sie das Gespräch für kurze Zeit ausblendete, während die Heeresführer darüber debattierten, wie man die vorhandenen Waffen am effektivsten reorganisieren konnte. Als die Diskussion immer hitziger wurde, hörte Vhalla wieder aufmerksam zu.

»Allein den Kampfturm für die Bogenschützen zu versetzen, würde Tage dauern«, wandte Daniel ein.

»Aber es macht mehr Sinn, die Triböcke an den Seiten zu postieren. Wenn die Nordländer durch den hinteren Eingang fliehen, dann sehr wahrscheinlich zu Fuß, und dann nutzen uns die Triböcke ohnehin nichts«, blaffte ein Major.

»Aber zumindest haben sie Räder.« Daniel kratzte sich am Nacken.

»Ich könnte alles, was bewegt werden muss, für euch versetzen«, warf Vhalla ein, womit sie wieder die ganze Aufmerksamkeit auf sich lenkte. »Zumindest könnte ich es versuchen.«

»Ihr? So wie Ihr ausseht, könnt Ihr noch nicht mal ein Breitschwert halten.« Der grauhaarige Major zu ihrer Rechten sah sie abschätzig an.

Vhalla schürzte die Lippen. »Meine magischen Fähigkeiten sind meine Muskelkraft«, sagte sie betont selbstbewusst.

»Ihr wart nicht dabei, Zerian«, mischte sich nun Baldair ein. »In der westlichen Wüste hat Vhalla ganz allein einen Winter-Sandsturm aufgehalten. Hinter ihrer zierlichen Figur verbergen sich gewaltige Kräfte.«

Vhalla blinzelte. Major Zerian war der oberste Anführer der Feldzüge des Westens. Der Mann war eine Legende.

»Und was das für eine Figur ist«, kicherte Jax leise, was ihm ein Augenrollen von Aldrik eintrug.

»Lasst es mich morgen versuchen«, wandte sich Vhalla etwas höflicher an Major Zerian. »Wenn ich es nicht schaffe, können wir die Angelegenheit noch mal überdenken.« Dass sie »wir« sagte, schien bei den Anwesenden nicht auf Widerstand zu stoßen.

»Ausgezeichnet. Dann wäre auch das geklärt.« Aldrik schob die Zeichnung ans andere Ende des Tisches. Als er sich wieder aufrichtete, trafen sich ihre Blicke, und seine Mundwinkel verzogen sich zum freimütigsten Lächeln, das man von einem Kronprinzen bei einer solchen Besprechung überhaupt erwarten konnte. Vhalla presste die Lippen aufeinander, ließ aber durchblicken, wie zufrieden sie war. Dann wandte sich Aldrik wieder den übrigen Anwesenden zu, wobei seine Miene wie immer undurchdringlich wirkte. Doch Vhalla wusste genau, wie viel Zeit die Menschen an diesem Tisch schon mit Aldrik verbracht hatten. Und deshalb würde ihnen auch die Zurschaustellung des kleinsten bisschen Zärtlichkeit nicht entgehen. »Nächstes Thema?«

Sie sprachen weiter über die Festung der Nordländer, und jeder der Anführer hatte eine bestimmte Vorstellung, was Vhalla während ihrer Projektionen auskundschaften sollte. Vhalla scheute sich nicht, zuzugeben, wie wenig sie über manche Dinge wusste, stellte aber sicher, dass sie alle Aufträge verstanden hatte, ehe sich die Diskussion dem nächsten Thema zuwandte.

Nach der zweiten längeren Debatte merkte sie, dass sie sich Notizen machen musste, und angelte sich ein unbeschriebenes Stück Pergament vom Tisch. Aldrik schob ihr sein Tintenfass und die Feder hin. Vhalla nickte zum Dank.

Während sie mit der goldenen Spitze seiner Schreibfeder über das Pergament kratzte, fragte sie sich, ob Aldriks Geste vielleicht zu dreist gewesen war. Vhalla schaute kurz zu dem Heeresführer, der gerade das Wort hatte. Das hier waren Männer und Frauen des Krieges, aber sie waren auch Adelige – sie waren gleichermaßen zur Feinsinnigkeit geboren und erzogen worden wie auch zum Umgang mit dem Schwert oder jeder anderen beliebigen Waffe.

Die Besprechung dauerte bis zum Mittag. Als auf einem der anderen Tische Essen aufgetragen wurde, folgten alle dem stummen Aufruf zu einer Pause. Aldrik setzte sich als Letzter in Bewegung. Vhalla blieb an seiner Seite und sah ihn aus dem Augenwinkel prüfend an. Er schien sich recht mühelos zu bewegen. Welche Heiltränke auch immer man ihm verabreicht haben mochte – offensichtlich wirkten sie.

Elecia musste zu einer anderen Einschätzung gekommen sein, denn sie tauchte mit einer Handvoll eigener Phiolen auf, deren Inhalt augenscheinlich frisch zusammengebraut war und recht streng roch. Sie ließ sich auf Aldriks anderer Seite nieder und beanspruchte seine Aufmerksamkeit für sich. Ohne nachzufragen, trank der Prinz die dargebotenen Arzneien, danach legte ihm Elecia ihre Hand erst auf den Nacken, dann auf die Brust und schließlich auf den Bauch, um die Wirkung der Tränke zu aktivieren. Nachdem Aldrik den letzten zu sich genommen hatte, saß er schon deutlich aufrechter.

»Du bist ziemlich klug, stimmts, Vhalla?« Erion hatte das Kinn in die Hand gestützt und beugte sich lächelnd vor.

»Das kann man selbst wohl nur schwer einschätzen«, wehrte Vhalla sein Lob mit einem Blick zum Kaiser ab.

»Viel zu bescheiden!« Jax lachte. »Du hast mich während der vergangenen Wochen immer wieder überrascht. Woher weißt du das bloß alles? Hat sich die Ausbildung im Turm so sehr verändert, seit ich weg bin?«

»Ich habe noch nicht viel Zeit im Turm verbracht.« Vhalla beobachtete, wie die anderen sich die Speisen auftaten, und imitierte dann ihre Bewegungen, um sich nicht zu blamieren.

»Ach ja?« Erstaunt hob Jax eine Augenbraue.

»Ich bin erst im vergangenen Jahr Erweckt worden«, erklärte Vhalla und fragte sich, wie viel von dieser Geschichte es bis in den Norden geschafft hatte. »Davor war ich eine Bibliothekselevin.«

»Eine Bibliothekselevin?« Eine der westländischen adeligen Frauen kniff die Augen zusammen, als versuchte sie, sich das bildlich vorzustellen.

»Man sieht es der Frau, die sie jetzt ist, nicht mehr an«, warf Craig ein. »Glaubt mir, ich war bei der Gerichtsverhandlung nach der Nacht des Feuers und des Windes dabei.«

»Genau wie ich«, murmelte Daniel und erntete angesichts seines Tonfalls einen verwirrten Blick von Craig.

»Geistert Mohned noch immer zwischen den Regalen herum?«, fragte Major Zerian von seinem Platz zur Rechten des Kaisers. Vhalla und Aldrik waren am gegenüberliegenden Ende des Tisches gelandet.

»Bei meiner Abreise ja.« Vhalla lächelte verhalten.

»Ha! Der alte Bastard will einfach nicht sterben!« Zerian schmunzelte.

»Vhalla ist auch sehr belesen.« Daniels Stimme klang nachdenklich. Die behutsame Art, wie er ihren Namen sagte, ließ sie ganz still werden. »Auf dem Marsch hat sie mir erzählt, was sie schon alles gelesen hat. Von Büchern über Kriegstaktiken bis hin zu epischen Erzählungen.«

Vhalla blickte angestrengt auf ihr Essen. Auf einmal fühlte es sich gar nicht gut an, mit Daniel im selben Raum zu sein. Und die herausfordernden Blicke, die er Aldrik zuwarf, machten es nicht besser.

»Was ist dein Lieblingsbuch?«, fragte Erion.

Vhalla wollte gerade antworten, doch Daniel kam ihr zuvor. »›Das Epos von Bemalg‹.« Er betrachtete sie gedankenvoll. »Oder hat sich das geändert?«

Vhalla schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Das ganze Epos?« Raylynn zog beeindruckt die Stirn kraus. »Du hast es wirklich komplett gelesen?«

»Natürlich.« Vhalla konnte sich nicht vorstellen, dass man ein Buch nicht zu Ende las, wenn man erst mal angefangen hatte.

»Nicht jeder ist eine solche Analphabetin wie du«, zog Craig seine Kameradin aus der Goldenen Garde auf, woraufhin die blonde Frau ihn wütend anfunkelte.

»Du hast ja wirklich einige Talente. Ich frage mich, was du noch alles zu bieten hast?« Jax wackelte vielsagend mit den Augenbrauen.

»Bei der Mutter, Jax«, stöhnte Elecia. »Kannst du dich nicht einmal wie ein Erwachsener benehmen?«

»Dann würdest du mich ja nicht mehr lieben.« Jax warf Elecia einen Luftkuss zu. Die zog angewidert die Nase kraus.

»Ich finde das Epos auf wunderschöne Art tragisch«, gestand Vhalla, um das Gespräch wieder auf Bücher zu bringen.

»Ich weiß noch, wie man mich gezwungen hat, es für meine ›kulturelle Bildung‹ zu lesen.« Baldair lachte kopfschüttelnd. Er wandte sich an seinen Bruder. »Wenn ich mich recht erinnere, mochtest du die Geschichte auch, oder?«

»Das stimmt«, bestätigte Aldrik.

Vhalla sah ihren Prinzen überrascht an. Sie hatte ihn bisher noch nie nach seinem Literaturgeschmack gefragt. Beinahe musste sie lachen, weil sie über ihre offensichtlichste Gemeinsamkeit noch nie geredet hatten.

»›Auf wunderschöne Art tragisch‹ beschreibt es perfekt, finde ich.« Aldrik lächelte sie an und Vhalla versuchte nicht rot zu werden angesichts der aufmerksamen Blicke am Tisch.

»Wie schnell werden wir zuschlagen können?« Einer der anderen Heeresführer lenkte die Unterhaltung wieder auf die militärische Ebene.

»Wegen meiner bisherigen Unpässlichkeit müssen wir die Festung erst noch erkunden«, erwiderte Aldrik. »Vhalla muss sich gut genug auskennen, um uns wie gewünscht hindurchführen zu können.«

»Reden wir von Tagen? Wochen? Monaten?«, wollte Major Zerian wissen.

Überrascht wurde Vhalla bewusst, dass er sie über den Umweg des Kronprinzen direkt ansprach. »Ich hoffe doch nicht, dass es Monate dauert«, antwortete sie. Für Monate hatte sie gar nicht die Zeit, weil das Ultimatum des Kaisers dann schon lange ausgelaufen war. »Allerdings bin ich auch nicht so kühn, zu versprechen, dass es nur Tage dauert.«

»Dann sollten wir ungefähr einen Monat bis zum Angriff einplanen.« Im Kopf schien Zerian schon alles durchzuspielen.

»Und aus diesem Grund« – Aldrik stand auf – »sollten wir unsere Zeit besser anderweitig nutzen.«

»Anderweitig?« Der Kaiser runzelte die Stirn.

»Ich hege keinerlei Zweifel, dass die Heeresführer die nötigen Verpflegungsrationen richtig berechnen und die Verteilung neuer Schwerter genau planen werden«, schmeichelte Aldrik den Anführern. »Doch es gilt, eine Festung zu erobern, und es gibt nur eine unter uns, die sie uns auf einem Silbertablett servieren kann.« Sein Blick fiel auf Vhalla.

»Aber gewiss, mein Prinz.« Sie schenkte ihm ein winziges Lächeln und erhob sich dann ebenfalls. Wie sehr sie es genoss, dass sie der formellen Anrede einen zärtlichem Beiklang geben konnte! Immerhin war er wirklich ihr Prinz.

»Bei der nächsten Besprechung werden wir über unsere Erkenntnisse berichten«, sagte Aldrik in einem Ton, der keinen Einwand duldete. Als er sich zum Gehen wandte, schaute er nicht mehr zu seinem Vater, sondern legte Vhalla für alle sichtbar die Hand auf den Rücken und geleitete sie nach draußen.