SIEBEN

Aldrik drehte sich nicht um, schaute nicht zurück und sprach auch kein Wort, bis sie bei seinem Zimmer ankamen. Nervös warf Vhalla ihm einen Blick zu. Nach Elecias Behandlung wirkten seine Schritte sicherer, aber sein Gesicht war noch immer ausgezehrter, als es ihr gefiel. Vhalla fragte sich, ob er zu Mittag ausreichend gegessen hatte. Sie fragte sich, ob ihr Auftreten ihm vielleicht neuen Stress bereitet hatte. Wenn es um sein Wohlergehen ging, machte sie sich noch immer wegen jeder Kleinigkeit Sorgen.

Zielstrebig betrat Aldrik sein Zimmer und überließ es Vhalla, die Tür hinter ihnen zu schließen. Kaum hatte sie die Klinke losgelassen, da stemmte er die Hand neben ihrem Kopf gegen die Tür, beugte sich vor und zog ihr Kinn zu sich heran.

»Du. Bist. Unglaublich«, flüsterte er, wobei er jedes seiner Worte betonte. Heiß wie Flammen drangen sie in Vhallas Ohr und fuhren ihr von dort direkt in die Magengrube. Aldrik kam noch näher, sein Unterkiefer streifte ihre Wange. »Wer hätte gedacht, dass in dem mageren Mädchen, das ich in der Bibliothek entdeckt habe, eine solche Frau steckt?«

Vhalla bekam weiche Knie und lehnte sich haltsuchend an die Tür. Seine Stimme wirkte wie ein Zauberbann, der sie hörig machte. Vhalla wusste nicht mal genau, ob sie noch atmete. Aldriks Hand ruhte auf ihrer Hüfte.

»Wie fühlt es sich an, in ihrer Gegenwart als ›Lady‹ bezeichnet zu werden?« Genießerisch ließ Aldrik seine Hand über ihre Seite gleiten und umfasste dann ihre Taille.

»D-das bedeutet nichts …« Es erstaunte Vhalla, dass sie überhaupt etwas Satzähnliches hervorbrachte.

Aldrik hatte die Lider halb gesenkt, als würde ihn allein ihre Nähe berauschen. »Das bedeutet sehr wohl etwas, liebste Vhalla«, widersprach er. »Ich will, dass du Teil der adligen Gesellschaft wirst. Zwar gibt es hier in der Zeltstadt keinen Hof und keine offiziellen Anlässe, um dich der Welt zu präsentieren, aber all diese Männer und Frauen werden eines Tages an den kaiserlichen Hof zurückkehren. Und sie werden Geschichten über dich im Gepäck haben. Ich will, dass sie dein Loblied singen.«

»Warum?«, flüsterte sie.

»Mein Vater braucht sie. Sie verpflegen die Armee, sie stellen die Männer und Frauen, die er als Soldaten einsetzt, sie sind das finanzielle Rückgrat unseres Landes. Sie sind die Galionsfiguren, auf denen der Erfolg unseres Reiches beruht.« Aldrik drückte seine Stirn gegen ihre. »Je mehr Menschen dich wahrnehmen, dich bewundern, desto mehr werden dich betrauern, falls dir etwas zustoßen sollte. Und das bedeutet, dass ein ›Unfall‹ zu viele Fragen aufwerfen würde.«

»Also ist es ein Schutz.« Warum mussten sie ausgerechnet jetzt, wo sie sich so eng aneinanderschmiegten, Strategien erörtern, wie man nach dem Krieg ihr Überleben sicherstellen konnte? Die Hitze, die von ihm ausging, brachte ihren ganzen Körper zum Erröten.

»Nur zum Teil.« Aldrik löste sich weit genug von ihr, um ihr in die Augen sehen zu können. »Ich möchte außerdem, dass sie deine Brillanz genauso genießen, wie ich es tue. Sie sollen dich wie ihresgleichen behandeln, sollen deine Macht und deine Anmut nie infrage stellen.« Sein Mund war nun ganz nah an ihrem. Vhalla schaute zu, wie seine Lippen die Worte formten. »Sie sollen meinen Vater anflehen, dich zu einer Lady an seinem Hof zu machen.«

Vhallas Herz begann zu rasen. Was sagte er da?

Aldrik betrachtete sie forschend – seine Pupillen waren so erweitert, dass sie hinter ihrer Schwärze das Feuer sehen konnte, das in ihm loderte.

Wenn er sie jetzt nicht berührte, würde sie wahrscheinlich wahnsinnig werden, aber wenn er es tat …

»Sobald du den Rang einer Lady bekleidest, Liebste, wird uns keiner mehr infrage stellen.«

Vhalla hörte die Leidenschaft in seiner Stimme. Sie ertrug die Anspannung nicht länger, fasste ihn bei den Schultern und zog ihn zu sich heran.

Mit fast schmerzhafter Intensität erwiderte Aldrik ihren Kuss. Es war, als wollte er sie verschlingen. Er saugte und knabberte an ihrer Unterlippe, dass ihr die Knie weich wurden. Haltsuchend klammerte Vhalla sich an ihn.

»Dein Platz wird an meiner Seite sein, Vhalla«, murmelte Aldrik zwischen Küssen. »Ich werde dich mit allem überhäufen, was ich dir bisher nicht geben konnte, weil die Welt es mir untersagt hat. Du wirst ein Vorbild sein in den Augen der Welt. Das leitende Gestirn des künftigen Kaisers. Eine Göttin unter den Frauen, eine Lady, ein Idol …« Er verstummte und seine neugierige Zunge erkundete wieder ihren Mund.

Vhalla atmete nur noch stoßweise, sie versank in seinen Worten, seinen Bewegungen. Verzweifelt krallte sie sich in seinen Kleidern fest. Ein frustriertes Stöhnen drang aus ihrer Kehle, das von Aldriks Lippen rasch erstickt wurde.

Eigentlich hätte es Vhalla nicht überraschen sollen, aber als er seine Hand an ihren Hinterkopf legte, war sie doch geschockt, wie sehr sie ihn wollte. Nie zuvor hatte sie ein solches Begehren verspürt.

Es war etwas völlig anderes als die verspielten, neugierigen Erfahrungen, die sie in der Vergangenheit gemacht hatte. Diese Begierde wurzelte tief in ihrem Innern. Ein Drang, der immer stärker wurde und nur durch eine Sache befriedigt werden konnte.

»Hast du auch nur die geringste Ahnung, wie schwer das für mich ist?«, fragte Aldrik und seine Stimme wurde von Atemzug zu Atemzug tiefer.

»Schwer?« Von seinen feurigen Küssen waren Vhallas Lippen schon ganz geschwollen.

»Dir nah zu sein, ist mehr als schwer.« Aldriks Hand strich über ihren Oberschenkel, dann glitt er mit seinen langen Fingern unter ihr Hemd. Vhalla schloss die Augen, das Gefühl seiner Haut auf ihrer jagte grelle Blitze durch ihren Körper. »Quälend, erstickend, überwältigend, bedrückend

»Dann lass mich deine Schmerzen lindern.« Vhalla fuhr mit den Händen über seine Brust, genoss die Wölbungen seines schlanken Körpers.

Engumschlungen taumelten sie zum Bett, und in Vhalla loderte das Verlangen wie eine Flamme, die sie nicht mehr löschen wollte. Es hatte sie schon viel zu sehr verzehrt.

Wie benommen sank sie auf die Decken und Kissen, von oben umgab sie Aldriks Wärme. Seine Lippen glitten von ihrem Mund zu ihrem Hals. Vhalla keuchte leise.

»Ich möchte jeden Zoll von dir für mich beanspruchen«, knurrte er mit rauer Stimme und sie bekam eine Gänsehaut.

Genussvoll legte Vhalla den Kopf in den Nacken und seufzte Aldriks Namen, als sein Mund ihr Schlüsselbein liebkoste.

»Vhalla.« Ein Kuss. »Liebste.« Warme Lippen nah an ihrer Haut.

Vhallas Hand glitt in sein Haar, zerzauste es schamlos. Er war stets der Inbegriff von Perfektion. Der kaiserliche Kronprinz, geschniegelt und gestriegelt, ein unantastbares Idol. Sie wollte das alles beiseitewischen. Sie wollte den Mann dahinter. Sie wollte die ungeschliffenen Seiten des Prinzen zum Vorschein bringen und sich daran reiben, bis sie perfekt zu ihren passten. Sie wollte ihn zu dem Ihren machen.

Aldriks Hände waren jetzt überall. Mit geschlossenen Augen gab sich Vhalla diesen unerhörten Empfindungen hin. Jede vorherige Erfahrung mit anderen Männern verblasste. Jede seiner Zärtlichkeiten war ein ebensolcher Genuss für sie wie für ihn, und als er schließlich die Hände wegzog, stöhnte sie überrascht und frustriert auf.

»Was ist?«, fragte sie atemlos. Hatte sie etwas falsch gemacht? Ihre Hände waren noch nicht allzu forsch gewesen, zumindest hatte sie Aldrik nirgendwo berührt, wo er sie nicht auch berührt hätte.

»Du bist göttlich«, hauchte Aldrik voller Ehrfurcht, dann blickte er beschämt beiseite. »Und ich will dich.«

Vhalla schluckte. »Dann nimm mich.«

Mit einem Kopfschütteln entzog er sich ihrem Griff. »Nein, ich … Du verdienst etwas Besseres als das.«

»Es ist nicht an dir, zu entscheiden, was ich verdiene, sondern an mir «, bemerkte Vhalla. »Ich will dich auch, Aldrik.«

Irgendwie besaß er die Unverfrorenheit, überrascht zu wirken angesichts ihres Geständnisses.

Sie hob den Kopf. »Ich brauche dich. Ich liebe dich. Du liebst mich. Und das hier ist genau das, was ich verdiene.«

Die anderen Wahrheiten sprach sie nicht aus: die Angst, dass sie bald sterben könnte und dass sie ihn beinahe verloren hatte. Jeden Tag konnte es mit diesem wunderschönen, aber zerbrechlichen Miteinander, das sie da gemeinsam schufen, vorbei sein. Denn es war beängstigend, wie viele Kräfte am Werk waren, um sie voneinander zu trennen. Was Vhallas überwältigende Begierde, sich mit ihm zu vereinen, nur noch verstärkte.

Sie fühlte dasselbe wie am Abend der Gala, obwohl das ein ganzes Leben her zu sein schien. Sie würde sich Aldrik nicht wegnehmen lassen, nicht das kleinste bisschen von ihm, ohne ihn zuvor nicht wirklich kennengelernt zu haben. Sie wollte ihn schon so lange, ohne es zu merken, und jetzt war er der Ihre. Wenn sie seinen Körper nicht als Richtschnur nutzen konnte, würde sie den Verstand verlieren.

»Ich will nicht, dass du dir wie eine billige Lagerhure vorkommst, die irgendwie in diesem Bett gelandet ist.« Aldrik strich mit dem Daumen über ihre Wange.

»Dann nimm mich als deine Lady.« Ihr leises Lachen verwandelte sich in einen Seufzer, als er weiter protestierte. »Aldrik, wenn du mich wirklich nicht willst …«

Sein leidenschaftlicher Kuss war die Antwort. Sie spürte, wie sich der letzte Rest seiner Selbstkontrolle in Luft auflöste und seine Hände wieder überallhin wanderten – um hastig und entschlossen die letzten physischen und geistigen Hindernisse zu beseitigen, die sie noch voneinander trennten.

Alles gipfelte in unglaublicher Intensität. Bestimmt konnten die Männer und Frauen in der großen Halle jedes einzelne Kleidungsstück hören, das auf dem staubigen Boden landete – in Vhallas Ohren war das Geräusch der fallenden Stoffe tosend laut. Aldrik erstickte ihr Stöhnen mit seinen Lippen und sie atmete für ihn.

Seine hastig geflüsterten Worte, mit denen er noch einmal um ihre Zustimmung bat, wurden beinahe von ihrem laut klopfenden Herzen übertönt. Am liebsten hätte Vhalla es ihm laut entgegengeschrien: Ja! Sie wollte die Götter im Himmel anrufen, damit sie ihr den Mann in ihren Armen nie mehr entreißen würden. Aber sie brachte nicht mehr als ein bereitwilliges Keuchen zustande.

Es war ein Gewirr aus Gliedmaßen, Küssen und Magie. Es war wie die Zusammenführung, vermischt mit dem Geschmack von Haut und Schweiß und Hitze. Vhalla verlor sich ganz in ihm, an diesem Ort der gipfelnden Gefühle und Magie, und gab sich einer Glückseligkeit hin, die viel zu süß war, um lange andauern zu können.

Träge und verausgabt schlang Aldrik die Arme um sie. Vhalla verflocht ihre Beine mit seinen und legte den Kopf auf seine Brust. Der Prinz drückte ihr die Lippen auf die Stirn.

»Vhalla«, flüsterte er.

»Aldrik?«, erwiderte sie sanft.

»Geht es dir gut?« Er fuhr mit den Fingern durch ihr Haar.

Sie lachte. »Wie kannst du das noch fragen? Ich bin im siebten Himmel«, flüsterte sie dann kaum hörbar, selbst für ihre Ohren. »Ich wünschte, wir könnten für immer so bleiben.«

»Macht es dir Angst, wenn ich dir sage, dass ich dasselbe fühle?«

Aldriks Stimme war leise und zärtlich, weich wie Seide. Sie bezweifelte, dass ihn schon mal jemand in diesem Tonfall hatte reden hören.

»Vhalla, bei den Göttern, Vhalla .« Jetzt klang er verängstigt, verloren und nervös.

Vhalla umschlang ihn fester, hielt die Innigkeit zwischen ihnen aufrecht.

»Ich weiß, dass ich dich nicht lieben sollte«, fuhr Aldrik fort, »aber ich tue es nun mal, und nichts wird daran mehr etwas ändern.«

Es war ein Geständnis voller Schmerz und die Muskeln in seinen Armen spannten sich an. Es war, als fände ein stiller Kampf in seinem Kopf statt, bei dem sein Körper entschieden Partei ergriff. Vhalla schmiegte sich noch enger an ihn, atmete tief ein. Das Zimmer war getränkt von seinem berauschenden Duft – Rauch, Schweiß, Feuer – in Verbindung mit dem durchdringenden Geruch nach Sex. Eine perfekte Mischung – der Gedanke entlockte Vhalla ein kleines zufriedenes Lächeln.

»Ich liebe dich auch«, sagte sie leise.

Aldriks kehliges Lachen war wie Musik. »Du gehörst mir.«

»Und du gehörst mir.« Begierig beanspruchte sie den Mann in ihren Armen für sich.

Aldrik schloss die Augen, als wappnete er sich für irgendetwas. Doch schließlich kam nichts als ein herzhaftes Gähnen aus seinem Mund.

Vhalla kicherte leise. »Ich denke, Ihr solltet jetzt schlafen, mein Prinz.«

»Bleibst du bei mir?«

»Wo sollte ich sonst sein wollen?« Vhalla kuschelte sich an ihn.

»Keine Ahnung, aber jeder andere Ort wäre der falsche.« Aldriks Worte waren kaum noch ein Murmeln.

Vhalla wollte ihm zustimmen, doch dann fielen auch ihr die Augen zu.

Als sie wieder aufwachte, reckte sie gähnend die Glieder. Warm , dachte sie und schmiegte glücklich ihr Gesicht an Aldriks Schulter. Ihr Prinz war so warm unter der Decke. Es war, als schliefe man neben einem kleinen Ofen.

»Liebste.« Seine Stimme klang schlaftrunken.

»Aldrik?« Vhalla rieb sich die Augen. Die untergehende Nachmittagssonne färbte die Lamellen der Fensterläden orange.

»Du bist so weich.« Er streichelte ihr Haar.

»Und du bist so warm«, sagte sie sanft und ließ ihre Hand über seinen Bauch gleiten. Ein tiefes Lachen rumpelte durch seinen Körper. Vhalla hielt inne. »Seid Ihr etwa kitzelig, mein Prinz?« Sie legte den Kopf in den Nacken und sah ihn grinsend an.

»Eigentlich nicht.« Aldrik gab ihr einen zarten Kuss. »Ich kann mich nur nicht erinnern, wann ich das letzte Mal tagsüber geschlafen habe.«

»Wie spät ist es?« Vhalla musste schon wieder gähnen. Am liebsten hätte sie den Rest des Tages und die ganze Nacht in seinen Armen verbracht.

»Das würde ich dir ja gern sagen, aber meine Taschenuhr ist in meiner Hose und ich bin nicht sicher, wo die im Moment gerade liegt.« Wieder lachte Aldrik. »Soll ich aufstehen und nach ihr suchen?«

»Natürlich nicht.« Vhalla schlang den Arm um seine Taille, um ihn festzuhalten.

»Bin ich etwa Euer Gefangener, Lady Yarl?«, fragte Aldrik neckend.

»Könnte man sagen!« Jetzt musste auch Vhalla lachen.

»Und ich war so naiv, zu glauben, ich könnte dich zu meiner Gefangenen machen, wenn wir erst mal in den Palast zurückgekehrt sind.« Aldrik drehte sich auf die Seite, um sie anzusehen.

»Ich denke, das würde gehen, wenn du mich an so schönen Orten wie deinem Garten festhältst«, überlegte Vhalla.

»Ein Wort von dir genügt.« Er beugte sich vor und gab ihr einen liebevollen Kuss. »Ich könnte mir keinen besseren Weg vorstellen, um meine Pflichten als Nachfolger zu ignorieren.«

»Als Nachfolger?« Vhalla schaute ihn verwirrt an. Davon hatte sie noch nichts gehört.

»Es ist noch ziemlich geheim.« Aldriks Finger fuhren sacht über ihre Schläfen. »Vater hat es mir erst kurz nach Beginn des Krieges gesagt. Er hat vor, den Weg für mich frei zu machen.«

»Tatsächlich?« Auf einmal klopfte ihr Herz wie wild. Vhalla hatte sich immer vorgestellt, dass Aldrik den Thron als älterer Mann besteigen würde. Nicht zu so einem frühen Zeitpunkt – nicht so jung, wie er jetzt und hier in ihren Armen lag.

»Er hat vor, dem Volk eine perfekte Thronfolge zu präsentieren. Dabei wird er den Kaiser des Krieges verkörpern, der alles dafür getan hat, um den Großen Kontinent unter einer Fahne zu vereinen. Ich hingegen soll der Kaiser des Friedens sein, der in seinem Interesse regiert. Denn Vater ist der Überzeugung, dass ein Mann für das Volk nicht beides sein kann.« Aldriks Hand verharrte auf ihrer Wange. »Wenn dieser Krieg vorher beendet ist und ich meine Pflichten erfüllt habe, würde er mich mit dreißig gern auf dem Thron sehen.«

»Mit dreißig?« Sie überlegte. »Also in sechs Jahren?«

»In fünf«, berichtigte Aldrik sie.

Als Vhalla ihn überrascht ansah, verzog sich sein Mund zu einem Lächeln. »Nun, vielleicht sind es doch noch sechs. Ich habe länger nicht mehr auf den Kalender geschaut.«

»Dann hast du bald … Geburtstag?« Sie blinzelte.

»Kurz nach Jahresanfang. Ich fürchte, du bist mit einem alten Mann zusammen.«

»Davon wusste ich ja gar nichts!«, rief Vhalla aufgeregt. »Und ich habe auch gar nichts vorberei…«

Mit einem festen Kuss brachte Aldrik sie zum Schweigen. »Du hast mir mein Leben geschenkt, deine Liebe und deinen Körper«, flüsterte er nah an ihren Lippen, ehe er sich wieder von ihr löste. »Wenn ich noch mehr von dir fordern würde, wäre das extrem egoistisch.«

»Aber …«

»Kein Aber.« Aldrik schüttelte entschieden den Kopf und küsste sie noch einmal.

»Aber …« Vhalla musste ein Grinsen unterdrücken, als sein Mund ihren Widerspruch erneut mit einem Kuss erstickte, schneller diesmal. »Aber …«, flüsterte sie danach atemlos, und Aldrik schmunzelte, weil er begriff, was für ein Spiel sie da trieb.

Dann rollte er sich auf den Rücken und zog Vhalla halb auf sich. Sie stützte sich mit einer Hand auf seinem Brustkorb ab, während er mit den Fingern träge durch ihr Haar fuhr. Das Gefühl seiner warmen Haut war immer noch außergewöhnlich. Es rief ein wohliges Kribbeln in Vhallas Körper hervor.

»Wirst du wirklich Kaiser sein?«

»Ist das nicht Sinn und Zweck eines Kronprinzen ?« Aldrik zeigte sein unverkennbares spöttisches Lächeln.

»Aber so bald schon …« Vhalla biss sich auf die Lippe.

»Dann bist du also nicht froh darüber?« Er musterte sie nachdenklich. Aldrik las in ihr wie in einem offenen Buch.

»Doch, bin ich.« Vhalla spielte mit einer Haarsträhne, die ihm über die Schulter fiel. Er hatte seine Haare gewaschen, bevor er zu dem vormittäglichen Treffen gegangen war. »Es ist nur so … bald

Aldrik zog eine Augenbraue hoch. »Was ist falsch an bald

»Nichts«, murmelte sie.

»Du glaubst doch nicht, dass ich dir das abkaufe, oder?« Sein Griff wurde fester und er zwang sie dazu, ihn anzusehen.

»Ich …« Vhalla hielt inne. »Ich versuche gerade, mich mehr auf das Jetzt als auf das Später zu konzentrieren.«

»Vhalla.« In Aldriks Stimme schwang ernste Strenge mit. »Denkst du etwa, ich hätte dich heute mit bedeutungslosen süßen Worten in mein Bett gelockt?« Er betrachtete sie forschend. »Das mit dir ist keine flüchtige Laune. Es sei denn … Du möchtest, dass es das ist?«

Vhalla schüttelte hastig den Kopf.

»Gut. Du bist meine Auserwählte und ich werde dafür sorgen, dass die Welt das auch erfährt. Ich werde dafür sorgen, dass du an meiner Seite bist, das verspreche ich.«

Staunend blickte Vhalla ihn an. Die Dinge zwischen ihnen hatten sich geändert. Und Aldrik wusste das auch. Das merkte sie am Flackern in seinen Augen. Er verstand nur zu gut, was Vhalla dazu bewogen hatte, alle Grenzen zu überschreiten und das Bett mit ihm zu teilen. Nämlich ihre tiefe Liebe zu ihm und die furchtbare Sorge, dass jeder Augenblick ihr letzter sein könnte. Sie wusste, dass er es verstand, denn sie sah, wie Aldriks Blick von ähnlichen Empfindungen verdüstert wurde.

Vhalla beugte sich vor und drückte ihre Lippen auf seine. Er schuldete ihr gar nichts. Die Wonne, ihn zu kennen und ihn zu lieben, reichte vollkommen.

Mit einem leisen, genussvollen Stöhnen sah Aldrik ihr nach dem Kuss in die Augen. Er wollte etwas sagen, als ein Klopfen an der Tür ertönte.

Vhalla wurde stocksteif vor lauter Panik, doch Aldrik schüttelte nur den Kopf und bat sie stumm, darauf zu vertrauen, dass er die Sache regeln würde. Es klopfte noch einmal.

»Bruder?« Es war Baldairs Stimme, und sie atmeten beide erleichtert auf. »Bruder, die Besprechung wird für das Abendessen unterbrochen. Würdest du uns Gesellschaft leisten? Ist Vhalla gerade in der Projektion?«

Aldrik rang sichtlich mit der Entscheidung, doch am Ende löste er sich von ihr und stieg aus dem Bett. Vhalla zog die Decke bis zur Nasenspitze hoch und sah zu, wie er in seine Hose schlüpfte und sich in einen halbwegs annehmbaren Zustand brachte. Sein Haar jedoch war vollkommen zerstrubbelt und seine Schultern … Vhallas Augen weiteten sich, doch bevor sie ihn warnen konnte, hatte Aldrik die Tür bereits einen Spaltbreit geöffnet.

»Ist Vater noch dabei?«, hörte Vhalla ihn fragen. Offenbar kalkulierte Aldrik mit ein, dass sein Aufzug für sich sprach.

Auf dem Flur herrschte lange Stille. Dann flüsterte ein deutlich geschockter Baldair: »Oh, bei der Mutter!« Und nach einer erneuten Pause: »Bei den Göttern, Aldrik! Wirklich? Hier?«

»Ist Vater immer noch dabei?«, wiederholte Aldrik seine Frage. Von der Seite sah Vhalla sein vertrautes arrogantes Grinsen.

Auch sie musste unwillkürlich lächeln, sie fühlte sich wild und jung.

»Ich kann ihre Beinlinge auf dem Boden liegen sehen!« Baldairs Hand zeigte durch die Tür auf das Fußende des Bettes. Vhalla setzte sich auf, die Decke weiterhin an die Brust gedrückt. Ihre Beinlinge waren tatsächlich dort gelandet. »Und du hast da – bei den Göttern, Vhalla, ich hatte ja keine Ahnung, dass du so stürmisch bist!«

Vhalla gelang es kaum, ein Kichern zu unterdrücken. Sie schaute kurz zu Aldrik und den roten Kratzspuren, die sie auf seinen Schultern hinterlassen hatte.

Der Kronprinz grinste so stolz, als wären es Ehrenabzeichen. Dann verschränkte er die Arme vor der Brust und fragte zum dritten Mal: »Vater?«

»Ja! Vater ist dabei. Brauchst du etwa noch länger deine Ruhe ?« Baldair schnappte hörbar nach Luft.

»Kann schon sein«, sinnierte Aldrik und Vhalla fragte sich, ob er seinen Bruder nur aufzog. Oder ob er es ernst meinte. Allein bei der Vorstellung färbten sich ihre Wangen knallrot.

»Ich erkenne dich nicht wieder, Bruder«, stieß Baldair hervor.

»Bedank dich bei der Frau in meinem Bett«, sagte Aldrik achselzuckend.

»Was bleibt mir auch anderes übrig!?«, sagte Baldair entnervt.

Schmunzelnd fuhr sich Aldrik durchs Haar und Vhalla genoss, wie sich die Muskeln unter seiner Haut bewegten, genoss den Anblick seiner bloßen Flanke und wie sein Haar fast die Form behielt. Sie wollte ihn schon wieder.

Doch sie unterdrückte ihr Verlangen. Ihre Wünsche zählten hier nicht. Sie und Aldrik spielten ein gefährliches Spiel, und für diesen Tag hatten sie sich schon zu viele Freiheiten herausgenommen.

»Du solltest etwas essen, Aldrik«, sagte sie also und sah die Enttäuschung in seiner Miene. »Du hast fast zwei Wochen lang geschlafen. Du musst weiter zu Kräften kommen.«

Fast trotzig fragte er: »Kommst du heute Abend zu mir?«

»Ich glaube nicht, dass das …« Vhalla versagte die Stimme, als sie das brennende Begehren in Aldriks Blick sah, und sie nickte nur. »Wenn alle schlafen.«

»Dann sind wir gleich da«, sagte Aldrik an Baldair gewandt, schloss die Tür und kehrte zum Bett zurück. »Ich will nicht, dass du gehst.«

»Das will ich auch nicht.« Beim Anblick seines Schmollmunds musste Vhalla unwillkürlich lachen. »Aber wir haben keine Wahl, mein Prinz.« Sie strich über seinen Arm.

»Wir werden schon bald wieder vereint sein.« Aldrik hob ihre Finger an die Lippen, als wollte er sie beide beruhigen.

Langsam zogen sie sich an, immer wieder unterbrochen von zärtlichen Küssen. Aber auch die konnten das Unvermeidliche nicht endlos hinauszögern, und wenig später ging Vhalla hinter Aldrik durch den Gang. Vor der Tür zur Halle blieb er stehen. Das fröhliche Gemurmel der Männer und Frauen, die sich dem abendlichen Gelage hingaben, war fade verglichen mit dem wunderschönen Lied aus unterdrücktem Seufzen und gedämpftem Raunen, das Aldrik und sie den ganzen Nachmittag lang gesungen hatten.

»Ich liebe dich«, sagte er leise und schaute auf sie herab.

»Und ich liebe dich, Aldrik«, entgegnete Vhalla. Das nervöse Flackern in seinen Augen gefiel ihr nicht.

Sobald sie die von schwebenden Flammen erleuchtete Halle betraten, zogen sie alle Blicke auf sich. Vhalla wünschte sich inniglich, dass ihr Gesicht nicht von dieser verräterischen Röte überzogen wäre. Sie senkte den Kopf, damit es niemandem auffiel.

»Wie freundlich von euch, uns Gesellschaft zu leisten«, sagte der Kaiser schließlich.

»Ich hoffe, dass sich unseretwegen nichts verzögert hat.« Aldriks affektierter Tonfall machte deutlich, dass es ihn nicht kümmerte, falls dem so war.

»Ich bin sehr erpicht auf einen Bericht über eure jüngsten Erkenntnisse.« Der bohrende Blick des Kaisers ließ sie erstarren.

»Nun …«, fing Aldrik an.

»Von ihr«, unterbrach ihn sein Vater.

Erschrocken hob Vhalla den Kopf und merkte, dass sie nun allein im Zentrum der Aufmerksamkeit stand. Hatte sie ihre Haare glatt gestrichen oder waren sie noch immer zerzaust von Aldriks Zärtlichkeiten? Hatte sie vielleicht irgendwo einen sichtbaren Knutschfleck von seiner unbändigen Lust, ihre Haut zu schmecken? Roch sie gar nach ihm?

»Eure Majestät, das ist alles sehr kompliziert …«, stammelte Vhalla, um etwas, irgendetwas, zu sagen.

»Ist es das?« Kaiser Solaris zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Hast du die Festung von Soricium denn nicht mit eigenen Augen erkundet?«

»Doch, habe ich«, log sie.

»Dann berichte mir, was du gesehen hast – ich wüsste nur allzu gern, was sich hinter diesen Mauern verbirgt.« Wie ein Raubtier bleckte er höhnisch die Zähne. Vhalla wurde einem Test unterzogen, und sie war im Begriff zu versagen.

»Ich sah …« Ihr Blick huschte hinüber zu Aldrik, dessen Miene verzweifelt wirkte, weil er Vhalla nicht helfen konnte. Und auch ihr Verstand ließ sie im Stich, denn vor ihrem inneren Augen tauchten ausschließlich Bilder von Aldriks nacktem Körper auf. »Ich sah …«

Der Kronprinz öffnete den Mund. Offenbar suchte er fieberhaft nach einer Ausrede, die sie beide entlasten würde.

»Bei der Mutter, Jax!« Ganz plötzlich sprang Daniel auf, weil neben ihm ein Krug zu Bruch gegangen war.

»Tut mir leid, tut mir leid!« Auch Jax erhob sich von seinem Platz und tupfte eifrig an dem feuchten Fleck in Daniels Schritt herum.

»Jax!« Daniel machte einen Satz rückwärts. »Das ist wirklich nicht nötig. Nötig ist eine neue Hose.«

»Kann ich dir wenigstens beim Umziehen helfen?« Jax richtete sich auf und legte den Kopf schief.

»Bei den Göttern, nein!«, knurrte Daniel.

»Schon gut.« Jax ließ sich zurück auf seinen Platz fallen und hob geschlagen die Arme. »Aber wenn du gehst, nimm bitte Lady Yarl mit. Sie sieht aus, als hätte sie seit Tagen nicht geschlafen.«

Vhalla blinzelte bei der Nennung ihres Namens. Langsam richtete sie den Blick auf Daniel, dessen Gesichtsausdruck eisig und verschlossen war. Ihr Herz begann zu pochen, bei jedem Schlag raunte es ihr zu: Er weiß es .

»Gern.« Schon das eine Wort von ihm reichte, um in Vhalla eine Lawine aus unerklärlichen Schuldgefühlen loszutreten. Sie schaute zu Aldrik.

Der hatte die Gelegenheit genutzt, um ganz beiläufig zum Tisch zu gehen. Er setzte sich neben Elecia, die Vhalla einen kühlen, warnenden Blick zuwarf.

Der Kaiser hob erneut an: »Vhalla Yarl, du hast noch immer nicht …«

»Lass sie gehen, Vater«, unterbrach Aldrik ihn mit einem harten Unterton. »Vhalla ist sehr erschöpft von der Projektion und kann nicht mehr klar denken. Sie braucht Ruhe.«

Vhalla schaute zwischen ihrem Herrscher und dem Prinzen hin und her. Daniel war schon fast bei der Tür, gleich hatte sie die Gelegenheit, von hier zu verschwinden, verpasst. Mit einer hastigen, kleinen Verbeugung huschte sie an seiner Seite nach draußen.

Obwohl es erst einen Tag her war, seit sie Daniel zuletzt gesehen hatte, schien ein ganzes Jahrzehnt vergangen zu sein. Unglaublich, was sich innerhalb von wenigen Stunden verändern konnte.

»Danke«, flüsterte Vhalla in dem Versuch, das Schweigen zwischen ihn zu brechen.

»Bedank dich bei Jax«, murmelte Daniel.

»Aber du hast mitgespielt«, bemerkte Vhalla.

»Meine Hose ist voller Bier, ich hätte mich auch ohne dich umgezogen.« Daniel schaute stur geradeaus.

Vhalla wusste nicht, warum sie ihm noch länger folgte, sie tat es fast aus einem Instinkt heraus. Auch ihre Frage, als sie seine Hütte betraten, war instinktiv. »Daniel, was ist denn los?« Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, hasste sie sich dafür, denn jetzt sah er sie mit gequältem Blick an.

»Wirklich? Musst du das tatsächlich noch fragen?« Der schneidende Ton, der in Daniels Worten mitschwang, kappte jede Verbindung zu den Nächten, in denen er ihr Trost gespendet hatte. »Du brauchst dich nicht dazu herabzulassen, dir Gedanken über Menschen wie mich zu machen.«

»Was?« Vhalla zuckte betroffen zusammen. Er musste es doch gewusst haben. Hatte er etwa die ganze Zeit nicht gewusst, wie es zwischen ihnen stand?

»Mir ist klar, dass du sehr damit beschäftigt bist, die Forderungen der kaiserlichen Familie zu erfüllen.«

Die Aussage an sich war ja harmlos, aber die Art , wie Daniel es sagte …

»Lass das«, fauchte Vhalla. Seinetwegen würde sie sich nicht schuldig fühlen, was Aldrik betraf. Nicht für die Wonnen, die sie miteinander geteilt hatten. »Du wusstest genau, wie die Dinge zwischen uns lagen.« Vhalla machte sich nicht die Mühe, klarzustellen, wen sie mit uns meinte.

»Du hast mich missverstanden«, murmelte Daniel.

»Nein, ich habe dich ganz genau verstanden.« Vhalla klaubte ihren bescheidenen Kleiderstapel und das Kettenhemd aus der Ecke, die sie für sich beansprucht hatte. »Ich verstehe, dass du hinter harmlosem Trost mehr vermutet hast.«

»Ach, ich war nur zum Trösten da? Nun, wenn das nichts ist, womit ich angeben kann! Dass ich der Tröster der ersten Frau gewesen bin, die der Feuer…«

»Wag es bloß nicht.« Vhalla durchbohrte ihn mit Blicken.

Daniel blinzelte, als käme er plötzlich wieder zu sich. Als hätten Logik und Vernunft wieder die Kontrolle übernommen und die maßlose Eifersucht beiseitegeschoben. Er kam auf sie zu und wollte sie berühren.

Hastig wandte Vhalla sich ab, schlüpfte hinaus in die Nacht. Von allen Menschen war der fürsorgliche Daniel der Letzte gewesen, von dem sie eine solche Verurteilung erwartet hätte. Und das tat weh. Frustriert presste Vhalla die Lippen aufeinander. Sie beschleunigte ihre Schritte.

»Vhalla, warte!«, rief Daniel ihr nach. »Es tut mir leid, ich möchte nicht, dass es so zwischen uns ist. Ich …« Offenbar blieben ihm die Worte fast im Halse stecken, weil Vhalla nicht reagierte. »Ich hab es nicht so gemeint, Vhalla!«

Sie schaute nicht zurück. Sie wollte nicht, dass er merkte, wie durcheinander sie war.