NEUN
Bis auf einen Mann war die Halle im Lagerpalast verwaist. Aldrik, der unruhig auf und ab gelaufen war, als sie hereinkam, lächelte bei ihrem Anblick erleichtert. Ehe Vhalla etwas sagen konnte, hatte er sie schon fest an seine Brust gedrückt.
Erschrocken wollte sie sich ihm entziehen, aus Sorge, sein Vater könnte sie beide sehen.
»Es ist noch niemand wach«, flüsterte Aldrik beschwichtigend in ihr Haar.
Das entspannte Vhalla ein wenig. In Aldriks Arme geschmiegt sah sie, wie Jax, der inzwischen zusammen mit Elecia eingetreten war, sie und Aldrik beobachtete. Doch im Gegensatz zu anderen, die ihr Verhältnis entdeckt hatten, wirkte er nicht geschockt. Stattdessen zeichnete sich in seinem Gesicht eine Art trauriges Verstehen ab. Was Vhalla sehr viel mehr beunruhigte.
Aldrik löste sich, ließ aber die Hände auf ihren Schultern liegen. »Was ist passiert?«
»Ich wurde zur Patrouille verdonnert«, erklärte Vhalla.
Aldrik runzelte die Stirn. »Ich hätte gedacht, es ist vollkommen klar, dass du zu keinerlei Patrouillengang eingeteilt wirst. Das ist viel zu gefährlich für dich.«
»Wohl kaum«, protestierte Vhalla. Der Gedanke war absurd.
»Vhalla, ich will nicht, dass dir irgendetwas geschieht.« Aldriks Mundwinkel verzogen sich vor Sorge.
»Ich habe die Nacht des Feuers und des Windes überlebt, einen Attentatsversuch, einen Sturz in die Tiefe, einen Ritt durch den Norden.« Sie trat einen Schritt zurück und zog Aldriks Hände von ihren Schultern. »Ich habe mehr Menschen getötet, als ich Finger an den Händen habe. Ich bin nicht mehr das Mädchen, dem du in der Bibliothek begegnet bist. Ich kann mich selbst schützen.«
Ungläubig sah Aldrik sie an, doch aus dem Glimmen in seinen Augen wurde bewunderndes Funkeln. Er musterte sie so intensiv, dass Vhalla zu glühen begann. Lächelnd drückte sie seine Hände.
»Also, dann hätten wir das ja geklärt.« Elecia räusperte sich. Leicht missbilligend starrte sie auf ihre miteinander verschränkten Hände. »Nimm Platz, Cousin, damit ich dich kurz untersuchen kann.«
»Mir geht es vollkommen …«
»Ich bin aber noch nicht zufrieden.« Elecia verdrehte die Augen. »Also setz dich jetzt hin. Jax, holst du uns was zu essen?«
Mit einem Kopfnicken verschwand der Oberstmajor. Auch Aldrik gehorchte der Heilerin und ließ sich auf eine der Bänke fallen.
Während Elecia ihn untersuchte, bemerkte Aldrik Vhallas Umhang. »Was trägst du da eigentlich?«
Vhalla zog den Stoff über ihren Schultern zurecht. Sie erklärte, was am Abend und in der Nacht geschehen war, und zeigte ihm dann die Schnitte im Umhang. Aldriks Blick verfinsterte sich. Sofort nahm er wieder seine grimmige Beschützerhaltung ein.
»Major Schnurr«, knurrte er. »Du solltest dich von ihm fernhalten.«
Vhalla wollte protestieren, aber Elecia war schneller. »Er hat recht«, bekräftigte die Heilerin.
Das brachte Vhalla zum Schweigen.
»Der Major zählt zum alten Westen«, erklärte Elecia.
»Aber ich bin doch jetzt eine Lady des Westens«, gab Vhalla zu bedenken.
Elecia schnaubte. »Dann schau dich mal an, Lady Yarl.« Ein verschmitztes kleines Lächeln verriet Vhalla, dass die Heilerin sie nur aufzog.
»Schnurr gehört zur falschen Sorte von Westländern«, meldete sich Aldrik zu Wort. »Er hängt noch dem alten Westen an, Vhalla. Anders als mein Onkel.« Der Prinz betrachtete sie nachdenklich. »Schnurr ist einer von denen, die noch immer die Fahne des toten Königs Jadar hochhalten. Die wie früher die Feindseligkeiten gegenüber dem Süden schüren, die Monarchie im Westen wieder einsetzen und Windläufer versklaven wollen, um sie für ihre schändlichen Zwecke zu missbrauchen …«
Auf einmal fühlte sich der Umhang auf Vhallas Schultern schwer an. Die Zeit der Flammen, der Genozid an den Windläufern, lag fast einhundertfünfzig Jahre zurück. Dass diese Geisteshaltung bei einigen Menschen ungebrochen vorherrschte, war unvorstellbar für sie.
Allerdings erinnerte sie sich noch lebhaft daran, wie ihr Aldriks Onkel Lord Ci’Dan das Purpurband verliehen hatte. Damals hatte er gesagt, es ginge darum, den ersten Schritt in eine Zukunft zu machen, die von Hoffnung, Frieden und Wohlstand zwischen allen Magiern und Unberufenen geprägt sein möge. Vhalla hatte das für eine rein symbolische Aussage gehalten. Nie hätte sie gedacht, dass sie in der heutigen Zeit nach wie vor Gültigkeit besaß.
Jax kehrte mit einem Tablett voller Schüsseln und Teller zurück. Er spürte die angespannte Stimmung im Raum und stellte die Sachen stumm auf den Tisch.
»Ich habe keine Angst«, sagte Vhalla schließlich und ließ sich neben Aldrik nieder, der sich etwas Gemüse auftat. »Ich bin nur eine einzelne Windläuferin, und es ist schon so lange her.«
Aldrik wollte gerade widersprechen, als ihm Elecia zuvorkam. »Du musst noch viel mehr essen als das.«
Der Kronprinz warf seiner Cousine einen Blick zu. »Ich denke doch, dass ich selbst entscheiden kann, wie viel ich brauche.«
»Na klar«, schnaubte Elecia und tat ihm eine weitere Portion Wurzelgemüse auf. »Jetzt mal im Ernst, Aldrik: Warum nimmst du mich überhaupt mit, wenn du dann nicht auf mich hörst?«
»Wie lange hast du Heilkunst studiert?«, fragte Vhalla, während Aldrik seufzend zu essen begann.
Elecia überlegte.
»Ihr ganzes Leben lang.« Jax ließ sich ihnen gegenüber nieder.
»Wirklich?« Vhalla war beeindruckt.
»Angeborenes Talent ist nichts wert, wenn man es nicht ständig verbessert.« Elecia versäumte wirklich keine Gelegenheit, um sich zu brüsten.
»Für ihr Alter ist Elecia eine der besten Heilerinnen auf dem Großen Kontinent«, bekräftigte Aldrik.
Elecia schien vor Stolz fast zu platzen. Sosehr ihr diese Frau auf die Nerven gehen konnte, es war schön, dass es noch jemanden gab, dem Aldrik so am Herzen lag. Und wenn man das genauer bedachte, musste Vhalla Elecias Handlungen widerwillig neu bewerten: Sie hatte als fürsorgliches Familienmitglied gehandelt – mehr wie eine jüngere Schwester denn eine Cousine.
»Guten Morgen allerseits.« Baldair betrat durch die hintere Tür die Halle – gefolgt von einer ziemlich derangiert aussehenden Raylynn.
»Seid ihr zwei schon wieder dabei?«, spottete Jax. Er lehnte sich weit zurück und sprach Raylynn direkt an. »Du musst mir irgendwann mal zeigen, wie es dir gelingt, ständig im Bett des Verführer-Prinzen zu landen.«
Man musste es Raylynn lassen: Sie behielt vollkommen die Fassung. Vhalla war fast neidisch, wie es der Frau gelang, sich nicht darum zu scheren, was andere über ihre Haltung zu Vergnügen und Kameradschaft dachten. »Das sind Fähigkeiten, die du nie erlernen wirst.«
»Aber wie kann ich Baldair denn dazu bringen, mich in sein Bett einzuladen?«, jammerte Jax in gespielter Verzweiflung.
»Bei der Mutter, Jax, es ist viel zu früh für so was.« Baldair vergrub das Gesicht in den Händen.
Auf einmal wurde Vhalla von einem heftigen Lachanfall geschüttelt.
»Was ist los mit dir?« Raylynn bedachte Vhalla mit einem herablassenden Blick und nahm sich etwas Gemüse.
»Ach, mein teurer Prinz.« Jax seufzte dramatisch und zwinkerte Aldrik zu. »Ich fürchte, das Mädchen hat den Verstand verloren.«
»Das ist alles so verrückt.« Vhalla schnaubte vor Lachen.
Elecia verdrehte die Augen. »Die einzige Verrückte hier bist du.«
»Ich sitze gerade mit der halben kaiserlichen Familie, der Goldenen Garde und einer Ci’Dan ganz entspannt beim Frühstück, und zwar während wir Soricium belagern«, japste Vhalla. »Und es kommt mir auch noch ganz normal vor.«
Aldriks tiefes Lachen untermalte das ihre. »Ich freue mich, dass wir dir ein bisschen Unterhaltung bieten können.«
»Die gestörteste Familie, die es gibt.« Baldair grinste.
»Aber dennoch eine Familie.« Jax stieß Baldair in die Seite, und der Prinz nickte schmunzelnd. Vhalla dachte daran, dass Daniel und Craig die Goldene Garde eher als ihre Sippe denn als eine Gruppe von Kameraden ansahen.
Baldair wandte sich an Aldrik. »Aber tatsächlich glaube ich, dass wir schon immer ein wenig gestört waren. Man kann uns wohl kaum als konventionelle Familie bezeichnen.«
Elecia schnaubte beleidigt.
»Sprich für dich selbst«, sagte Aldrik gespielt hochmütig und gab Elecia einen kleinen Stoß mit der Schulter.
»Nein, nein, warte. Erinnerst du dich nicht mehr an diese schrecklichen Abendessen, zu denen uns dein Onkel immer mitgenommen hat, wenn wir im Westen waren?« Baldair überlegte kurz. »Da war doch dieser eine Abend … Der, an dem wir uns auf der Straße geprügelt haben.«
»Eine Schlägerei?« Vhalla konnte sich nicht vorstellen, dass sich die Prinzen wie irgendwelche Strolche in abgelegenen Gassen prügelten.
»Ach das.« In Aldriks Stimme lag eine gewisse Belustigung.
Sein jüngerer Bruder grinste breit. »Ophain war der Meinung, der Besuch wäre gut für uns, weil es da zwei Jungs in unserem Alter gab.«
»Wann war das?«, wollte Elecia wissen.
»Du warst noch ein Kind«, erklärte Aldrik. Vhalla nutzte diese Information und stellte sich einen 13 -jährigen Aldrik in der Geschichte vor.
»Die beiden Jungs waren dermaßen eingebildet«, berichtete Baldair. »Sie haben geradezu um eine Abreibung gebettelt.«
»Warum nur habe ich das Gefühl, dass es letztendlich deine Schuld war?«, fragte Vhalla und schob sich etwas Brot in den Mund.
Baldair griff sich theatralisch an die Brust. »Das trifft mich hart, Vhalla! Wie kommst du bloß auf so eine Idee?«
»Ich verstehe, warum du sie magst, Aldrik«, sagte Jax lächelnd und deutete mit dem Kopf auf Vhalla.
Aldrik grinste nur süffisant, während Baldair die Augen verdrehte und dann weitererzählte. Vhalla jedoch verlor sich für einen Moment in Gedanken.
War sie tatsächlich in dieser Gruppe akzeptiert? War sie an Aldriks Seite akzeptiert?
»… wenn sie nicht gesagt hätten, Solaris sei ein dämlicher Name, dann hätte ich sie nicht nach draußen bitten müssen.« Baldair grinste.
»Und als ich ihm nachgegangen bin, stand er da, blutverschmiert und voller blauer Flecken.« Aldriks Eifer, die Geschichte weiterzuerzählen, strafte seinen gespielt gleichmütigen Ton Lügen.
»Und dann sagt er«, übernahm Baldair wieder und zeigte auf Aldrik, »›Niemand schlägt meinen Bruder außer mir!‹, und geht auf sie los! Haut dem Größeren der beiden einfach ins Gesicht!«
»Du?«, fragten Vhalla und Elecia wie aus einem Mund.
»Ein Kronprinz muss doch zeigen, dass er keinen Zweifel an seiner Autorität duldet«, erwiderte Aldrik und schob sich ganz beiläufig eine Gabel Essen in den Mund, was Vhalla erneut zum Lachen brachte.
»Ich glaube, es hat noch nie jemand deine Autorität hinterfragt.« Wieder verdrehte Baldair die Augen, aber sein Lächeln verriet ihn. Auch Aldrik lächelte jetzt und beide Prinzen schwiegen, schienen die anderen vier am Tisch vergessen zu haben. »Bruder, wann haben wir das letzte Mal so miteinander geredet?«
Kaum hatte Baldair die Worte ausgesprochen, hatte Aldrik sprichwörtlich die Hand gereicht, zog dieser sich zurück. Es tat Vhalla in der Seele weh, mit anzusehen, wie Aldrik wieder den versteinerten Gesichtsausdruck bekam, den er sich über die Jahre als Überlebensmechanismus antrainiert hatte. Irgendwie hatte Vhalla noch immer nicht genau verstanden, warum.
Doch obwohl sie es nicht verstand, wollte sie die Kluft zwischen den Brüdern unbedingt überbrücken. Sie wollte, dass sie häufiger so lächelten, wie sie es gerade getan hatten. Ihr ungezwungener Umgang miteinander war so viel natürlicher als das angespannte Schweigen, das sie jetzt umgab.
»Aldrik.« Ihre Finger umschlossen seine Hand. »Dein Bruder hat dir eine Frage gestellt«, ermunterte sie ihn sanft.
»Yarl«, dröhnte eine schneidende Stimme durch die Halle, und alle Leichtigkeit war dahin.
Wie alle anderen drehte Vhalla sich langsam um und schaute zum Kaiser, der bereits auf halbem Weg zu ihrem Tisch war. Wie lange war er schon hier?
»Du wolltest doch gewiss ›Prinz Aldrik‹ sagen.«
Vhalla nahm ihre Hand von der des Prinzen und legte sie in ihren Schoß. Aber es war zu spät. Der Kaiser hatte es trotzdem gesehen. Seinen kalten, gnadenlosen Augen entging nichts. Vhalla biss die Zähne zusammen, gab sich alle Mühe, unter seinem bohrenden Blick nicht zu zittern.
»Ich denke, es ist das Beste, du gehst jetzt«, befahl der Kaiser.
Vhalla erhob sich, sodass die Fetzen ihres Umhangs über die lange Sitzbank fielen, was die Schnitte besonders hervorhob.
»Vhalla, nein, du …« Aldrik verstummte und drehte sich erst zu ihr, dann wieder zu seinem Vater – zu überrumpelt, um mit der üblichen Arroganz und Härte zu reagieren.
»Schon gut, mein Prinz«, rettete Vhalla ihn vor sich selbst. Sie achtete darauf, die Worte »mein Prinz« besonders zärtlich auszusprechen. Sie würde den Wünschen des Kaisers entsprechen – sie würde Aldriks Titel benutzen, aber nicht so, wie sein Vater es sich vorstellte.
»Ich erwarte, dass du hier nicht mehr auftauchst.« Der Kaiser setzte sich.
Raylynn und Jax gingen bereits Richtung Tür, selbst Elecia sprang rasch auf.
»Weil ich Irritationen vermeiden möchte«, fügte der Kaiser hinzu.
»Irritationen?«, wiederholte Vhalla verständnislos.
»Unter den anderen gewöhnlichen Soldatinnen und Soldaten«, sagte Kaiser Solaris. »Sie könnten den irrwitzigen Eindruck bekommen, du seist eine von uns.«
»Das darf natürlich nicht geschehen, Eure Hoheit. Das wäre ja ein wahrhaft törichter Gedanke.« Vhalla gelang es nicht, die Bitterkeit aus ihrer Stimme zu verbannen.
»Das denke ich auch.« Der Blick des Kaisers triefte vor Bösartigkeit. »Und jetzt schlage ich vor, du nutzt den Tag dafür, mir zu beweisen, warum ich dich noch immer am Leben lasse …«
»Vater!« Aldrik schlug mit den Fäusten auf den Tisch.
»… und versetzt endlich den Kampfturm für die Bogenschützen mithilfe deiner Magie, wie wir es besprochen hatten«, beendete der Kaiser seinen Satz, ohne den Ausbruch seines Sohnes zu beachten.
Aldrik erhob sich.
»Wo willst du hin?«, fragte Kaiser Solaris.
»Das ist doch wohl offensichtlich.« Aldrik richtete sich zu voller Größe auf. »Sie ist viel zu wertvoll, um sie ohne Schutz herumlaufen zu lassen.«
»Ich brauche dich heute Morgen.« Die Temperatur in der Halle schien von Moment zu Moment zu steigen, während sich der jetzige und der künftige Herrscher in die Augen starrten.
»Ich ziehe es vor, Vhalla zu begleiten«, warf Aldrik seinem Vater den Fehdehandschuh hin.
Das Auge des Kaisers zuckte. »Die Goldene Garde sollte ihr wohl Schutz genug bieten. Nicht wahr, Baldair?«
»Ja, wir passen auf sie auf.« Baldair erhob sich eilig – es sah eher wie eine Flucht aus – und folgte Raylynn und Jax.
»Vater, das ist …«
»Mein Prinz«, unterbrach ihn Vhalla tapfer. »Gewiss seid Ihr doch noch immer erschöpft von Eurer langen Bewusstlosigkeit.« Sie wog jedes Wort genau ab. »Eure Sorge um mich geht weit über das hinaus, was jemand wie ich verdient.« Vhalla senkte den Blick, sie hasste sich für dieses notwendige Schauspiel der Ergebenheit. Sie stand nicht länger unter Aldrik, und der letzte Mann, vor dem sie sich selbst demütigen wollte, war der Kaiser. »Ich verstehe, dass Ihr andere Pflichten habt. Bitte widmet Euch ihnen.«
»Was für ein Tag, an dem der Kronprinz durch ein Mädchen aus dem Volk an seine Pflichten erinnert werden muss«, höhnte der Kaiser. »Und jetzt setz dich wieder hin, Aldrik. Wir haben viel zu besprechen.«
Vhalla sah zu, wie Aldrik sich auf die Bank sinken ließ. Seine Schultern hingen herab, aber in seinen Augen loderte es. Während sie nach draußen trottete, hoffte Vhalla mit aller Kraft, Aldrik würde es schaffen, die Nerven zu behalten und das nötige Schauspiel fortzuführen. Ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen.
»Also, was genau ist zu tun?«, fragte Vhalla die anderen, die vor dem Lagerpalast stehen geblieben waren. Irgendjemand würde ihr schon sagen, wo sie jetzt hinmusste. Denn ihr Verstand begann zu streiken. Sie war so müde. Sie konnte nur an Aldrik und seinen Vater zu zweit in dieser Halle denken.
Ein Mann stieß sich von der Wand direkt neben den Türen ab. »Ich kann dir zeigen, was genau wir versetzen wollen.«
Sofort spannte sich alles in Vhalla an. Daniel. Heute hatte er sein dunkelbraunes Haar im Nacken zu einem Zopf gebunden, einzelne Strähnen umspielten sein stoppeliges Kinn. Vhalla kniff die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Keiner sagte etwas. Jax, Baldair, Elecia, Raylynn – sie alle hielten einfach still.
»Nicht du«, sagte sie leise.
»Tut mir leid.« Daniel machte einen Schritt auf sie zu, was ihr überhaupt nicht gefiel. »Ich will mich entschuldigen.«
Vhalla biss sich auf die bebende Unterlippe. Sie hätte ihn so gern gehasst. Es wäre viel einfacher gewesen, wenn sie ihn für seine kleinliche Eifersucht hätte hassen können.
»Sonst weiß niemand, wo ich hinmuss?« Vhalla schaute Baldair und Raylynn Hilfe suchend an. Jax und Elecia hatten sich bereits verzogen – diese Verräter .
»Daniel?« Zwar sagte Baldair nur seinen Namen, doch in dem einen Wort steckte sehr viel mehr. Der Prinz musterte Daniel mit sichtlicher Sorge. Er wusste, dass dieser befangen war, was Vhalla betraf. Auch Raylynn schaute den Ostländer abwartend an.
»Ich weiß, was ich tue«, beteuerte Daniel seinen Kameraden. »Ich zeige ihr nur, was auf Beschluss der Heeresführer versetzt werden muss.«
»Dann lasse ich dich in seiner Obhut«, sagte Baldair, nachdem er eine Weile mit sich gerungen hatte.
Er wandte sich ab, und Vhalla hätte am liebsten laut geschrien. Was dachte Baldair sich bloß dabei? Dann wandte sie sich dem Unvermeidlichen zu: Daniel.
In seinen Augen glänzte aufrichtige Reue. Vhalla verschränkte die Arme vor der Brust.
»Wir können uns beim Gehen unterhalten«, schlug er vor.
Vhalla nickte, blieb aber einen halben Schritt hinter ihm.
»Du hattest recht«, fing Daniel an. »Mein Verhalten war anmaßend.« Er legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die Wolkenfetzen, die am endlos blauen Himmel entlangtrieben. »Du schuldest mir nichts, nur weil du Zeit mit mir verbracht hast. Du darfst so handeln, ohne dass es etwas Besonderes zu bedeuten hat oder, besser gesagt, etwas, das du nicht beabsichtigt hast.«
Seine Entschuldigung entlastete sie und weckte gleichzeitig Schuldgefühle in ihr.
»Ehrlich gesagt glaube ich, dass wir beide dasselbe wollten: nämlich die Löcher in unseren Herzen stopfen, die andere dort hinterlassen haben.« Daniel hielt kurz inne, und sie sahen sich an. Seine haselnussbraunen Augen waren eigentlich nichts Besonderes, neun von zehn Ostländern hatten eine ähnliche Augenfarbe. Aber die Art, wie seine Augen jetzt leuchteten, die Art, wie das Sonnenlicht seine ungeschminkte Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit zutage förderte – die war verblüffend. »Ich kann dir nicht vorwerfen, dass du etwas gesucht hast, um die Leere zu füllen, wenn ich es ganz genauso gemacht habe.«
»Nun, dadurch wird mein Verhalten trotzdem nicht richtiger«, sagte Vhalla endlich, verschränkte die Hände und senkte den Blick auf ihre Füße. »Du hast es gerade selbst gesagt. Ich habe dich für etwas benutzt.« Ihr Geständnis war kaum lauter als ein Flüstern.
»Aber nur weil etwas nicht richtig ist, ist es nicht automatisch falsch.« Daniels Ton hatte sich verändert, und das jagte ihr einen Schauer über den Rücken. »Sag mir nur eins: Während du mich ›benutzt‹ hast, warst du da unglücklich?«
»Nein, aber …«
»Dann kann es nicht falsch gewesen sein«, sagte er mit großer Überzeugung. »Ich war glücklich, du warst glücklich. Am besten grübeln wir nicht so viel darüber nach, was es bedeutet. Lass es uns nicht zu etwas machen, das es nicht ist. Du triffst deine eigenen Entscheidungen, und das ist mir klar, glaub mir. Du kannst tun, was du willst und …« – er stockte kurz – »… mit wem du willst. Ich schlage vor, wir lassen das alles hinter uns.«
Vhalla dachte an die gemeinsame Zeit mit Daniel. Hätte es nicht ihre besondere Lage und den Krieg gegeben, wäre sie ihm nie begegnet. Was für ein seltsamer Gedanke. An seiner Seite zu marschieren, mit ihm zu trainieren, als Serien und als Vhalla, hatte ihr gefallen. Vielleicht sogar mehr, als es sollte. Sie merkte, wie sie rot wurde. »Einverstanden.«
Sie erreichten jetzt den großen Turm, und Daniel hob den Blick. Aber seine Augen nahmen die Konstruktion gar nicht richtig wahr, das erkannte Vhalla deutlich. In seinem Gesicht spiegelte sich das gleiche Gefühl, das auch sie selbst empfunden hatte, wenn sie Elecia und Aldrik zusammen gesehen hatte, ehe sie von ihrer Verwandtschaft wusste.
Ihre Kehle war wie verklebt. Sie wollte ihm das nicht antun; Daniel war ihr ein guter Freund, und die Situation, in der er sich jetzt befand, fühlte sich irgendwie falsch an.
Als könnte er ihre Sorge spüren, wandte Daniel sich Vhalla wieder zu. Beim Anblick ihrer betroffenen Miene lachte er unbeschwert. »Mach dir nicht so viele Gedanken, Vhalla.« Er legte ihr den Arm um die Schultern und schüttelte sie leicht. »Ich sage kein Wort mehr darüber und bin noch immer auf deiner Seite, bin weiterhin dein Verbündeter. Und das kann ich auch für alle Ewigkeit sein. Oder vielleicht auch mehr als das, wenn du es dir jemals wünschst und es sich irgendwie ergibt.«
Vhalla öffnete den Mund, um etwas zu sagen, wusste aber gar nicht genau, was. Und so blieb es bei dem Schwebezustand zwischen ihnen, worüber sie mehr als erleichtert war.
»Also, das hier ist der Kampfturm, der laut der Heeresführer versetzt werden soll.« Daniel deutete mit dem Finger auf den Turm und ihr wurde sofort klar, warum er dagegen gewesen war, ihn vom Fleck zu bewegen.
Vhalla hatte mit einer vollkommen anderen Art von Bauwerk gerechnet. Der dreieckige Kampfturm war unglaublich riesig. Er besaß mehrere Plattformen für die Bogenschützen und eine Lattenkonstruktion an der Seite zum Schutz. Für zusätzliche Wehrhaftigkeit sorgten große, eiserne Stacheln, die in alle Richtungen zeigten und jeden aufspießen würden, der das Pech hatte, dagegen gestoßen zu werden.
»Wie lässt er sich bewegen?« Vhalla ging um die wachsende Menschenmenge herum. Während sie und Daniel in ihr Gespräch vertieft gewesen waren, waren immer mehr Soldatinnen und Soldaten herbeigekommen, voller Bewunderung und fasziniert von der Windläuferin in ihrem zerfetzten Umhang.
»Wir haben diese Türme nicht mit der Absicht gebaut, sie jemals zu bewegen.« Daniel grinste.
»Ist er stabil?«, fragte Vhalla.
»Vermutlich«, erwiderte Daniel unsicher.
»Na toll.« Vhalla verdrehte die Augen. »Ich übernehme keine Verantwortung, falls ich ihn zerstöre.«
»Jetzt sprichst du wie eine Lady.« Wieder grinste er.
Vhalla überhörte seine Bemerkung – was der Kaiser vorhin zu ihr gesagt hatte, war noch zu frisch.
»Macht Platz!«, rief sie und ballte die Fäuste. Ihr Magiefluss öffnete sich bereitwillig und Vhalla holte tief Luft.
»Ihr habt sie gehört, macht Platz!«, brüllte Daniel mit einer Stimme, die weithin zu hören war. Die Menge zerstreute sich und Vhalla nickte ihm beifällig zu. Er lächelte. »Wenn Ihr so weit seid, Windläuferin?«
Vhalla betrat die frei gewordene Fläche vor dem Kampfturm. Sie fühlte die Blicke aller auf sich ruhen und hörte aufgeregtes – und skeptisches – Geflüster.
Dann entdeckte sie Thia in der Menge und stockte. Die Bogenschützin war offensichtlich entsetzt über den Zustand von Vhallas Umhang. Also konnte sie nicht diejenige gewesen sein, die ihr damit eine Botschaft hatte schicken wollen. Doch wer auch immer dahintersteckte: Vhallas unverhohlene Antwort kam hoffentlich bei ihm oder ihr an.
Mit ausgestreckten Armen untersuchte sie den Kampfturm, indem sie ihn mit kleinen Windstößen traktierte. Der Turm ächzte und aus den Ecken stoben kleine Staubwolken. Vhalla versuchte zu erspüren, an welcher Stelle der Turm den größten Druck aushalten konnte.
Einige Leute begannen zu kichern. Sie hielten diese Überprüfung bereits für ihren Versuch, den Turm zu versetzen. Vhalla grinste selbstsicher und drückte beide Handflächen nach unten – gleichmäßig , sie musste darauf achten, dass ihre Bewegungen gleichmäßig waren. Dann vollführte sie mit den Händen eine synchrone Aufwärtsbewegung, und der Kampfturm hob eine Handbreit vom Boden ab.
Mehr Druck, mehr Aufwärtsbewegung. Vhalla tauchte noch tiefer in ihre Magie ein. Der Turm ächzte und schwankte. Soldatinnen und Soldaten huschten erschrocken aus dem Weg, als er in der Luft leicht vornüberkippte. Vhalla bewegte die Hand. Eine Schweißperle lief ihr die Schläfe herab. Sie begriff, dass sie von allen Seiten gleichmäßigen Druck ausüben musste, um ihn aufrecht zu halten, und dass es einen starken Windstoß von unten brauchte, um ihn vom Boden abzuheben.
Schließlich hatte Vhalla die Sache unter Kontrolle und wagte es, sich zu Daniel umzudrehen, der mit den anderen Heeresführern und der gesamten Goldenen Garde hinter ihr stand. Wenn es Vhalla nicht so viel Energie gekostet hätte, den Turm in der Luft zu halten, hätte sie über ihre Mienen gelacht.
»Vorwärts!«, rief sie, damit sich irgendjemand in Bewegung setzte. Sie wollte die Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen.
Zum Glück löste sich Daniel als Erster aus seiner ehrfürchtigen Starre. Er marschierte los, und zwar geradewegs unter den Turm, womit er sein absolutes Vertrauen in ihre magischen Fähigkeiten kundtat. Vhalla ging das Herz auf angesichts der Symbolkraft seiner Handlung. Die Winde, die den Kampfturm in der Luft hielten, zerzausten ihm die Haare.
Als Daniel auf der anderen Seite wieder hervorkam, machte sich auch Vhalla auf den Weg. Magie einzusetzen und dabei zu laufen oder sich überhaupt zu bewegen, hatte seine Tücken. Ihre ersten Schritte waren daher kaum mehr als ein Schlurfen. Doch langsam wurde es besser. Und Daniel schaute immer wieder zurück, um sicherzustellen, dass der Abstand zwischen ihnen nicht zu groß wurde.
Schritt für Schritt bewegten sie sich um die Festung herum. Vhalla war schon völlig außer Atem, als ihr klar wurde, dass sie erst die Hälfte des Weges geschafft hatten. Und doch setzte sie weiterhin einen Fuß vor den anderen, und die halbe Armee folgte ihr. Die Zeit kroch dahin.
In der Ferne erblickte sie eine freie Lichtung, die hoffentlich das Ziel war. Vhalla betete zur Mutter, dass jetzt kein Wind aufkam. Ansonsten wäre es ihr unmöglich, das riesige Ungetüm weiter gerade in der Luft zu halten.
Und dann hörte sie zum Glück Daniels Stimme. »Hier kannst du ihn absetzen, Vhalla!«
Der Kampfturm ächzte laut, als sie ihn wieder auf den Boden herabsinken ließ. Einen halben Atemzug später sanken auch Vhallas Arme zur Seite. Langsam applaudierend kam Daniel auf sie zu. Vhalla legte den Kopf in den Nacken und lachte – triumphierend und erleichtert.
Auch die übrigen Soldatinnen und Soldaten applaudierten jetzt begeistert. Vhalla lächelte sie strahlend an. Als sie den Blick über die versammelte Menge schweifen ließ, entdeckte sie zwei vertraute Gesichter. Irgendwann während ihres langsamen Marsches mussten sich der Kaiser und Aldrik ihnen angeschlossen haben. Nun standen die Heeresführer um die beiden herum. Kaiser Solaris war in voller Rüstung, sein weißer Helm funkelte in der Sonne.
»Gut gemacht, Vhalla Yarl.« Das Lob klang schal aus seinem Mund. Was ihr aber gefiel, war die Tatsache, dass Aldriks Vater keine andere Wahl blieb, als sie zu loben.
»Ich lebe, um zu dienen.« Sie verbeugte sich kurz.
Ein scharfes Sirren durchschnitt die Luft. Die Zeit schien sich auszudehnen. Vhalla warf den Kopf zurück, bog den Körper zur Seite und hob die Hand. Ihr stockte der Atem. Die Worte des Kaisers und die weit entfernte Position des Schützen hatten das Knarren der Bogensehne unhörbar gemacht. Der Pfeil, der auf sie zugeschnellt kam, streifte ihre Fingerspitzen und hinterließ eine dunkle Blutspur, bevor er sich nach oben schraubte. Vhalla hatte Mühe, nach ihrem wilden Ausweichmanöver das Gleichgewicht zurückzugewinnen.
Daniel packte ihre Schultern und ließ sich auf ein Knie sinken, sodass sie sich rücklings in seine Arme fallen lassen konnte und von seinem Bein abgestützt wurde. Er zog Vhalla an seine Brust, schirmte mit seinem Körper ihren ungeschützten Kopf und Hals vor der Festung ab. Ein zweiter Pfeil blieb mit einem lauten Sirren zwischen Daniels Brust- und Schulterplatte stecken.
»Daniel!« Vhalla wollte aufspringen und kämpfen. Ihr Herz raste.
»Mir geht es gut. Er hat das Kettenhemd nicht durchdrungen.« Überrascht blickte Daniel in Vhallas angsterfülltes Gesicht. Angst um seinetwillen. »Du bleibst schön unten.«
Der Wind trug das Ächzen einer weiteren Bogensehne zu Vhalla und sie mühte sich, herauszufinden, wie sie den Pfeil abwehren konnte. Alles geschah viel zu schnell. Die Menschen um sie herum waren zwar in Bewegung, aber ihr Tun wirkte geschockt, schwerfällig und sie waren keine Hilfe.
Der Pfeil verschwand in der Flammenwand, die sie und Daniel wie aus dem Nichts umgab. In einer wahrhaft furchterregenden Zurschaustellung seiner Macht trat Aldrik durch die Flammen. Sie züngelten an seinem Gesicht und seiner Rüstung, sodass er in Licht getaucht war, aber dennoch keinerlei Schaden davontrug.
»Mylady«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen und streckte Vhalla die Hand hin. Daniel ließ sich zurücksinken. Schweißtropfen liefen ihm über Wangen und Nacken, als würde er in seiner Rüstung bei lebendigem Leibe gekocht. Vhalla nahm Aldriks Hand und erhob sich. Der Prinz zog sie an sich.
Augenblicklich versanken sie in ihrer eigenen Welt. Dem Surren des letzten Pfeils, der harmlos im Feuer verglühte, schenkten sie schon keine Beachtung mehr.
»Ich danke Euch, Lord Taffl«, sagte Aldrik einen Moment später mit erzwungener Förmlichkeit. Flammen umzüngelten seine Finger, die Vhallas weiter umschlungen hielten.
»Es ist mir eine Freude, meine Pflicht zu tun, mein Prinz«, gab Daniel zurück. Trotz des Infernos um ihn herum klangen seine Worte kühl.
»Ihr könnt gehen.« Aldriks Flammen bildeten jetzt nur noch eine Wand zur Festung hin und Daniel trat beiseite.
Mit einer Geste bedeutete der Prinz Vhalla, ihm zu folgen. »Mylady.«
Sie passte sich seinem Schritt an und die Flammenwand folgte ihnen.
»Verschwendet Eure Pfeile und Kräfte nicht«, befahl Aldrik den Soldatinnen und Soldaten, die sich mittlerweile in Kampfposition gebracht hatten. »Sie greifen nicht an. Sie haben es nur auf die Windläuferin abgesehen.«
Langsam entspannten sich alle, doch nun galt die ganze Aufmerksamkeit ihnen beiden. Den Blick stur auf den Rücken des Prinzen gerichtet, versuchte Vhalla vergeblich, ihr klopfendes Herz zu beruhigen. Ihre Romanze und die Freude darüber hatten sie die Wahrheit vergessen lassen: Sie brachte allen den Tod.
Ihretwegen hätte Daniel sterben können. Vhalla ballte die Fäuste. Sie hasste es; sie hasste das alles. Sie konnte dem, was sie war, nicht entkommen. Sie konnte es nur annehmen, ihr Schicksal tragen, wie sie den zerschnittenen Umhang um ihre Schultern trug.
Aldrik blieb stehen und warf seinem Vater einen spitzen Blick zu. Vhalla konnte die Provokation fast hören – die unausgesprochene Aufforderung an seinen Vater, irgendetwas gegen seine offen zur Schau gestellte Zuneigung zu Vhalla zu sagen oder zu tun. Die Miene des Kaisers wurde grimmig.
Dann setzte Aldrik seinen Weg fort. Durch die Menge hindurch führte er Vhalla zurück zum Lagerpalast. Die Flammenwand hielt er die ganze Zeit über hinter ihnen aufrecht, weswegen Vhalla den wachsenden Abstand zwischen sich und der Festung von Soricium gar nicht wahrnahm. Ihre Hände zitterten, weil sie sie die ganze Zeit zu Fäusten ballte.
»Setz deine Kapuze auf.«
Vhalla gehorchte und zog sich die schwere Kapuze des Kettenhemds über den Kopf. Das hätte sie von Anfang an tun sollen , schalt sie sich. Nur ein paar Schritte vom Eingang zum Lagerpalast entfernt ließ Aldrik die Flammen ausgehen. Dann führte er sie eilig hinein. Langsam atmete Vhalla auf.
Sie gab sich alle Mühe, mit Aldriks langen Schritten mitzuhalten, und die Halle voller Heeresführer zog wie ein Schleier an ihr vorüber. Auf einmal waren sie in Aldriks Zimmer. Hastig schloss er die Tür hinter Vhalla und legte ihr dann die Hände auf die zitternden Schultern.
»Vhalla, meine Liebste, hier bist du sicher«, beruhigte er sie.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich vielleicht schon, aber alle anderen werden nie in Sicherheit sein.«
Aldrik blickte ihr mitfühlend in die Augen.
»Kann ich denn nirgends hingehen, ohne dass jemand versucht, mich zu töten?«, flüsterte Vhalla. »Der Kaiser wünscht es sich, und es gibt offensichtlich noch andere, die derselben Meinung sind.« Sie deutete auf den zerschnittenen Umhang. »Die Nordländer halten mich nicht einmal für ein menschliches Wesen.«
»Ich hätte dich nie allein gehen lassen dürfen«, fluchte Aldrik leise. »Nicht alle wünschen sich deinen Tod.« Mit seiner Hand, die noch immer im Panzerhandschuh steckte, glättete er ihr widerspenstiges Haar. Die Tinte, mit der sie es gefärbt hatte, war fast vollständig ausgewaschen, und Vhalla hatte den Versuch aufgegeben, es nach westlicher Manier zu frisieren. »Einige sehen zu dir auf, sie bewundern dich. Andere halten dich für eine Dämonin oder für eine Göttin.«
»Ich möchte nach Hause.« Vhallas Fingernägel kratzten über seine Rüstung, suchten verzweifelt nach Halt.
»Ich werde dich zurückbringen.« Aldrik ergriff ihre Hände. »Wir werden zusammen in den Süden zurückkehren, und dort wirst du an meiner Seite sein.«
Vhalla wurde ganz still.
»Ich muss in die Projektion gehen.« Sie löste sich von Aldrik, und die Worte, die sie in seinem Blick erahnte, blieben ungesagt. Dafür war jetzt nicht der Moment. »Keiner kann zurückkehren, ehe das hier zu Ende ist.«
Aldrik nickte und half ihr aus der Rüstung, bevor er sich an den kleinen Schreibtisch setzte, der voller Unterlagen war. Er wühlte darin herum, bis er ein leeres Blatt vor sich liegen hatte. Auch sein Federkiel lag bereit.
Vhalla streckte sich auf dem Bett aus und atmete tief durch. Nach Hause , dachte sie und schaute zur Decke. Ihr wurde klar, dass ihr Zuhause nicht länger das Bauernhaus im Osten oder die kaiserliche Bibliothek war. Vhalla drehte sich zu Aldrik um, der auf seine Hände starrte. Ihr Zuhause war der Ort geworden, an dem er sich befand. Und sie würde tun, was sie tun musste, um gemeinsam mit Aldrik in den Palast zurückzukehren.
Vhalla schloss die Augen und verließ ihren Körper.