ZEHN
Vhalla stand vor dem massiven Eingang der Festung. Am Fuße der Steinmauern war ein breiter, tiefer Graben ausgehoben worden. Er würde für jene unglücklichen Seelen zum Grab werden, die einen Angriff wagten, Opfer der Bogenschützen, die von der Mauerkrone aus Pfeile auf sie niederregnen lassen würden.
Die Zugbrücke war geschlossen, perfekt eingepasst in den mächtigen, steinernen Torbogen. Brücke und Mauern wehrten Vhalla ab, und sie musste sich mit aller Gewalt hindurchzwängen. Beim Bau dieses Zugangs war eindeutig Magie zum Einsatz gekommen.
Ich bin drin , meldete sie sich bei Aldrik, als sie sich wieder gefestigt genug fühlte.
»Ausgezeichnet«, drang seine Stimme an ihr Ohr, dort in seinem Zimmer und zugleich auch hier, so deutlich, als stünde Aldrik direkt neben ihr. »Sag mir, was du siehst.«
Es ist ein dunkler, schmaler Gang. Eine Art großer Topf hängt darüber, und wie es scheint, haben sie in mehreren seitlichen Schächten Schutt aufgetürmt – gehalten von Keilen, an denen Seile befestigt sind. Vhalla lauschte dem Geräusch seiner kratzenden Feder und sprach nur das Nötigste, damit er gut mitkam.
»Also planen sie, das Tor bei einer ersten Angriffswelle als Verteidigungsmaßnahme zu blockieren«, bemerkte Aldrik. »Deine Erkundung hat sich bereits gelohnt, und du bist gerade erst hinter dem Tor.«
Im weiteren Verlauf wird der Gang breiter , sagte Vhalla beim Gehen. Vor der zweiten Wehrmauer ist viel Platz.
»Zweite Wehrmauer?« Papier raschelte.
Ja, mein Papagei.
Aldriks tiefes Glucksen hallte in ihr nach. »Bislang wussten wir nichts von einer zweiten Wehrmauer. Beschreib sie.«
Hinter der ersten Schutzmauer kommt eine freie Fläche vielleicht so acht bis zehn Meter breit, und dann eine zweite Mauer. Es gibt Stege, die diese zweite Mauer mit der äußeren Mauer verbinden. Aber am Boden sehe ich nur einen Zugang. Vhalla ging am zweiten Schutzwall der kreisförmig angelegten Festung entlang.
Das Gehen fühlte sich nicht normal an, und das nicht nur, weil Vhalla es in der Projektion erlebte. Der Raum zwischen den beiden Mauern summte vor Magie, die eine strahlte auf die andere ab. Vhalla wurde ganz still. Alles zeugte von einer uralten Macht. Sie strömte aus den Tiefen der Erde, machte den Boden fruchtbar und nährte damit die Menschen, die auf ihm lebten.
Zwei Nordländerinnen gingen auf einem Steg über Vhallas Kopf hinweg – vertieft in ein hitziges Gespräch in einer Sprache, die Vhalla fremd war. Doch es war nicht der unverständliche, melodisch klingende Dialog, der sie in seinen Bann zog. Es war der Bogen in der Hand der einen Nordländerin.
Immer wieder sagten die beiden mit besonderer Schärfe ein Wort: Gwaeru .
Sprichst du die Sprache des alten Shaldan? , fragte Vhalla, als die beiden Bogenschützinnen den Steg überquert hatten und die innere Wehrmauer betraten.
»Ich spreche ja schon kaum Westländisch«, seufzte Aldrik.
Ich glaube, Gwaeru bedeutet Windläuferin.
»Wie bist du denn darauf gekommen?«
Ich glaube, ich habe gerade die Bogenschützin gesehen, die versucht hat, mich zu töten , dachte Vhalla düster.
»Merk dir ihr Gesicht, damit mir das Vergnügen vergönnt ist, sie persönlich zu erledigen.« Aldriks Beschützerinstinkt verlieh seiner Stimme eine Schärfe, die jeder andere als grausam empfunden hätte. Aber nicht Vhalla.
Ich werde durch die zweite Wehrmauer gehen. Sie scheint älter zu sein als die äußere und aus einer anderen Art Stein zu bestehen. Es kommt mir wie reine Magie vor.
Vhalla stand vor der mächtigen Mauer. Die wechselnden Magieströme, die sie wahrnahm, schienen durch das Gestein allesamt zum Stillstand gebracht zu werden.
»Dann werden wir unsere besten Erdgebieter brauchen.« Wieder hörte sie das Kratzen von Aldriks Schreibfeder.
Vhalla unterbrach den Austausch mit ihm, um durch die Mauer zu gehen. Das Gestein brachte ihre magischen Sinne durcheinander, und einen Moment lang dachte Vhalla voller Panik, sie hätte sich in ihrem eigenen Magiefluss verloren. Verzweifelt nach Luft ringend zwängte sie sich durch die Mauer. Wenn sie es zuließ, würde der Untergrund ihre magische Gestalt einfach zerquetschen.
Auf der anderen Seite angekommen glaubte Vhalla, wieder freier atmen zu können – metaphorisch gesprochen –, bis sie sich umsah. Bei der Mutter …
»Was ist los, Vhalla?«, fragte Aldrik beunruhigt.
Aldrik … Vhalla versuchte zu verarbeiten, was sie sah.
Die Festung war ein architektonisches Meisterwerk, wie das fantastischste Baumhaus, von dem ein Kind nur träumen konnte. Die Gebäude aus Holz und Stein waren auf allen Ebenen durch bogenförmige Stege verbunden. Es war, als hätte jemand den Palast im Süden ausgehöhlt und sein Inneres freigelegt, ein Spinnennetz aus engen Gängen und Tunneln. Die Bäume waren so alt und hoch, dass einige von ihnen versteinert oder auf magische Weise in Stein verwandelt worden waren. Andere besaßen tiefe Einbuchtungen oder waren ausgehöhlt worden, um Wohnräume zu schaffen.
Zur Mitte und nach oben hin verdichtete sich die Festung zusehends. Vom höchsten zentralen Punkt ging ein einzelner langer Laufsteg aus, den man nur über andere Stege erreichen konnte. Dort oben befanden sich weitere Räume und kleinere Behausungen, und Vhalla hatte keinen Zweifel daran, dass an diesem höchsten Punkt die Anführer residierten.
Doch es war nicht die Architektur, die sie so sprachlos machte. Auch nicht die schier unmögliche, einzigartige Bauweise der Festung. Was Vhalla innehalten ließ, waren die Bewohner.
»Vhalla, was ist los?«, wiederholte Aldrik in ihr Schweigen hinein.
Vhalla aber hatte nur Augen für das Bild, das sich ihr bot.
Die unterschiedlichsten nordländischen Männer und Frauen hatten Hütten innerhalb der inneren Wehrmauer gebaut, hatten eine Zeltstadt errichtet, die dem Lager der kaiserlichen Armee glich. Die Festung schien sehr viel mehr als nur diejenigen Menschen zu beherbergen, die ursprünglich dort gelebt und gearbeitet hatten. Eine große Zahl von Schutzsuchenden hatte sich auf der Flucht vor der anrückenden Armee des Kaisers hierhin zurückgezogen. Es waren viel zu viele Menschen, selbst für eine derart große Festung, sodass sich die Nordländer fast zu stapeln schienen.
Ihre stillen und traurigen Gesichter brannten sich in Vhallas Gedächtnis. Das Leben ging seinen Gang. Die Menschen erledigten ihre täglichen Pflichten. Kinder spielten, Frauen hüteten das Vieh, Männer kochten und reparierten, was zu reparieren war. Doch auf ihren Schultern schien eine tonnenschwere Last zu liegen.
Die Wahrheit war wie ein Schlag ins Gesicht. Eine erschütternde Erkenntnis, die Vhalla mit Demut erfüllte, die Wut und Rachsucht verschwinden ließ und stattdessen Scham hervorbrachte. Auf einmal schien ihr jede Nacht, die sie damit verbracht hatte, den Nordländern für Sareem, für Larel den Tod zu wünschen, bedeutungslos zu sein.
Diese Menschen waren keine blindwütigen Mörder.
Sie waren kein gesichtsloser Feind, der halb wild und halb wahnsinnig war. Sie waren kein bisschen weniger menschlich als sie selbst. Sie unterschieden sich nicht von Vhalla, nur weil sie woanders geboren waren, anders sprachen, sich anders kleideten oder anders aussahen.
Die Nordländer waren genau wie sie. Es waren Menschen, die ihr Zuhause, ihren Besitz und wahrscheinlich auch ihre Familien verloren hatten, als sie sich an den letzten sicheren Ort geflüchtet hatten, der ihnen noch blieb. Den letzten geheiligten Ort, der noch ihre Heimat war, bevor das Kaiserreich des Südens ihn vereinnahmte, ihnen ihre Namen und ihre Geschichte raubte und sie in »den Norden« verwandelte.
Alles, was Vhalla über den Krieg gehört und gelernt hatte, war geprägt von der Perspektive des Kaiserreichs. Es war die kollektive Meinung, die im Namen des Kaisers verbreitet wurde. Die Motive für diesen Krieg waren durch Ausreden und Erklärungen verwässert worden, damit er logisch erschien. Aber an diesem Krieg war nichts logisch. Es ging hier nicht um den Glauben oder den Frieden. Diese Menschen starben für die Gier des Südens.
»Vhalla, sag doch was«, forderte Aldrik.
Vhalla hatte gedacht, sie wüsste, was Krieg war, aber als sich der Anblick dieser hohlen Augen und viel zu dünnen Körper dieser Menschen in ihre Seele grub, wurde Vhalla klar, dass sie gar nichts wusste.
Plötzlich kamen ihr die Gesichter der Menschen, die sie getötet hatte, wieder in den Sinn.
Wir sind die Ungeheuer.
Vhalla war wie erstarrt. Damals war ihr der Tod dieser Menschen so gerecht, so logisch erschienen. Jetzt begriff sie, dass sie diejenige war, die ihre Heimat besetzt hatte. Sie ritt mit den Menschen, die das Leben der Nordländer zerstörten. Und jetzt war sie hier, um ihnen den finalen Schlag zu versetzen. Shaldan war kein vom Krieg gebeuteltes Land gewesen, erst das Kaiserreich hatte es dazu gemacht.
»Vhalla, du bist kein Ungeheuer«, sagte Aldrik fest. Seine Stimme war lauter, und sie spürte eine seltsame Wärme über ihre Wangen streichen. »Was siehst du?«
Er saß nicht länger mit der Schreibfeder in der Hand da, das merkte Vhalla an der Nähe seiner Stimme, an seinen Händen auf ihrem Gesicht. Er fragte ihr zuliebe, nicht um seinetwillen oder des Krieges wegen.
Hier sind viele, viele Menschen, dicht an dicht. Aber die meisten sehen nicht aus, als seien sie Krieger. Vhalla begann, durch das Zeltlager zu gehen. Es gibt viele Kinder, Aldrik.
»Innerhalb der zweiten Wehrmauer?«, fragte er nach.
Ja, mit ihren Familien, oder vielleicht auch nicht. Ich weiß es nicht … Sie sind so dünn. Vhalla sah, wie einigen von ihnen die Kleider am Leib schlotterten.
»Die Belagerung dauert nun schon mehr als acht Monate«, erklärte Aldrik. »Aber angegriffen haben wir sie schon vor mehr als einem Jahr. Ihre Bestände gehen zweifellos zur Neige. Kannst du herausfinden, wo sie ihre Vorräte lagern?«
Es gibt Kinder! Vhalla war entsetzt. Sie sah zwei Jungen zu, die ins Spiel vertieft waren. Die Erwachsenen um sie herum nahmen die beiden gar nicht wahr. Erwachsene, deren Blicke vollkommen leer waren – weil sie wussten, dass sie nicht mehr lange durchhalten würden.
»Das spielt keine Rolle.«
Vhalla wusste, dass Aldrik sich dazu zwang, ungerührt und stark zu sein. Ein Prinz zu sein, der eine Entscheidung treffen musste, wenn es keine richtige Entscheidung gab. Sie hörte die Emotionen hinter seinen Worten, den Kummer darüber, sie aussprechen zu müssen. Aber auf einmal war sie furchtbar wütend, dass Aldrik sie überhaupt sagen konnte.
Es ist nicht egal! Ich werde keine Kinder töten!
»Du hast keine andere Wahl.«
Vhalla versuchte, ihre Fassung wiederzuerlangen. Sie rang mit dem Bild, das sich ihr bot. Versuchte diesen Albtraum mit den Argumenten zu rechtfertigen, die das Kaiserreich ihr ein Leben lang eingetrichtert hatte. Der Süden kämpfte angeblich für den Frieden, aber alles, was Vhalla sah, waren verzweifelte Zivilisten, die sich an Waffen klammerten, für deren Gebrauch sie nie ausgebildet worden waren. Das Kaiserreich kämpfte für Wohlstand – und Kinder verhungerten. Das Kaiserreich kämpfte für Gerechtigkeit – und brach dabei die Gesetze, die es selbst anpries.
Mörder, sie waren Mörder unter dem Kommando des größten Mörders von allen.
Ich kann nicht, ich kann das nicht tun, Aldrik. Vhalla kehrte nicht in ihren Körper zurück, sie ging nicht weiter, sie tat gar nichts mehr.
»Doch, du kannst«, ermutigte Aldrik sie.
Wir nehmen ihnen ihr Zuhause weg!
»Ihr Zuhause ist bereits verloren«, sagte der Prinz grimmig. »Was, glaubst du, wird passieren, wenn du dich weigerst? Denkst du wirklich, du könntest noch aufhalten, was unvermeidlich ist? Dieser Krieg wurde schon lange vor unserer Begegnung begonnen, lange vor deiner Erweckung zur Magierin. Der Norden war von Anfang an zum Untergang verdammt. Durch ihren erbitterten Widerstand haben sie es nur hinausgezögert.«
Natürlich haben sie das! Es ist ihre Heimat. Nie hätte Vhalla gedacht, dass sie einmal Verständnis für die Menschen aufbringen würde, zu deren Tötung sie hergebracht worden war. Aber jetzt gerade fragte sie sich, ob sie an der Seite der Nordländer kämpfen würde, wenn sie die Wahl hätte.
»Ihre Anführerin ist für all das verantwortlich. Sie hat ihre Leute hier versammelt. Und nun lässt sie ihr Volk lieber verhungern, anstatt Soricium aufzugeben.«
Hat sie denn eine Wahl?
»Alle Anführer haben die Wahl, Verantwortung für ihr Volk zu übernehmen«, versicherte Aldrik ihr. »Der Norden ist wie ein verwundetes, blutendes Tier. Es wird mit oder ohne dein Eingreifen sterben. Je schneller es geht, desto weniger werden die Menschen leiden. Und das kannst du ihnen gewähren, Liebste.«
Das ist furchtbar.
»Es ist die Wahrheit«, sagte Aldrik eindringlich. Aber er bestritt nicht, wie furchtbar diese Wahrheit war.
Er hatte recht, aber dass er es so offen aussprach, war unfasslich grausam. Das hier war schlimmer als alles, was Vhalla bisher erlebt hatte. Sie hatte sich vorgestellt, auf einem Schlachtfeld zu kämpfen. Wann immer sie versucht hatte, sich im Geiste auf die bevorstehenden Auseinandersetzungen einzustimmen, war der Feind gesichtslos gewesen. Formlos und rein körperlich. Vhalla hatte den Norden als ein Wesen begriffen, gegen das sie kämpfte, nicht als Heer von Zivilisten.
Dies war ein Feind, der nicht standhalten konnte. Es war ein Feind, der schon auf den Knien war und bettelte. Der um das letzte bisschen Zufriedenheit bettelte, das ihm noch blieb, nachdem sein Leben zerstört worden war. Vhalla war nicht als Soldatin oder zur Verteidigung des Kaiserreichs hier. Sie war hier, um die mächtigste Henkerin zu sein, die das Kaiserreich Solaris je aufgeboten hatte.
Das war kein Krieg: Es war ein drohendes Massaker.
»Die Vorratslager«, erinnerte Aldrik sie, und Vhalla spürte trotz der Projektion die magische Wärme seiner Handflächen auf ihren Wangen.
Sie musste weitermachen. Er hatte recht. Sie sah keinen anderen Ausweg für sich. Aber bei jedem Schritt hätte sie am liebsten laut geschluchzt und geschrien. Die Nordländer bemerkten den Feind in ihrer Mitte nicht. Vhalla stählte ihr Herz, wie sie es sich als Serien antrainiert hatte, sodass der Geist der anderen Frau sie wie ein Schutzschild umgab.
Als sie auf der Suche nach den Vorratslagern tiefer ins Herz der Festung vordrang, hörte sie zu ihrer Überraschung eine Frauenstimme, die Südländisch sprach. Sie blieb stehen, um festzustellen, woher die Worte kamen. Dann betrat Vhalla einen der riesigen Bäume, der sie an den Turm der Magier erinnerte – ein großer zentraler Raum und eine geschwungene Treppe, die zum nächsten Stockwerk hinaufführte.
Vhalla folgte der Stimme bis hinauf in den vierten Stock und dann einen Gang entlang, der zu einem der Quartiere führte, die von außen am Stamm angebracht waren.
»… Ihr sagtet, sie würden tot sein.« Dem starken Akzent nach zu urteilen, war die Sprecherin eine Nordländerin.
Vhalla trat durch die Tür und sah die Bogenschützin von vorhin in dem Raum auf und ab gehen.
»Und Ihr hattet versprochen, uns die Windläuferin zu übergeben. Lebend.«
Vhalla gefror das Blut in den Adern. Ein westländischer Mann, abgekämpft und verdreckt, saß auf einer der niedrigen Bänke. Sein Haar war fettig, das Gesicht ausgezehrt. Doch er schien sich nicht unwohl zu fühlen. Er war weder angekettet noch gefesselt, sondern wirkte geradezu entspannt in Gesellschaft der Nordländerin. Seine Rüstung nach südländischer Machart wirkte in dieser Umgebung vollkommen fehl am Platze.
»Warum liebt ihr die Windläuferin so?«, fragte die Frau mit ihrem starken Akzent in spöttischem Ton.
»Meine Männer haben ihren Teil der Abmachung eingehalten; sie haben den kaiserlichen Truppen an der Tiefe aufgelauert und für Verwirrung gesorgt – obwohl Eure Leute in Estrela vom vereinbarten Plan abgewichen sind und die Windläuferin töten wollten. Und das, nachdem wir ihnen so bereitwillig Unterschlupf gewährt und sie versorgt hatten.«
Vhalla schwirrte der Kopf bei den Worten des Mannes.
»Gwaeru« , sagte die Frau auf Nordländisch und fügte erregt einige Worte hinzu, die höchstwahrscheinlich ziemlich gottlos waren.
Vhalla musterte die Nordländerin eingehend. Ihr langes schwarzes Haar war zu vielen Zöpfen geflochten und am Hinterkopf zu einem komplizierten Knoten gebunden. Sie trug ähnliche Kleidung wie die anderen Krieger aus dem Norden, denen Vhalla bisher begegnet war: eine einfache Lederrüstung und ein seltsames Kleidungsstück mit einem Loch in der Mitte für den Kopf, das wie ein kunstvoll bestickter Wimpel aussah und in der Taille von einem Gürtel zusammengehalten wurde.
Ihr fielen die versteinert aussehenden Rindenstücke ins Auge, die die Frau als Schutz über den Schultern befestigt hatte. Also ist sie keine Erdgebieterin.
»Was hast du gesagt?« Aldriks Stimme überlagerte die Unterhaltung.
Vhalla hatte nicht daran gedacht, dass er ihre Gedanken hören konnte. Ich berichte dir gleich alles. Jetzt muss ich lauschen , sagte sie hastig, um nicht noch mehr von dem Gespräch zu verpassen.
»Wir werden Euch helfen, indem wir dafür sorgen, dass die Mitglieder der kaiserlichen Familie in ihren Betten erschlagen werden, sofern Ihr die Windläuferin an Jadars Recken übergebt; das war von Anfang an unsere Abmachung. Und ehe Ihr jetzt loslauft, um weitere Pfeile abzuschießen, erinnere ich Euch noch einmal daran, dass wir sie lebend wollen!« Der Mann lehnte sich vor, stützte die Ellbogen auf den Knien ab. »Noch ein Versuch, sie zu töten, und wir müssen davon ausgehen, dass unsere Vereinbarung hinfällig ist.«
Seine Worte brachten die Frau sichtlich in Rage. »Das ist ohne Sinn! Wir werden eine neue Abmachung treffen. Ihr tötet die Kaiserfamilie ohne Shaldans Hilfe und fangt die Windläuferin selbst ein, wenn sie schutzlos ist. Zum Dank gibt Shaldan Euch Achel .«
Der Mann hielt inne und überlegte.
»Ihr habt die Axt?«, fragte er mit ehrlichem Interesse.
»Shaldan kennt ihre Geschichte. Wir haben sie nicht vergessen wie viele im Süden«, erwiderte die Frau kryptisch.
In Vhallas Kopf machte es plötzlich klick . Konnte die Axt, von der sie sprachen, dieselbe sein wie die, die Minister Anzbel erwähnt hatte? Er hatte ihr gesagt, dass diese Axt einfach alles durchtrennen konnte, dass sie ihren Besitzer unbesiegbar machte.
Der Westländer zog die Augenbrauen hoch. »Warum habt Ihr die Axt nicht benutzt, wenn sie in Eurem Besitz ist? Das Schwert von Jadar hat den Recken dabei geholfen, das Heer des Kaisers zehn Jahre lang abzuwehren.«
Vhalla hatte noch nie davon gehört oder gelesen, dass in den Schlachten um Mhashan ein besonderes Schwert zum Einsatz gekommen war.
Die Frau schnaubte. »Denkt Ihr, wir bewahren eine solche Waffe hier auf? Im heiligen Soricium? Nein, diese ungeheuerliche Axt ruht dort, wo sie sollte: unter den wachsamen Augen der Ältesten.«
»Wenn das, was Ihr sagt, wahr ist …«
»Ich spreche wahr.«
»Ich muss mich zuerst mit meinen Gefährten beraten.« Der Mann stand mit etwas Mühe auf. »Morgen werdet Ihr uns die Nachricht übermitteln.«
»Morgen.« Die Frau nickte und stürmte dann leise fluchend an Vhalla vorbei hinaus auf den Gang. Hinter ihr schlug die Tür zu.
Vhalla sah zu, wie der Mann langsam zum Fenster ging. Er hinkte leicht. Sie hob ihre Hand und seine Gestalt verschwamm dahinter. Wenn sie ihre Magie auch in ihrer jetzigen Form einsetzen könnte, wäre es ein Leichtes, ihn mit einem Windstoß aus dem Fenster zu werfen. Sie könnte ihn kopfüber die vier Stockwerke herabstürzen lassen, sodass er ungebremst auf den Boden prallte.
»Vhalla?«, lenkte Aldrik sie von ihren mörderischen Gedanken ab. »Hast du schon die Vorratslager gefunden?«
Nein, ich schaue gleich danach. Mit aller Willenskraft, die sie besaß, schleppte sie sich aus dem Zimmer und die Treppe hinunter.
»Gleich? Hast du denn noch nicht danach gesucht?« Aldriks Sorge war unüberhörbar.
Ich sage dir Bescheid, wenn ich die Projektion beende. Ich bin schon sehr müde. Als Vhalla aus dem Baum nach draußen trat, blickte sie hinauf in die Sonne. Nie zuvor hatte sie die Projektion so lange aufrechterhalten; in ihren Körper zurückzukehren, würde schon jetzt schwierig werden.
Aldrik schwieg, während Vhalla weiter durch Soricium streifte. Das Gespräch, das sie belauscht hatte, trübte ihre Stimmung noch mehr und brachte ihre Gefühle durcheinander. Sie begann die Nordländer wieder zu verabscheuen, aber nur jene, die den Krieg aus persönlichen Motiven vorantrieben.
Es war also gar keine spezielle Region oder ein bestimmtes Volk, das Vhalla zuwider war, sondern eine bestimmte Sorte von Menschen. Nämlich Anführer, die für ihr Vermächtnis über Leichen gingen. Und diejenigen, die sich auf Kosten der Zukunft an die Vergangenheit klammerten. Vor allem aber hasste Vhalla Menschen, die sich auf Kosten anderer nur um ihr eigenes Wohl sorgten.
Sie fragte sich, was sie selbst für eine Sorte Mensch war. Sprach ihre Sympathie für die einfachen Menschen sie von ihrer Schuld als Scharfrichterin der Krone frei? Hob ihr Hass auf den Kaiser die Tatsache auf, dass sie dem sterbenden Norden den Todesstoß versetzen würde? Rechtfertigte ihre Liebe zu Aldrik, dass sie seine Einschätzung der gegenwärtigen Situation akzeptierte? Dass das Gemetzel, auf das sie zusteuerten, alternativlos war?
Langsam kehrte Vhalla in ihren Körper zurück. Ihr Kopf fühlte sich schwer an, und noch immer war ihre Sicht verschwommen. Aldrik saß bei ihr auf der Bettkante, aber auch ihr Gehör funktionierte noch nicht richtig und seine Worte klangen unverständlich. Vhalla konzentrierte sich erst auf ihren Herzschlag, dann auf ihre Atmung und dann auf alles andere.
»Aldrik«, sagte sie heiser.
»Liebste«, flüsterte er, und durch das offene Fenster beschien die Sonne sein Gesicht.
Tränen stiegen ihr in die Augen und strömten ihr über die Wangen. Vhalla hickste schluchzend, als Aldrik sie in seine Arme zog. Sie krallte sich verzweifelt an seinem Hemd fest, presste ihr Gesicht an seinen Körper und ließ sich ganz von ihm vereinnahmen. Aldriks Wärme schenkte ihr Kraft, sein ruhig schlagendes Herz gab ihr Stabilität, und sein Geruch spendete ihr Trost.
Der Prinz ließ sie weinen. Er änderte lediglich seine Körperhaltung, sodass Vhalla sich noch enger an ihn schmiegen konnte, aber er versuchte nicht, ihre Tränen aufzuhalten. Er wusste es besser, wie Vhalla mit einem dumpfen Schmerz begriff, denn es hatte einen Moment gegeben, in dem auch er solche Tränen vergossen hatte. Damals hatte er den Verlust seiner Menschlichkeit betrauert, die er der Pflicht geopfert hatte. Einer Pflicht, geschaffen von Kräften, die außerhalb seiner Kontrolle lagen.
Mit den Fingern entwirrte Aldrik liebevoll ihr Haar, dann küsste er ihren Scheitel. Vhalla löste sich von ihm und bewunderte seine blasse Haut, die den Farbton der untergehenden Sonne annahm. Es war, als ob Aldriks Feuer in seinem Körper loderte. Das Glühen war viel zu schön für dieses scheußliche Fleckchen Erde, auf dem sie sich gerade befanden.
»Wir müssen ihnen helfen«, flüsterte Vhalla. »Den Nordländern.«
Aldrik öffnete überrascht den Mund. »Was?«
»Wir müssen «, drängte sie. »Außer uns wird es keiner tun. Ich weiß, Aldrik, ich weiß.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber ich kann nicht vergessen, was ich gesehen habe.«
Aldrik holte tief Luft und Vhalla machte sich auf Widerspruch gefasst. »Was soll ich denn tun? Was glaubst du, wie ich ihnen helfen kann?«
Ihre Augen standen so voller Tränen, dass sie sein Gesicht nur verschwommen wahrnahm. Er bot ihr tatsächlich an, zu helfen. Vhalla hatte damit gerechnet, dass Aldrik sie abweisen und auf dem Unvermeidlichen bestehen würde. Zwar wirkte er gerade ziemlich durcheinander, aber er meinte es zweifellos ernst.
»Du wirst der Kaiser des Friedens sein.« Noch während Vhalla das sagte, überlief sie ein Schauer. Sie hielt seine Hände fest umfasst. Er würde der Herrscher sein. Dieser Mann, ihre große Liebe, würde der Kaiser sein. »Fang jetzt damit an, deine Rolle zu definieren.«
»Wenn ich den Befehl gebe, in der Schlacht Nachsicht zu üben, verliere ich den Respekt des gesamten Heeres.«
Zornig ließ Vhalla den Blick durchs Zimmer schweifen, frustriert, weil er recht hatte. »Ich weiß. Aber wenn der Krieg vorbei ist, kannst du etwas tun: Verpflichte dich dazu, den Norden wieder aufzubauen, den Menschen wieder ein Zuhause zu geben.«
»Das würde unglaubliche Summen verschlingen, Vhalla …«
»Haben dein Vater und dein Bruder nicht reiche Beute von der Front mitgebracht?« Vhalla richtete sich auf und rieb sich mit dem Handballen die Augen. »Hat unser Reich durch Landgewinn und Plünderung nicht unglaublich profitiert?«
Aldrik schwieg.
Vhalla war müde, mehr als müde, aber entschlossen. »Gib ihnen diesen Reichtum zurück und baue dieses Land wieder auf. Beweise ihnen, dass Solaris, obwohl sie es aus guten Gründen hassen, nicht nur böse ist.«
Aldrik starrte sie an, als sähe er sie zum ersten Mal. Er legte seine Hand an ihre Wange. »Ja. Ja, meine Liebste, das mache ich.«
»Was?« Vhalla hatte nicht erwartet, dass Aldrik ihren Vorschlag so einfach akzeptieren würde.
»Du hast recht. Ich verspreche, es so zu machen.«
»Wirklich?«, fragte sie skeptisch.
»Habe ich dir gegenüber je ein Versprechen gebrochen?« Aldriks Mundwinkel zogen sich nach oben. Vhalla schüttelte den Kopf, während er mit den Daumen ihre Wangen liebkoste. »Und das werde ich auch nie.«
Er zog ihr Gesicht zu sich heran, und Vhalla belohnte ihn mit einem festen, erwartungsvollen Kuss.
»Du wirst diesem Reich die Seele zurückgeben, meine Liebste.« Aldrik drückte seine Stirn gegen ihre. »Ich werde versuchen, diesen Krieg so schnell wie möglich zu beenden, und wenn es so weit ist, werde ich mich für den Norden und sein Volk starkmachen.«
»Danke.« Vhalla schenkte ihm einen weiteren Kuss.
Doch es lag eine gewisse Bitterkeit darin, denn sie wusste nur zu gut, dass dieses Versprechen sie beide keinesfalls von Schuld freisprach. Es war, als ob sie versuchten, sich das Blut an ihren Händen mit Dreck abzuwaschen. Aber sie konnten nichts weiter tun.
Besser als nichts , sagte sie sich. Wenn der Krieg vorbei war, würde sie sich überlegen, wie sie sonst noch helfen konnte. Für den Moment musste Vhalla sich darauf konzentrieren, ihn so schnell und schmerzlos wie möglich zu beenden. »So, jetzt sage ich dir, wo sie ihre Vorräte aufbewahren.«
Die nächste Stunde verbrachte Aldrik über Vhallas Schulter gebeugt, während diese grobe Zeichnungen anfertigte von dem, was sie gesehen hatte. Sie tat ihr Bestes, um alles zu beschriften – von den Verschlägen fürs Vieh bis hin zu den Orten, an denen sich die größte Menge von Zivilisten aufhielt. Schließlich legte sie die Feder zur Seite.
»Da ist noch etwas«, begann sie zögerlich.
»Was?« Aldrik war durch ihren Tonfall schon vorgewarnt.
»Ich bin dort auf einen Westländer gestoßen.«
»Wahrscheinlich ein Kriegsgefangener.« Aldrik legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Wir haben Soricium monatelang ausgekundschaftet, ehe wir einen Weg fanden, die Festung wirkungsvoll zur belagern.«
»Nein, er wurde nicht gegen seinen Willen dort festgehalten.« Vhalla starrte auf das Papier vor sich und spürte, wie Aldriks Griff fester wurde. Er war viel zu klug, um nicht sofort zu begreifen, was sie da sagte. »Er hatte im Namen von Jadars Recken eine Abmachung mit den Nordländern getroffen: dass seine Leute dich und deine Familie töten, wenn der Norden mich ihnen im Gegenzug lebend ausliefert.«
Aldrik wurde einen Moment lang ganz still, dann stürmte er Richtung Tür, wobei kleine Flammen aus seinen geballten Fäusten schossen. Auch Vhalla sprang auf, doch sie musste sich schwankend am Stuhl festhalten, schwindlig vor Erschöpfung. Aldrik erfasste mit einem kurzen Blick, wie schwach sie war. Sofort war er wieder bei ihr.
»Wann hast du das letzte Mal geschlafen?« Er führte Vhalla zum Bett.
»Vorletzte Nacht, ein bisschen«, sagte sie matt. »Und dann gestern mit dir.«
»Du musst dich ausruhen«, flüsterte er dicht an ihren Lippen und besiegelte seine Forderung mit einem Kuss.
»Es ist Abend, ich sollte …«
»Du bleibst ab jetzt hier.« Aldrik schlug die Bettdecke zurück.
»Was?« Allein bei dem Gedanken wurde sie knallrot.
»Ich will dich in meiner Nähe wissen. Es ist zu gefährlich, nun da wir die Abmachung zwischen Jadars Recken und den Nordländern kennen. Was meinen Vater betrifft, so sage ich ihm, dass ich einstweilen bei Baldair übernachte.« Aldrik half ihr ins Bett und breitete die Decke über ihr aus. »Aber ich komme zu dir, sooft du möchtest.«
Vhalla war zu müde, um mit ihm zu diskutieren, und die weichen Kissen hatten eine unwiderstehliche Sogwirkung. Sie umschloss Aldriks Hand ganz fest. »Aber dein Vater«, gab sie zu bedenken.
»Vhalla, ich werde ihn nicht darum bitten, dass du hier im Lagerpalast bleiben kannst. Ich werde es ihm lediglich mitteilen«, sagte Aldrik entschlossen. Dann richtete er sich auf. »Ich komme später wieder, um nach dir zu schauen. Ruh dich jetzt aus. Und falls etwas ist: Ich bin nicht weit weg.«
Vhalla nickte und sah zu, wie Aldrik zur Tür ging. Er wirkte größer und schritt mit einer Selbstsicherheit aus, die ihr fremd vorkam. Sie hatte keine Ahnung, was ihn gerade so veränderte, aber er veränderte sich zweifellos – das merkte sie an seinen Worten.
Er hatte nicht wie ein Prinz gesprochen. Er hatte wie ein Herrscher gesprochen.