ELF
Sobald die Tür aufging, rührte Vhalla sich. Voller Panik fielen ihr die Ereignisse des Tages ein, und augenblicklich sah sie eine Gestalt mit einem Dolch vor sich, die sich auf sie stürzen wollte. Die Muskeln aufs Äußerste angespannt, setzte sie sich im Bett auf: bereit zu kämpfen oder zu fliehen.
Das schwache Mondlicht spiegelte sich in Aldriks Augen, sodass sie im Dunkeln aufblitzten. Er verharrte ganz still, als rechnete er damit, dass Vhalla ihn fortschicken würde. Vhalla atmete auf. Im Schutze der Nacht schlich sich der Kronprinz zu ihr. Es kam ihr wie eine verkehrte Welt vor – war etwa der Tag ein Traum gewesen und dieser Augenblick real?
Die Tür ächzte leise, als Aldrik sie hinter sich zuzog. Langsam ging er quer durchs Zimmer zum Bett. Sie stützte sich auf die Ellbogen, um sich ihm bereitwillig entgegenzustemmen, als sein Mund sich auf ihren senkte.
Die Matratze gab unter seinem Gewicht nach, und indem er ihr seine grenzenlose Bewunderung schenkte, vertrieb der Prinz all ihre Gedanken. Er schmeckte nach Metall und Rauch und süßem Alkohol. Seine Magie floss in seine Küsse und verteilte sich auf ihrem Körper. Vhalla gab alle Kontrolle auf, bog den Kopf zurück und überließ sich ganz dem Prinzen.
Sie genoss das Selbstvertrauen seiner Hände, die sie die Anstrengungen des Tages durch Zärtlichkeiten vergessen ließen. Sie streiften die hässlichen Fetzen ab, die Vhalla umschlossen, sodass ihre nackten Gefühle vor ihm ausgebreitet lagen – die reine Essenz ihres Wesens.
Das Geschick seiner Finger und Hüften raubte ihr binnen weniger Augenblicke den Atem. Nun da Aldriks anfängliche Bedenken, sie zu besitzen, verschwunden waren, brannte ein neues Feuer in ihm. Er bewegte sich ganz gemächlich, erforschte Vhalla, als wäre sie ein Rätsel, das von den Göttern für ihn – und nur für ihn allein – erschaffen worden war.
Mehr noch als ihr körperliches Begehren verlangte auch ihre Magie nach ihm. Verstärkt durch das Band und die Zusammenführung vermengte sich alles zu einem wilden, wunderschönen Durcheinander. Aldrik war nicht länger von Furcht getrieben. Er wehrte ihren Körper oder ihren Verstand nicht mehr ab, und Vhalla erkundete und genoss jeden dunklen, geheimen Winkel in ihm.
Als sich die ersten grauen Sonnenstrahlen ins Zimmer stahlen, hatten sie nur ein paar Stunden geschlafen. Vhalla lag neben dem Prinzen, sein Gesicht war in ihrem Haar vergraben, sein Atem heiß an ihrem Hals. Den einen Arm hatte er um ihren nackten Leib geschlungen, der andere lag unter dem Kissen vergraben.
Müde blinzelte Vhalla in die Morgendämmerung. Das harsche Licht tat ihr in den Augen weh, löschte die fieberheißen Träume der Nacht aus. Sie spürte, wie Aldrik sich regte.
»Geh nicht«, flüsterte sie.
»Es dämmert schon und Vater glaubt, ich sei bei Baldair.« Seine Stimme war rau und träge vom Schlaf.
»Ich werde verrückt, wenn du dieses Bett verlässt.« Vhalla fasste ihn fest bei der Hand.
»Und ich werde vielleicht verrückt, wenn ich bleibe.« Aldrik biss Vhalla sanft in die zarte Haut zwischen Hals und Schulter.
»Das ist nicht möglich …« Vhallas Stimme stockte, als er seine Hüften gegen ihre stieß. »Du bist unersättlich!«
Sie wand sich in seinen Armen, um ihn ansehen zu können. Das Lächeln, das auf seinen Lippen lag, wirkte ein wenig trunken. Aldriks rabenschwarzes, zerstrubbeltes Haar fiel ihm halb über die Schultern, halb ergoss es sich über das Kissen. Vhalla hatte einen Prinzen entdeckt und für sich erobert, den niemand sonst kannte.
»Ich hatte einen wundervollen Traum«, sagte er leise.
»Ach ja?« Vhalla fuhr mit den Fingern durch sein Haar. »Und was kam darin vor?«
»Das Wundervollste, das ich habe.« Der Prinz nahm ihre Hand und hob sie an seine Lippen. »Du.«
Trotz allem, was zwischen ihnen schon gewesen war, konnte er sie noch immer zum Erröten bringen.
»Hast du häufiger solche Träume?«
Aldrik schwieg einen Moment lang. »Tatsächlich ja«, antwortete er zögernd. Dann drückte er seine Lippen auf ihre. »Andererseits ist es vielleicht keine besonders große Überraschung, weil ich nämlich ganz schön verrückt nach dir bin.«
Vhalla grinste und Aldrik küsste ihre Begeisterung hungrig von ihren Lippen. Doch der Moment wurde zerstört, als draußen am anderen Ende des Gangs die Tür zuschlug. Augenblicklich war Vhalla wieder ernüchtert, und Aldrik umfasste sie fester. Diesmal war es eine rein beschützende Geste.
Die Schritte des Kaisers kamen näher, dann bog er Richtung Halle ab.
»Ich sollte jetzt gehen«, flüsterte Aldrik hastig.
Vhalla seufzte und fügte sich. Als er aufstand, beobachtete sie ihn schamlos beim Anziehen.
»Wir sehen uns in Kürze.«
Vhalla blieb liegen und schenkte der aufgehenden Sonne keine Beachtung, obwohl sich das für eine Soldatin nicht gehörte. Erst nachdem sie nicht länger Aldriks Wärme unter der Decke spüren konnte, schälte auch sie sich aus dem Bett. Dann zog sie sich langsam an, froh, dass der Kleiderstapel von ihrer ersten Zeit in Aldriks Zimmer noch da war.
Als sie schließlich in die große Halle trat, war diese fast vollkommen verwaist. Baldair saß allein an einem Tisch und ging ein paar Unterlagen durch. Um ihn herum standen zumeist leer gegessene Teller.
»Du hast das Frühstück verpasst.« Er warf ihr einen kurzen Blick zu.
»Das sehe ich.« Vhalla setzte sich vor einen noch unbenutzten Teller, der wahrscheinlich für sie gedacht war, und tat sich ein bisschen Fleisch und Soße auf.
»Wie immer das reinste Festmahl.« Baldair verdrehte die Augen.
»Darauf wette ich.« Ohne große Umstände riss Vhalla sich ein Stück altes Brot ab. Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, aber es war nicht unangenehm. Vhalla konnte Baldairs Verhalten inzwischen besser deuten. Durch die Zeit, die sie mit seinem Bruder und mit ihm selbst verbracht hatte, wusste sie, wie der jüngere Prinz tickte. »Dann hat er es euch also erzählt?«
Baldair nickte. »Er hat mir und Vater gestern Abend davon berichtet. Stimmt es wirklich, dass eine Gruppe aus dem Westen den Nordländern dabei helfen will, uns zu töten?«
Vhalla runzelte die Stirn. »Glaubst du, ich würde bei so etwas lügen?«
»Na ja, es wäre ein bequemer Weg für dich, jede Nacht in seinem Bett schlafen zu können.«
Jetzt verdrehte Vhalla die Augen. »Wenn wir es wollten, würde ich jede Nacht in seinem Bett verbringen. Ganz ehrlich, ich würde mich lieber heimlich reinschleichen, um mit ihm zusammen zu sein, als mich mit dem Zorn deines Vaters auseinandersetzen zu müssen.«
»Da hast du auch wieder recht.« Baldair lachte. »Aber ich glaube kaum, dass du das als Argument anführen kannst, um meinen Vater von der Wahrheit deiner Behauptung zu überzeugen.«
»Dein Vater hört ohnehin nur auf sich und entscheidet selbst, was er von mir denken möchte.« Vhalla tunkte das Brot in die Soße, in der Hoffnung, dass es dadurch etwas weicher wurde.
»Weißt du, was? Ich habe beschlossen, dass mir diese Seite an dir gefällt.« Baldair betrachtete sie nachdenklich und Vhalla hob fragend die Augenbraue. »Dieses unerschrockene Selbstvertrauen«, erklärte er. »Da sehe ich Züge von Aldrik – bis hin zu dem Punkt, dass ich jetzt schon weiß, wie mir dein Wagemut früher oder später Kopfschmerzen bereiten wird. Allerdings nur, wenn er sich gegen mich richtet. Doch gleichzeitig bist du auch das Gegenteil von Aldrik. Du lebst diese Seite mit sehr viel mehr Temperament aus. Du bist ziemlich willensstark geworden.«
»Ja wirklich?« Vhalla hatte ihre Zweifel.
»Absolut«, verkündete Baldair überzeugt. »Und ich merke, wie lebensfroh mein Bruder geworden ist, was er viele Jahre lang nicht war.«
Sie nutzte die Gelegenheit. »Erzähl mir mehr über dich und deinen Bruder.«
»Was willst du wissen?«
»Was zwischen euch beiden vorgefallen ist.«
Baldair seufzte nur.
»Ihr scheint für dieselbe Sache zu kämpfen – sogar für das Glück des jeweils anderen. Jedenfalls habe ich das so erlebt und es euch auch sagen hören«, bemerkte Vhalla. »Warum verhaltet ihr euch dann, als wärt ihr Feinde?«
»Die Antwort auf diese Frage verbirgt etwas Hässliches, das du vielleicht lieber nicht sehen möchtest.«
Vhalla starrte ihn an. »Glaubst du ernsthaft, irgendetwas könnte das wunderschöne, heile Bild zerstören, das ich von meiner Herrscherfamilie habe?«
Jetzt lachte Baldair. »Warum fragst du nicht Aldrik?«
»Das werde ich später noch.« Sie wollte beide Seiten hören. »Im Moment frage ich dich.«
»Du bist unerträglich.« Er sagt es ohne jede Bösartigkeit.
Vhalla grinste breit. »Das hat man mir schon mal gesagt.«
»Bei der Mutter, ich möchte mir nicht mal im Traum ausmalen, was mein Bruder dir schon alles an den Kopf geworfen hat.« Baldair blinzelte, dann starrte er für einen Moment vor sich hin. »Als wir noch Jungen waren, standen wir uns viel näher.« Der goldene Prinz legt den Kopf in den Nacken. »Ich sah zu ihm auf. Aldrik verkörperte alles, was ich auf der Welt bewundernswert fand. Er besaß magische Fähigkeiten, war stark, freundlich und beherrscht – schon als Junge. Er würde Kaiser werden, und er war mein Bruder.«
Vhalla verhielt sich möglichst still, um Baldair nicht zu unterbrechen.
»Die Diener wurden es nicht müde, uns daran zu erinnern, dass Aldrik sich nicht länger mit mir und unseren Kinderspielen abgeben könnte, sobald er zum Mann reifen würde. Deshalb war mir immer bewusst, dass die Zeit der Trennung kommen würde.« Er holte tief Luft. »Aber es lief nicht so, wie sie es vorhergesagt hatten.«
»Was lief nicht so?«, fragte Vhalla leise. Sie wollte den jüngeren Prinzen nicht aus seiner gedankenverlorenen Rückschau reißen. Abgesehen von kurzen Anekdoten aus dem Mund der beiden Prinzen wusste sie kaum etwas über ihr Verhältnis, und sie ahnte, dass sie jetzt etwas Wichtiges erfahren könnte. Irgendwo in ihrem Hinterkopf meldete sich ein dumpfes Gefühl, das ihr riet, sich gut zu merken, was Baldair gleich sagen würde.
»Ich dachte, es würde so weit sein, wenn Aldrik mit fünfzehn die Volljährigkeit erreichte.« Baldair fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. »Doch es geschah an einem regnerischen Abend, als er noch vierzehn war. Ich weiß nicht einmal genau, was passiert ist, aber mit einem Schlag änderte sich alles. Aldrik schloss sich in seinem Zimmer ein und weigerte sich über Wochen, es zu verlassen. Heiler kamen und gingen mit ernsten Mienen, aber ich fand nie heraus, was ihm fehlte. Die ganze Zeit über verweigerte er jeden Kontakt zu mir. Ganz egal, wie oft ich vor seiner Tür stand und nach ihm rief.« Baldairs Stimme klang bitter. »Als er endlich herauskam, war er nicht länger mein Bruder.«
Seine Worte taten Vhalla in der Seele weh, für beide Brüder. Sie wusste nur allzu genau, was Aldrik damals durchlebt hatte. Aber es war nicht an ihr, es Baldair zu erklären.
»Von da an verbrachte er mehr Zeit im Turm. Er streifte stundenlang durch die Bibliothek, selbst wenn unser Unterricht vorüber war. Er bewegte sich wie etwas Mechanisches, wie eine leere Hülse.« Baldair ballte die Hand zur Faust und schlug damit auf den Tisch.
Vhalla zuckte zusammen, aber der Prinz schien es nicht zu bemerken, denn er fuhr gleich darauf fort: »Da begriff ich, woran es lag: Er war der Kronprinz und ich nur der Ersatz. Ich war nicht gut genug. Ich würde nie gut genug sein. Also verhielt ich mich auch so. Ich begann mich ständig zu prügeln. Ich vergnügte mich mit Frauen, kaum dass ich alt genug dafür war. Und das fühlte sich gut an – tut es noch immer.« Baldair lachte, aber es war ein trauriges, leeres Lachen, ganz ohne die übliche perlende Leichtigkeit. »Warum auch nicht? Niemanden interessierten meine Eskapaden, und das ist bis heute so.« Der goldene Prinz hielt kurz inne. »Ich fing an, Aldrik das ›schwarze Schaf‹ zu nennen. Ich sagte ihm, ein schwarzes Schaf sei ein ungeliebter Mensch. Jemand, mit dem etwas nicht stimmt, der nicht dazugehört – so wie er mit seinen schwarzen Haare, und seiner Magie. Schließlich sah kein anderer in der Familie so aus wie er. Ich glaube, erst danach legte er sich die Gewohnheit zu, ständig Schwarz zu tragen.«
Auf einmal spiegelte sich kindliche Panik in Baldairs Miene. »Du glaubst doch nicht, dass er deswegen … dass er heute immer noch Schwarz trägt, weil … Glaubst du das?«
Vhalla öffnete den Mund, verkniff sich dann aber die Wahrheit. Sie kannte ihren Prinzen gut genug, um keinen Zweifel daran zu hegen, dass Aldriks Kleiderwahl sehr wohl mit seinem Bruder zusammenhing – wenn auch nicht ausschließlich. »Du solltest ihn fragen.«
»Hast du denn nicht zugehört? Hast du es nicht selbst erlebt?« Baldair schüttelte den Kopf. »Wir reden nicht miteinander. Es gibt hier kein gutes Ende, Vhalla. Das ist kein Märchen, in dem die beiden entfremdeten Brüder wieder zusammenkommen, sich entschuldigen und eine neue Beziehung aufbauen.«
»Und warum nicht?«, fragte Vhalla.
Baldair schienen die Worte zu fehlen.
»Warum fängst du kein neues Kapitel an?« Sie lächelte. Die Gefühle, die Hoffnung, die sie im Gesicht des jüngeren Prinzen aufblitzen sah, verrieten ihn. »Aldrik ist vertrauensvoller, als du denkst.«
»Bei dir«, betonte Baldair.
»Dann helfe ich euch.« Eigentlich ging Vhalla das gar nichts an. Die Lebenswege der beiden Prinzen waren festgelegt worden, lange bevor Vhalla ihnen begegnet war. Aber sie war den Brüdern zu sehr zugetan, um nichts zu tun. Ihnen zu helfen, fühlte sich ein wenig an wie Vergebung – fast als könnte sie damit einen kleinen Teil ihrer Seele retten. »Wenn du ernsthaft eine neue Bindung zu ihm aufbauen willst, helfe ich dir.«
»Warum?« Der jüngere Prinz wirkte überwältigt.
»Weil ich ihn liebe.«
Baldair ließ bei diesen Worten keine Überraschung erkennen.
»Weil er nicht so schlau ist, wie er glaubt«, fuhr Vhalla fort. »Nicht wenn es um diese Dinge geht. Und du bist zu hitzköpfig, um es so auszudrücken, wie du es wirklich meinst.«
»Das verletzt mich zutiefst.« Baldair lachte spöttisch.
»Ja, ja.« Vhalla wedelte mit der Gabel durch die Luft und schob sich dann noch einen Bissen in den Mund.
Die Türen am anderen Ende der Halle gingen auf und Aldrik, der Kaiser und eine Gruppe von Heeresführern traten ein, unter ihnen auch Major Schnurr. Vhalla erhob sich angespannt. Als Schnurr sie entdeckte, verzog er höhnisch den Mund, ganz offensichtlich konnte er sie nicht leiden. Vhalla betrachtete ihn mit dem gleichen Argwohn. Ihr fiel wieder ein, dass einer dieser Leute ein Spion sein könnte. Müsste sie wetten, würde sie auf Schnurr setzen.
»Ich freue mich, dass Ihr wach seid, Mylady«, kam Aldrik seinem Vater zuvor. Er strahlte sie an.
»Guten Morgen, mein Prinz.« Vhalla senkte respektvoll den Kopf.
»Die Heeresführer haben ein paar Fragen zu deinen Projektionen, die ich während des Frühstücks nicht beantworten konnte.« Aldrik führte sie zu einem Stehpult und Vhalla erkannte ihre groben Zeichnungen vom Inneren der Festung.
»Ihr habt ihnen gesagt, was ich gesehen habe?«, fragte Vhalla vorsichtig.
»Ja, ich habe die wichtigsten Informationen über das Innere der Festung weitergegeben«, bestätigte er.
Vhalla deutete seine Worte so, dass die Heeresführer noch nichts von der Existenz eines Verräters in ihrer Armee wussten. Was wahrscheinlich auch besser war. Die Heeresführer in Unruhe zu versetzen, würde es nur noch schwerer machen, die betreffende Person – oder die Personen – zu enttarnen. Möglicherweise würden sie sogar ungewollt gewarnt, dass man sie entdeckt hatte.
»Von da nach da …« Erion zeigte von der äußeren zur inneren Wehrmauer. »Wie breit ist der Abstand zwischen beiden Mauern?«
»Ungefähr acht Meter«, erwiderte Vhalla, ohne dem Kaiser Beachtung zu schenken, der sich ans Kopfende des Tisches begeben hatte. Sie war froh, dass Aldrik sich zwischen sie und seinen Vater stellte.
»Und von da nach da?« Craigs goldene Armschiene blitzte auf, als er auf eine der Hütten deutete, in denen Essensvorräte aufbewahrt wurde.
»Fünfzehn Meter vielleicht?«, schätzte Vhalla.
»Dann reichen die Triböcke bis dorthin«, urteilte Craig.
»Ja, das sollten sie«, stimmte Erion zu und beide Männer drehten sich zum Kaiser.
»Vhalla Yarl.« Aldriks Vater sagte ihren Namen, als hätte er Glas zwischen den Zähnen. »Bist du dir sicher, was den Standort der Vorratslager betrifft?«
»Das bin ich«, sagte sie mit fester Stimme.
»Und wie sind sie gebaut?«
»Ganz ähnlich wie bei uns. Aus Zeltplanen, Leder und Holz.« Vhalla umklammerte den Tisch, denn ihr war klar, welche Befehle jetzt folgen würden. Die dunkle Tinte, mit der sie die Zeichnungen angefertigt hatte, besiegelte das Schicksal der Nordländer.
»Es wurde vorgeschlagen, dass wir brennende Trümmer oder totes Vieh über die Wehrmauern schleudern, um ihre Vorratslager zu zerstören oder zu vergiften. Und dann die Belagerung weiterführen und sie aushungern, anstatt einen Generalangriff zu riskieren«, verkündete der Kaiser und bestätigte damit ihre Befürchtungen. »Was hältst du davon?«
Vhalla betrachtete ihn. Welche Antwort erwartete er von ihr? Das hier war ein Spiel, es war alles nur ein Spiel. Sie richtete sich zu ihrer vollen Größe auf.
»Das wird nicht funktionieren«, erklärte sie zum Entsetzen der übrigen Anwesenden kühn. »Wir müssen sie frontal angreifen.«
»Wie bitte?« Der Kaiser war zu verblüfft über ihre Dreistigkeit, um sich eine passende Entgegnung zu überlegen.
Vhalla rief sich in Erinnerung, was sie war. Sie brachte den Tod; sie war die Henkerin des Nordens. Und wenn das Schicksal der Nordländer schon in ihren Händen lag, würde sie die Axt so schnell und schmerzlos wie möglich schwingen.
»Das ist Verrat!«, zischte Major Schnurr. »Stellt Ihr Euch etwa gegen den Willen des Kaisers?«
»Ich setze mich für das ein, was uns zum Sieg führen wird«, gab Vhalla zurück.
»Zum Sieg?« Der Major schnaubte. »Was weiß ein Mädchen wie Ihr schon über Kampf und Sieg?«
Der westländische Heeresführer wusste genau, was er sagen musste, um Vhallas Blut zum Kochen zu bringen. »Ich weiß eine Menge darüber.«
Die anderen am Tisch schwiegen. Keiner wagte es, den heftigen Wortwechsel zu unterbrechen.
»Ihr? Eine Bibliothekselevin von gewöhnlicher Herkunft? Garantiert habt Ihr erst mit fünfzehn schreiben gelernt.« Major Schnurr hatte nicht die Absicht, einzulenken.
»Ich habe mit sechs schreiben gelernt«, warf Vhalla ein, woraufhin nicht wenige der Anwesenden erstaunt die Augenbrauen hoben.
»Unmöglich, Ihr …«
»Major, mit allem gebotenen Respekt, Ihr wisst gar nichts über mich. Das halte ich Euch zugute, Euch allen.« Vhalla musterte die Anwesenden mit erhobenem Kinn. Sie dehnte ihre Wörter bewusst und vermied komplizierte Satzkonstruktionen, wie die Oberklasse sie gern benutzte, zum Beispiel Aldrik und der Kaiser. »Ihr seid im Adelsstand aufgewachsen. Ihr kennt eine Welt, die mir fremd ist. Ihr wisst, welche Gabeln man bei feierlichen Abendessen benutzt, und Ihr zögert nicht in der Schlacht. Ich hingegen wurde in einer Welt groß, die sich keiner von Euch vorstellen kann.«
Vhalla wandte sich wieder direkt an Major Schnurr, konzentrierte all ihren Unmut auf ihn. »Ich bin mit Tausenden Freunden aufgewachsen, die mich Tag für Tag in den Regalen erwarteten. Während Ihr Euch im Bogenschießen oder im Schwertkampf geübt habt, habe ich gelesen. Die kaiserliche Bibliothek ist die Heimat meiner engsten Vertrauten, und ich habe fast zehn Jahre damit verbracht, jeden ihrer Sätze zu studieren. Ich kenne sie alle gut und wenn Ihr aufhört, mich dauernd infrage zu stellen , werde ich so freundlich sein, ihre Geheimnisse mit Euch zu teilen.«
Aus den offenen Mündern um sie herum kam kein Wort und die großen Augen musterten sie gespannt.
Vhalla schluckte schwer. Der Schlafmangel und die Tatsache, dass sie noch immer als das kleine Mädchen betrachtet wurde, das sie schon lange nicht mehr war, erschöpften sie.
»Fahrt fort, Vhalla Yarl, wir möchten hören, was Ihr zu sagen habt«, sagte Major Zerian schließlich stellvertretend für alle anderen.
Vhalla nickte ihm erleichtert zu. Dann holte sie tief Luft und versuchte sich zu beruhigen. Wenn sie zu emotional klang, würde sie keiner ernst nehmen.
»Wir werden sie nicht aushungern. Wir werden sie nicht zur Kapitulation drängen, indem wir ihnen das Leben schwer machen. Das tut unser Heer seit acht Monaten ohne wirklichen Erfolg.« Vhalla zeigte auf die vielen Unterlagen auf dem Tisch. »Für die Clans von Shaldan verkörpert Soricium das Leben.« Sie würde die stolze Geschichte dieses Volkes nicht schmälern, indem sie es einfach nur als der Norden bezeichnete.
»In den Überlieferungen Shaldans gilt Soricium als Ursprung der Welt. Sie halten diese Bäume für den Ur-Wald, der von den alten Göttern selbst geschaffen wurde, zusammen mit den ersten Menschen.« Vhalla durchforstete ihr Hirn nach jedem verstaubten Buch aus den Archiven, das sie darüber gelesen hatte. Sie machte sich auch die Nachforschungen aus jener Nacht zunutze, in der man Aldrik schwer verwundet in den Palast zurückgebracht hatte. In dieser einen Nacht hatte sie mehr über den Norden gelesen als je zuvor. Hoffentlich hatte sie damals nicht nur den Prinzen gerettet, sondern auch genug Wissen zusammengetragen, um zahllose weitere Leben zu retten, indem sie diesen Krieg rasch beendete.
»Der Clan der Anführer, so heißt es, stammt in direkter Linie von diesem ersten Volk am Anfang der Zeiten ab. Die Menschen von Shaldan halten ihre Anführer also für Nachfahren von Göttern. Wenn Ihr also erwartet, dass sie ihr Land, ihre Heimat, ihre Abstammung aufgeben, werdet Ihr unweigerlich scheitern. Soricium ist Shaldan, und der Clan der Anführer ist Soricium. Wenn Ihr das nicht versteht, begreift Ihr auch nicht, weshalb die Clans immer weiter kämpfen, obwohl das Kaiserreich schon so viel von ihrem Land besetzt hat.«
»Was schlägst du also vor?«, fragte Baldair.
Vhalla nickte ihm zu, dankbar, weil er ihr den Rücken stärkte. »Um diesen Krieg zu gewinnen, müssen wir sie zerstören. Wir müssen Soricium dem Erdboden gleichmachen und den Clan der Anführer töten. Sonst werden sie sich immer wieder erheben.«
»Das scheint ein Sieg zu sein, der einigermaßen leicht zu erringen ist«, sagte eine Frau nachdenklich.
»Davon solltet Ihr nicht ausgehen«, widersprach Vhalla. Hatten sie ihr denn nicht zugehört? »Die Nordländer werden Soricium und den Clan der Anführer bis zum letzten Atemzug verteidigen. Wenn wir sie zur Kapitulation bringen wollen, dann wird dies nicht aus Ehrfurcht vor unserer Macht, unserem taktischen Können oder unserer überlegenen militärischen Ausbildung geschehen.«
Vhalla drehte sich zum Kaiser. Ihr Hass floss heiß durch ihre Adern. Sie erkannte genau, was er vorhatte. Er war nicht auf Frieden aus. Sein Ziel war die totale Unterwerfung. Er lechzte nach Macht und dem Besitzrecht, das ihm diese Macht schenkte. In seinen Augen blitzte es gefährlich, aber sie beschloss, die Warnung zu ignorieren.
»Sie werden Euch nur unter einer Bedingung ihre Schwerter zu Füßen legen und vor Euch auf die Knie fallen: um die letzten Überbleibsel ihrer langen Tradition zu retten, um den letzten Baum zu schützen, der nach dem Gemetzel, das wir anrichten werden, noch steht.«
Vhalla hätte sich bremsen müssen, machte aber trotzdem weiter. Der bevorstehende Genozid schuf eine merkwürdige Verbindung zu ihrer eigenen Geschichte. Sie gehörte zu einer Gruppe von Menschen, die zur Knechtschaft gezwungen und wegen ihrer bloßen Existenz verbrannt worden waren. Deshalb verabscheute sie das scheußliche Geschäft, in dem sie bis zum Hals mit drinsteckte.
»Indem wir so agieren – indem wir sie treffen, wenn sie schwach sind, indem wir Menschen vernichten, die keine Bedrohung mehr darstellen –, machen wir ihnen unmissverständlich klar, was das für ein Ungeheuer ist, das auf ihr Land losgelassen wurde. Erst wenn wir ihre Symbole und ihre Kultur zerstören und als blutige Spur auf ihrem geheiligten Boden verteilen, werden sie wahrhaft verzagen. Dann wird der Norden dieses Ungeheuer bereitwillig füttern , um dessen Hunger nach weiteren Eroberungen zu stillen, und Ihr werdet Euren fetten Sieg einfahren.«
Auf Vhallas Worte folgte fassungsloses Schweigen. Alle warteten mit angehaltenem Atem darauf, wie der Kaiser reagieren würde.