DREIZEHN
Vhalla erwachte davon, dass ihr eine Hand sanft über den Rücken rieb. Müde blinzelte sie den Schlaf weg und fragte sich verwirrt, warum die Truhen seitlich neben dem Bett standen und nicht in der Ecke des Zimmers. Dann fiel ihr alles wieder ein.
Sie rollte rasch herum und schaute in Baldairs Augen, der auf der Bettkante saß. Der Prinz schenkte ihr ein müdes Lächeln. Es verriet seine Erschöpfung und seine Enttäuschung, die einem gewissen älteren Bruder galt, da war Vhalla sich sicher.
»Guten Morgen«, sagte er leise.
Wenn er seine Eroberungen morgens immer mit dieser samtigen Stimme anredete, verstand Vhalla nur zu gut, wie er die Frauen dazu bekam, immer wieder zurück in sein Bett zu kriechen.
»Was ist mit Aldrik?«
»Er schläft noch.« Baldair rutschte ein Stück zur Seite, damit Vhalla sich aufsetzen konnte. »Es dämmert gerade erst.«
Da kaum Licht durch die Lamellen der Fensterläden fiel, stimmte es wohl, was Baldair sagte.
»Was ist passiert?«, fragte er leise.
Vhalla konzentrierte sich ganz auf den grauen Morgen. »Mir ist klar geworden, dass ich die Augen davor verschlossen habe. Wie lange geht das schon so mit ihm?«
»Wie lange Aldrik schon dem Alkohol zugetan ist?«, vergewisserte sich Baldair und Vhalla nickte. »Bei der Mutter, kurz nachdem er volljährig geworden ist.«
Vhalla runzelte die Stirn. Seit seinem fünfzehnten Geburtstag?
»Es war immer unterschiedlich stark ausgeprägt«, räumte Baldair ein. »Oft trinkt er nicht mehr als jeder andere. Aber zu gewissen Zeiten …«
»Er darf nicht zum Alkohol greifen, um damit seine Probleme zu lösen«, sagte Vhalla entschieden. Sie hatte nichts gegen das Trinken, auch ab und zu mal ordentlich über die Stränge zu schlagen, sah sie nicht als Schwierigkeit. Doch für Aldrik war das Trinken kein gelegentliches, entspanntes Vergnügen. Er nutzte Alkohol zur Lösung seiner Probleme, und das war gefährlich.
»Er wird nicht einfach so aufhören.« Baldair drückte ihren Arm. »Aldrik weiß nicht, wie er ohne Alkohol klarkommen soll, wenn er mit dem Rücken zur Wand steht. Und es lässt sich auch schwer dagegen argumentieren, denn er funktioniert überraschend gut unter Alkoholeinfluss.«
Vhalla schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, es hat nichts mit Funktionieren zu tun, wenn er glaubt, er könnte schwere Zeiten nur mit Alkohol überstehen.« Sie schwang die Beine aus dem Bett.
»Wo willst du hin?« Baldair selbst rührte sich nicht.
»Zu meinen Freunden.« Vhalla blieb in der Tür stehen. »Wenn Aldrik nach mir fragt, dann sag ihm, dass er mich dieses Mal persönlich holen muss, wenn er mich wiedersehen möchte, und zwar mit einer Entschuldigung und einem neuen Versprechen im Gepäck.«
»Du wirst ihn umbringen, wenn du ihn dazu zwingst, komplett mit dem Trinken aufzuhören«, warnte Baldair sie.
»Er soll wenigstens nicht länger glauben, dass er es braucht. Er hat mich, er hat dich, und er hat Elecia.«
Baldair schien verblüfft zu sein, dass sie ihn mit aufzählte. »Gut möglich, dass Aldrik da anderer Meinung ist.«
Ungläubig starrte Vhalla den jüngeren Prinzen an. Wie konnte man Aldriks Handeln bloß rechtfertigen? »Entweder verpflichtet er sich, das Thema anzugehen, oder wir sind miteinander fertig.«
Und damit war sie zur Tür hinaus, ehe Baldair Gelegenheit hatte, etwas zu diesem überraschenden Ultimatum zu sagen.
In der Halle war niemand und auch im Lager war es noch ruhig. Ohne zu zögern, ging sie zu Fitz’ Zelt und schlüpfte zwischen ihn und Elecia.
»Was zum …«
»Meine Güte, du bist so schreckhaft, Elecia!« Vhalla schüttelte den Kopf.
»Weil ich nicht damit rechne, dass Leute überraschend in mein Bett kriechen!«
»Aber den da hast du in dein Bett gelassen.« Vhalla deutete auf Fitz, der seelenruhig weiterschlief. Vhalla kannte kaum jemanden, der einen derart festen Schlaf hatte. »Und er riecht wie ein verschwitzter Junge.«
Mit einem Seufzer legte Elecia sich wieder hin. »Wo wir gerade von verschwitzten Jungs und geteilten Betten sprechen: Was machst du eigentlich hier?«
»Ich will nicht darüber sprechen.« Vhalla kniff die Augen zusammen und war sehr überrascht, als Elecia dazu nur ein Wort sagte.
»Gut.«
Es gelang Vhalla, noch ein paar Stunden zu schlafen – und zwar sehr viel tiefer als in Baldairs Bett. Elecia war im Schlaf überraschend anschmiegsam und Vhalla nutzte dieses neue Wissen, um die Westländerin unbarmherzig zu necken, unterstützt von Fitz.
Der Morgen ging langsam in den Nachmittag über, während sie alle drei im Zelt blieben. Vhalla rechnete damit, dass irgendwann Jax auftauchen würde, um sie auf Geheiß des Prinzen in den Lagerpalast zu bringen. Doch niemand kam. Ob Baldair ihr Ultimatum an seinen Bruder weitergegeben hatte? Schon der Gedanke an Aldrik frustrierte sie. Um sich abzulenken, begann Vhalla mit Fitz über Magietheorien zu debattieren. Aber es dauerte nicht lange, da drehten sich ihre Gedanken wieder im Kreis.
Irgendwann verabschiedete sich Elecia, um etwas mit den Heilern zu besprechen, Fitz aber blieb bei Vhalla. Er schien erpicht darauf, das Training ausfallen zu lassen.
»Sie ist eine unfassliche Sklaventreiberin«, beschwerte er sich, kaum dass Elecia verschwunden war. »Ich soll pausenlos trainieren.«
»Na ja, wir sind schließlich im Krieg«, zog Vhalla ihn auf.
»In einem Krieg, den du beenden wirst.« Fitz lächelte sie strahlend an.
Vhalla verdrehte die Augen. »Glaubst du das wirklich?«
»Natürlich tue ich das!« Er wirkte geschockt, dass sie etwas anderes denken könnte. »Und ich bin da nicht der Einzige. Gestern Abend hast du ja einen kleinen Vorgeschmack darauf bekommen. Für die Soldatinnen und Soldaten bist du wirklich jemand Besonderes.«
»Aber das bin ich nicht«, sagte Vhalla seufzend, denn sie verspürte einen seltsamen Druck in der Brust. Und sie verkniff sich eine Bemerkung darüber, dass unter ihren Bewunderern ein Spion sein könnte, der sich erfolgreich seiner Enttarnung entzog.
»Du bist großartig.«
Sie schnaubte.
»Doch, bist du!«, beharrte Fitz.
»Du klingst wie mein Vater.« Allein bei dem Gedanken sehnte sich Vhalla plötzlich heftig nach dem Osten. Aber es war eine merkwürdige Art von Nostalgie, denn sie hatte das Gefühl, dass sie vorerst nicht dorthin zurückgehen könnte. Sie hatte sich zu sehr verändert; sie würde dort nicht länger hingehören.
»Dann ist dein Vater ein Genie«, sagte Fitz.
»Er würde sagen, dass meine Mutter die Kluge gewesen ist.« Vhalla legte ihren Kopf auf den Arm.
Fitz rollte sich auf den Bauch und stemmte sich auf die Ellbogen. »Du sprichst nie von ihr.«
»Es gibt nichts zu sagen.«
»Das kann nicht stimmen«, bohrte Fitz nach.
»Sie starb am Herbstfieber, als ich noch ein Kind war.« Das hatte Vhalla ihm zuvor schon erzählt. »Sie konnte im sandigsten Boden im trockensten aller Jahre eine Pflanze ziehen. Sie hatte muskulöse Beine, mit denen sie gern zu mir nach oben kletterte, wenn ich in unserem Baum oder auf dem Dach hockte. Sie hatte eine wunderbare Singstimme.« Vhalla seufzte liebevoll.
»Singst du auch?«, fragte Fitz neugierig.
Vhalla schüttelte den Kopf. »Ich habe die Stimme meines Vaters geerbt, nicht ihre.«
»Sing etwas für mich.«
»Nein.« Vhalla lachte. »Das willst du nicht hören.«
»Bitte!« Fitz sah sie mit großen Augen an.
Schließlich gab Vhalla nach und stimmte das Gutenachtlied an, das ihre Mutter ihr jeden Abend vorgesungen hatte. Die Melodie war getragen und tief. Das Lied erzählte von einer Vogelmutter, die ihre Küken im Nest festhielt, indem sie ihnen die Federn ausrupfte, damit sie nicht wegfliegen konnten. Vhalla war noch nicht mal bei der Strophe angekommen, in der die Vogeljungen anfingen, die Pelze anderer Tiere zu tragen, als Fitz schon zu lachen anfing.
»Tut mir leid«, japste er. »Du hast recht, das klingt furchtbar.«
Vhalla zuckte mit den Schultern. »Hab ich dir doch gesagt. Ihre schöne Singstimme hat meine Mutter für sich behalten, aber meinen Verstand habe ich von ihr. Sie hat mir auch das Lesen beigebracht.«
»Wie hat sie es gelernt?«, wollte Fitz wissen. Für Menschen von niedriger Herkunft war es nicht üblich, lesen und schreiben zu können.
»Ihre Eltern arbeiteten in der Poststelle von Hastan.«
»Hast du sie gekannt?«
Vhalla schüttelte den Kopf. »Sie billigten die Heirat mit meinem Vater nicht. Sie hatten darauf gehofft, dass meine Mutter aufgrund ihrer Bildung eine bessere Partie machen würde als einen Bauern.«
Vhalla fragte sich, ob ihre Großeltern noch am Leben waren. Und falls ja, was sie wohl davon halten würden, dass sie mit dem Kronprinzen zusammen war. Der Gedanke schmerzte sie.
Wie aufs Stichwort ging die Zeltklappe auf und Jax streckte grinsend seinen Kopf herein. »Ich habe dir doch gesagt, sie ist hier.«
Als sich ein bekümmert dreinschauender Baldair neben ihn vor den Zelteingang kniete, setzte Vhalla sich auf, und Fitz tat es ihr nach.
»Er hat den Verstand verloren«, sagte Baldair leise.
»Was ist passiert?« Vhalla krabbelte aus dem Zelt. Trotz aller Enttäuschung wollte sie Aldrik natürlich sofort zu Hilfe eilen.
»Ich bin in sein Zimmer gegangen, um nach ihm zu sehen. Doch er war weg und überall lagen zerschlagene Flaschen.« Baldair presste sich die Hand gegen die Stirn.
»Alkohol?«, fragte Vhalla leise.
Er nickte.
»Jetzt hilft er beim Training der Schwarzen Legion«, warf Jax ein.
»Was er seit Jahren nicht mehr gemacht hat.« Baldair fing Vhallas verwirrten Blick auf.
Ihr Herz klopfte wie verrückt. Sie musste es – musste ihn – mit eigenen Augen sehen, um es zu glauben. »Bringt mich zu ihm.«
Jax und Baldair führten sie zu einem der vielen Trainingsareale der Schwarzen Legion. Feuerzähmer schleuderten sich gegenseitig Flammenzungen entgegen, teilten mit brennenden Fäusten und Füßen Schläge und Tritte aus. Aldrik lief zwischen ihnen umher. Das Feuer spiegelte sich funkelnd in seiner Rüstung.
Vhalla sah die Tränensäcke unter seinen müden Augen, obwohl sie die Einzige zu sein schien, die das bemerkte, denn die übrigen Magierinnen und Magier begegneten ihm mit verhaltener Bewunderung. Vhalla fiel wieder ein, wie Majorin Reale erzählt hatte, die Mitglieder der Schwarzen Legion seien quasi zusammen mit Aldrik aufgewachsen.
Er gab sich Mühe, wie Vhalla begriff, und zwar gleich in mehrfacher Hinsicht. Aldrik gab sich Mühe, ein besserer Mensch und ein wahrer Prinz zu sein, für seine Gefährten und – wenn Vhalla es sich erlaubte, daran zu glauben – vor allem auch für sie selbst. Er strengte sich wirklich an, für sie alle.
»Denkt dran, ein Feuerzähmer geht immer in die Offensive.« Aldrik hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt. »Unsere Fähigkeiten sind am besten für gnadenlose Angriffe geeignet.«
Die Soldatinnen und Soldaten nickten und setzten ihr Training fort.
»Sofern ihr magisch überlegen seid, könnt ihr euch durch die Panzerhaut eines Erdgebieters brennen oder die Flammen eines anderen Feuerzähmers unter eure Kontrolle bringen. Falls nicht, dann müsst ihr auf die Augen zielen, wie es unberufene Kämpfer tun. Das Eis eines Wasserwandlers stellt auch keine besondere Bedrohung dar, es sei denn, er wäre außergewöhnlich stark.«
»Und was ist mit Windläufern?«, rief Vhalla über den Platz.
Alle hielten inne und schauten zu ihr, wie sie da neben dem obersten Anführer der Schwarzen Legion und dem jüngeren Prinzen stand. Auch Aldrik drehte sich mit unglücklichem, unsicherem Blick zu ihr. Vhalla schluckte und setzte ein wissendes Lächeln auf.
»Das, Lady Yarl, ist nur selten ein Problem«, sagte der Kronprinz schließlich vorsichtig. »Es gibt ja nicht mehr allzu viele Windläufer.«
»Klingt, als wolltet Ihr mit blumigen Worten verschleiern, dass Ihr es nicht wisst, mein Prinz«, erwiderte Vhalla dreist.
Erschrocken wandten sich alle Blicke Aldrik zu. Mit angehaltenem Atem warteten die Anwesenden auf die gewöhnlich recht unbeherrschte Reaktion des Prinzen. Doch der hatte nur Augen für die Windläuferin, die jetzt auf ihn zukam.
»Dann sollten wir es vielleicht herausfinden?«, sagte Aldrik grinsend.
»Rein aus wissenschaftlicher Neugier müssen wir das wohl«, antwortete Vhalla kokett.
Binnen Sekunden bildete sich ein Kreis um sie und Aldrik. Jax würde das Zeichen geben. Vhalla nahm ihre Kampfposition ein, zum ersten Mal mit Aldrik als Gegner. Seine Magie strahlte in warmen Wellen von ihm ab, sie pulsierte kaum merklich, wenn er sie lenkte, Änderungen vornahm oder sie nachschärfte, genau wie ein Schwertkämpfer seine Waffe mit einem Wetzstein bearbeitete.
Vhalla ballte die Fäuste und Jax gab das Signal. Sie umkreisten einander und ihrer beider Magie erhellte die improvisierte Kampfarena. Aldriks Flammen tanzten in der Brise ihres Windes. Vhallas Bewegungen waren flink und gewandt, denn sie trug nur ihr Kettenhemd, während Aldrik in seiner schweren Rüstung steckte.
Der Prinz wich ein Stück zurück und erschuf eine Wand aus Flammen. Ein unerschrockenes, potenziell gefährliches Manöver – wenn sein Feuer ihr etwas hätte anhaben können, wenn sie nicht so schnell wie der Wind gewesen wäre. Mit einer Handbewegung versuchte Vhalla, Aldrik von den Beinen zu holen. Doch der Prinz verlagerte das Gewicht immer wieder von einem Fuß auf den andern und hielt so geschickt die Balance. Vhalla lachte hell auf, und er schmunzelte über ihre Begeisterung.
Dadurch, dass Vhalla Aldriks Herzschlag wie einen Taktgeber spürte, waren sie sich ebenbürtig. Seine Kampfkünste übertrugen sich auf sie und verbanden sich mit ihren eigenen Fähigkeiten, die sie durch monatelanges Training hinzugewonnen hatte. Weder Vhalla noch Aldrik nahmen das Staunen der umstehenden Magierinnen und Magier wahr. Staunen darüber, dass die Windläuferin tatsächlich mit dem größten Magier des Reiches mithalten konnte. Dass sie ihn genauso oft ausmanövrieren konnte wie er sie und dass der Prinz darüber amüsiert – ja sogar erfreut – zu sein schien und keineswegs frustriert.
Schließlich erreichte Vhalla dann doch das Ende ihrer Kräfte. Sie hätte nicht sagen können, wie lange sie schon miteinander kämpften, aber sie hatte ihre Grenze einige Windstöße zuvor erreicht und hob jetzt eine Hand, um zu signalisieren, dass sie aufgab. Mit der anderen Hand umfasste sie keuchend ihr Knie, versuchte wieder zu Atem zu kommen und das wilde Pochen ihres Herzens zu beruhigen.
Keiner sagte ein Wort, als Aldrik auf sie zuging.
»Lady Yarl.« Er verschränkte die Arme vor der Brust. Seine Augen funkelten vor Begeisterung.
Vhalla grinste. »Mein Prinz?«
»Ich weiß nicht, ob dieser Kampf uns wirklich eine Erkenntnis gebracht hat.«
»Vielleicht müssen wir das Ganze wiederholen?«, sagte sie.
»Ihr seid sehr fordernd.« Sein prinzlicher Ton überlagerte seinen neckischen Spott.
»Bitte vergebt mir.« Mit einem Lächeln richtete Vhalla sich auf. Sie verstand nur zu gut, was er ihr sagen wollte, und wusste ganz genau, auf welche Weise sie ihn herausforderte. »Mir könnte es aber gefallen.«
Der Kronprinz schnaubte belustigt und wandte sich dann an die umstehenden Magierinnen und Magier. »Ich erwarte, dass ihr bei meinem nächsten Besuch so gut kämpft wie Lady Yarl. Also trainiert ordentlich!« Er drehte sich wieder zu ihr. »Ich sterbe vor Hunger.«
»Ich auch«, stimmte sie zu und ließ sich von Aldrik zurück zum Lagerpalast führen – mit Jax und einem völlig perplexen Baldair im Schlepptau.
»Euch beiden beim Kämpfen zuzusehen, ist wirklich eine Freude«, sagte er leicht stockend.
»Wahrscheinlich haben sie fantastischen Sex«, warf Jax ein.
»Jax!« Baldair stöhnte.
Vhalla spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss. Auf einmal juckte es sie in den Fingern, nach Aldriks Hand zu fassen.
Der Kronprinz hüstelte verlegen.
»Lady Yarl!«, rief da plötzlich eine Stimme.
Vhalla drehte sich um und sah Timanthia auf sich zulaufen. Sie kam aus Richtung der Zeltstadt.
Aldrik sog scharf den Atem ein.
»Mein Prinz.« Thia blieb abrupt stehen und verbeugte sich unbeholfen. Dann schaute sie wieder zu Vhalla. »Ich habe nach Euch gesucht.«
»Ja?« Vhalla musste an den zerfetzten Umhang denken, den die Frau ihr zurückgegeben hatte.
»Seit ich Euch gesehen habe, bei Eurer Vorführung …« Thia strich sich ein paar Strähnen ihres dunkelblonden Haars aus den Augen. »Ich kann mir nicht erklären, was mit Eurem Umhang geschehen ist. Als wir in Soricium angekommen sind und ich ihn zusammengerollt habe, war er noch unversehrt.«
»Ich verstehe.« Vhalla überlegte, ob sie ihr glauben sollte.
»Aber es war so unglaublich, was Ihr getan habt: dass Ihr diesen riesigen Kampfturm versetzt habt. Meine Freunde haben mich mit Fragen bestürmt. Sie wollten mehr über Eure Magie wissen, sie wollten wissen, wie es ist, Ihr zu sein.«
Thia zog ein dunkles Stück Stoff aus der Tasche. Darauf prangte in dicker weißer Paste ein Emblem – der etwas ungelenke Versuch, den silbernen Flügel nachzuahmen, der den ursprünglichen Umhang der falschen Windläuferinnen zierte.
Vhalla starrte sie verwirrt an.
»Wir haben angefangen, solche Flügel auf Tücher zu malen, meine Freunde und ich.« Thia ließ das Stück Stoff durch ihre Hände gleiten.
Jax und Baldair kamen einen Schritt näher. Selbst Aldrik beugte sich vor.
»Ich weiß, es ist nicht sehr gut. Wir haben nur das Zeug, das sie auf die Zeltbahnen schmieren, um sie wasserdicht zu machen. Hier gibt es keine richtige Farbe.«
»Warum macht ihr das?«, fragte Vhalla verblüfft.
»Nun«, murmelte Thia, »wir glauben, dass das Symbol Glück bringt. Ihr habt so vieles überlebt: die Nacht des Feuers und des Windes, den Sandsturm, den Anschlag in Estrela, Euren Ritt durch den Norden. Ich will Euch ja nicht kränken: Aber es gibt keine rationale Erklärung, warum eine Bibliothekselevin das alles überlebt hat.« Erschrocken schlug Thia sich die Hand vor den Mund. »Oh, das hätte ich nicht sagen sollen.«
Vhalla lachte. »Nein, du hast schon recht.«
»Jedenfalls, wir haben das Gefühl, dass ein Segen auf dem Wind der Windläuferin liegt, und dass uns das in den bevorstehenden Schlachten schützen wird.« Unsicher schaute Thia auf das Stück Stoff in ihren Händen.
»Ich glaube nicht …«
Aldrik schnitt Vhalla das Wort ab. »Ihr dürft es tragen«, sagte er zu Thia.
Überrascht schaute Vhalla zu ihrem Prinzen.
»Wirklich?« Auch die Bogenschützin starrte Aldrik an.
»Ich habe den Umhang gestaltet, daher sollte ich wohl auch die Erlaubnis dazu geben«, sagte er gleichmütig und wandte den Blick ab.
Vhalla konnte es nicht fassen, dass er so etwas offen zugab. »Dann geht es wohl in Ordnung«, sagte sie lächelnd.
»Danke.« Thia strahlte. Gleich darauf besann sie sich. »Sicherlich habt Ihr viel zu tun. Ich sollte Euch nicht länger aufhalten.«
Sobald sie außer Sichtweite war, verschwand das Lächeln von Vhallas Gesicht. »Es wird sie nicht schützen«, sagte sie leise.
»Genauso wenig wie die Gebete zur Mutter«, erwiderte Aldrik. »Würdest du ihnen also auch sagen, sie bräuchten nicht zu beten?«
Vhalla blinzelte. Für einen Kronprinzen war das eine seltsame Aussage über die Religion seines Reiches. »Nein, aber …«
»Soldatinnen und Soldaten brauchen Hoffnung, Vhalla, aber die gibt es kaum«, erklärte Baldair jetzt. »Sie brauchen Mut, Motivation, den Glauben an eine höhere Macht – irgendeine höhere Macht. Und für diesen Glauben brauchen sie Symbole.«
Vhalla nickte langsam und dachte über die Worte des jüngeren Prinzen nach. Baldair hatte etwas erkannt, das sie noch nicht sehen konnte.
»Das Wissen, dass du anderen Mut machst und sie inspirierst, freut mich sehr«, sagte Aldrik mit gedämpfter Stimme zu Vhalla. »Mein Verhalten gestern Abend tut mir leid. Und das andere auch, du weißt schon …« Seine sonst so eleganten Worte schienen ihm plötzlich abhandengekommen zu sein. Er schwieg eine ganze Weile, und auch Vhalla sagte kein Wort. Dann: »Du hattest … du hast recht. Und ich verspreche, wenn du mich immer noch willst, werde ich daran arbeiten, nicht mehr ständig danach zu greifen.«
»Natürlich will ich dich noch.« Es war viel leichter, Aldrik zu vergeben, als wütend auf ihn zu sein. Mit ihm zu streiten, egal wie gerechtfertigt, war kein natürlicher Zustand für sie beide. Es fühlte sich an, als wäre Vhallas linke Hand im Zwist mit ihrer rechten. Beide waren ein Teil von ihr. »Aber ich erwarte, dass wir noch mal darüber sprechen.«
Aldrik versteifte sich sichtlich.
»Irgendwann, wenn du bereit dazu bist«, lenkte Vhalla mit einem sanften Lächeln ein. Es war zwecklos, ihn jetzt noch weiter zu bedrängen. Das Trinken war ein Problem, das sich nur Schritt für Schritt lösen ließ – mit viel Zeit und viel Geduld. Es hier an der Front anzugehen, war nicht ideal.
Aldrik sah sie zutiefst dankbar an, und Vhalla schaffte es kaum, nicht nach seiner Hand zu greifen. Stattdessen ging sie unangemessen dicht neben ihm her. Fast bei jedem Schritt streifte sie ihn. Aldrik geizte nicht mit seinem Lächeln und Vhalla strahlte von einem Ohr zum anderen. Sie waren beide so erleichtert, dass ihnen die verblüfften Blicke auf dem Weg zum Lagerpalast gar nicht auffielen.
Die nächsten beiden Tage verbrachten sie in relativer Ruhe. An den Vormittagen waren sie mit Baldair, Raylynn, Jax und Elecia zusammen. Und am zweiten Morgen wagte diese es sogar, Fitz mit in den Lagerpalast zu bringen, der durch seinen beharrlichen und aufgeschlossenen Charakter schnell Kontakt zu dem zusammengewürfelten Haufen von Adligen und Heeresführern knüpfte.
Die Nachmittage verbrachte Vhalla in Projektion in Soricium, wo sich aber kaum etwas tat. Davon abgesehen schritten die Vorbereitungen für den Angriff wie geplant voran. Schon in wenigen Wochen würden sie zuschlagen. Die Armee war in annähernd perfekter Form.
Vier Tage später entdeckte Vhalla die Anführerin der Nordländer auf der Aussichtsplattform der Frauen, wie Vhalla sie benannt hatte – zusammen mit dem Mädchen, der Bogenschützin und dem Westländer.
»Sie wollen Soricium angreifen«, berichtete der Mann.
Wenn sie doch bloß herausfinden könnte, woher er seine Informationen hatte. Allmählich akzeptierten sie fast zu bereitwillig einen Verräter in ihrer Mitte.
»Die Windläuferin ist eine Spionin, sie könnte jetzt gerade auch hier sein.«
Vhalla verspürte eine düstere Freude darüber, dass die Worte des Mannes wahr waren.
»Das ist die tückische Magie, vor der ich Euch gewarnt habe«, fuhr er fort.
»Das alles spielt keine Rolle.« Die Anführerin strich mit den Fingern über das geschnitzte Holz des Alkovens. »Wir werden uns schon bald ihrem Zugriff entziehen.«
»Wie das? Ihr könnt dem Wind nicht entkommen.« Der Westländer kniff die Augen zusammen.
Nie hätte Vhalla gedacht, dass sie mit einem von Jadars Recken einer Meinung sein könnte, aber der Mann hatte recht.
»Der Clan der Anführer wird leben. Wir nehmen unser Wissen mit und die Samen unserer Bäume und fliehen aus Soricium.« Das junge Mädchen und Za, die links und rechts von der Anführerin standen, verzogen bei ihren Worten das Gesicht.
»Glaubt Ihr wirklich, dass Solaris’ Armee Euch einfach ziehen lassen wird?«, fragte der Mann.
»Sie werden keine andere Wahl haben. Die Macht des Nordens wird sie überwältigen, uns befreien und uns an einen Ort bringen, wo wir herrschen und den Sonnen-Kaiser aus unserem Land vertreiben können.«
»Unmöglich«, schnaubte der westländische Krieger. »Ihr könntet einen solchen Überfall unmöglich durchführen.«
»Ihr Südländer und euer beschränkter Verstand. Es muss sehr schmerzlich sein, so von den alten Kräften abgeschnitten zu sein.« Die Anführerin hob die Hand, holte aus und schlug gegen das geschnitzte Holz.
Der Alkoven begann magisch zu leuchten. Das ganze Holz glomm schwach auf, dann wirkte es wieder vollkommen normal. Ansonsten veränderte sich nichts.
Der Westländer schien von dieser Vorführung einigermaßen beeindruckt zu sein. »Wann gehen wir fort?«
»Wir?« Die Nordländerin hob die Augenbrauen. »Ich habe nie von wir gesprochen.«
Za zog einen Pfeil aus dem Köcher.
»Nein, Ihr braucht uns noch immer.« Nervös wich der Mann einen Schritt zurück.
»Wir haben euch nie gebraucht, und selbst der geringe Nutzen, den ihr uns bisher gebracht habt, hat sich jetzt erledigt.« Wieder liebkoste die Anführerin das Holz hinter sich, und es erstrahlte unter ihren Fingern.
»Wir können Euch helfen. Jadars Recken sind die Verbündeten von …«
Noch während er sprach, flog ihm ein Pfeil in den Mund und trat an seinem Nacken wieder aus. Der Mann fiel auf die Knie und griff sich an den Hals.
»Wir brauchen euch nicht«, stellte die Anführerin klar. »Noch sieben Mal wird die Sonne herabsinken, dann wird ihre Armee die Macht meines Volkes kennenlernen, und wir werden frei sein, um den Kampf zu einem anderen Zeitpunkt fortzusetzen.«
Vhalla kehrte in ihren Körper zurück, als Za einen weiteren Pfeil einspannte.
»Ruf sofort die Heeresführer zusammen.« Sie setzte sich aufrecht hin. »Und lass auch deinen Vater holen«, fügte sie widerwillig hinzu.
»Was ist los?« Aldrik erhob sich vom Schreibtisch, an dem er gearbeitet hatte. Flaschen oder Becher standen nicht dort.
»Die Zeit drängt.« Erschöpft von der Projektion stand Vhalla auf. Was bedeutete diese neue Entwicklung für die Pläne des Reiches? Sie vermutete stark, dass sie in den nächsten Tagen wenig Ruhe bekommen würde. »Ich erzähle es allen gemeinsam. Wir vergeuden nur Kraft und Zeit, wenn wir die Informationen einzeln übermitteln.«
»So eilig ist es also?« Aldrik klang bedrückt.
Vhalla nickte ernst.
Während sich die Heeresführer am zentralen Tisch der Halle versammelten, wartete sie zu Aldriks Rechter. Die meisten sahen ein wenig verwirrt aus, blickten aber dennoch gespannt zum Kronprinzen. Wenig später kam auch der Kaiser herein. Sobald er Vhalla sah, setzte er seine übliche verdrossene Miene auf.
»Warum hast du eine Versammlung einberufen?«, fragte er seinen Sohn.
»Vhalla hat etwas zu berichten.«
»Und das wäre?« Der Kaiser klang wenig begeistert.
»Ich kenne auch noch keine Einzelheiten«, gab Aldrik zu.
In diesem Moment wurde Vhalla klar, welche Freiheiten sie im Umgang mit Aldrik inzwischen genoss. Sie hatte den Kronprinzen dazu gebracht, allein auf ihren Wunsch hin ein Treffen einzuberufen. Dank seiner Macht hatten sich alle ihrem Willen beugen müssen.
»Vhalla Yarl …«, fing der Kaiser an, wurde aber von Baldair und seiner Goldenen Garde unterbrochen, die gerade die Halle betraten.
»Was steckt hinter dieser eiligen Zusammenkunft?«, fragte auch Baldair seinen Bruder, sobald er an den Tisch getreten war.
»Aldrik scheint es selbst nicht genau zu wissen«, sagte der Kaiser kalt. »Ich hoffe, es ist wirklich wichtig, Yarl. Wir sind alle viel zu beschäftigt, um deine Spielchen mitzumachen.« Vhalla spürte die Drohung hinter seinen Worten.
»Das ist kein Spiel«, sagte sie mit fester Stimme.
Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um einzuknicken oder Schwäche zu zeigen, ermahnte sie sich. Sie hatte dem Kaiser auch zuvor schon die Stirn geboten, und sie konnte es wieder tun. »Die Nordländer planen einen Angriff.«
»Was?«, riefen alle durcheinander.
»Das ist absurd«, schnaubte Major Schnurr.
»Ich habe es mit eigenen Ohren gehört. ›Noch sieben Mal wird die Sonne herabsinken‹, hat die Anführerin von Shaldan gesagt«, berichtete Vhalla.
Der Kaiser machte eine wegwerfende Handbewegung. »Herrscher belügen ihr Volk andauernd.«
»Ach, tun sie das?«, Vhalla nutzte die Gelegenheit für eine Spitze, und der Kaiser blickte sie geschockt und wütend an. Ehe er sich revanchieren konnte, fuhr Vhalla schon fort. »Die Anführerin hat gar nicht zu ihrem Volk gesprochen. Sie hat mit einem Westländer geredet, der im Namen von Jadars Recken gemeinsame Sache mit den Nordländern gemacht hat.«
Unsichere Blicke und Getuschel am ganzen Tisch. Die Heeresführer wussten noch immer nichts von dem Spion. Jetzt schien es sinnlos, es noch länger geheim zu halten. Und zudem hatte ihnen die Geheimniskrämerei nicht gerade viel gebracht.
»Lügen! Lügen und Verleumdungen sind alles, was man von der Windläuferin erwarten kann.« Major Schnurr schlug mit der Faust auf die Tischplatte.
»Major Schnurr«, sagte Aldrik fast schmeichlerisch und trat näher an Vhalla heran. Mit den Fingerspitzen strich er ihr über den Rücken. »An Eurer Stelle würde ich sehr vorsichtig mit Euren nächsten Worten sein.«
»In der Festung war ein Recke von Jadar, der sich mit den Nordländern verschworen hat?«, fragte Erion quer über den Tisch hinweg und runzelte die Stirn.
Vhalla nickte ernst.
»Ich muss sofort meinen Vater benachrichtigen«, murmelte Erion.
»Kann ich meinem Onkel sagen, dass die Le’Dans angesichts dieser Bedrohung an unserer Seite stehen?«, fragte Aldrik.
»Die Le’Dans sind Freunde der Windläuferin.« Erion nickte erst dem Prinzen und dann Vhalla zu.
Diese merkte, wie Major Schnurr am anderen Ende des Tisches ganz still wurde.
»Wie wollen sie einen solchen Angriff denn überhaupt ausführen?«, fragte Raylynn.
»Mithilfe von Magie.« Vhalla zuckte mit den Schultern. »Einer Magie, die ich nicht kenne. Irgendetwas mit den Bäumen.«
»Seid Ihr sicher?«, fragte sie ein anderer Heeresführer.
»Das bin ich.« Vhalla nickte.
»Aber wenn Ihr nichts Genaues über ihre Magie wisst …«
»Was ich weiß, ist dies.« Vhalla legte die Hände flach auf den Tisch und beugte sich vor. »Sie bekommen Informationen aus unserem Lager. Uns erwartet ein Angriff von einem solchen Ausmaß, dass die nordländische Anführerin damit rechnet, unsere Armee damit bezwingen zu können. Ihr Volk sitzt in der Falle und droht zu verhungern. Das ist ein Akt der Verzweiflung. Der Anführer-Clan will diesen Angriff nutzen, um zu entkommen, um den Norden am Leben zu halten.« Vhalla schluckte angestrengt. Dankbar, aber mit einer gewissen Überraschung stellte sie fest, dass ihre Arme nicht zu zittern begonnen hatten. »Das bedeutet: Wir können jetzt darüber diskutieren, ob mir zu trauen ist, oder wir reden darüber, was wir jetzt tun wollen.«
Stumm vor Verblüffung sahen die Anwesenden sie an. Auf einmal begann der alte Major Zerian zu lachen.
»Es ist ein trauriger Tag, wenn eine Bibliothekselevin die größten Militärstrategen auf ihren Platz verweist.« Er grinste sie an, seine Augen blitzten. »Andererseits wissen wir schon längst, dass Ihr nicht einfach irgendeine Bibliothekselevin seid. Fahrt fort, Lady Yarl.«
Vhalla sah genau, wie entsetzt Kaiser Solaris war, weil der Major ihren Ehrentitel nutzte. Entschlossen nickte sie.
»Wir sollten die Festung stürmen, bevor diese sieben Tage um sind. Wir haben dafür trainiert, das Heer steht bereit und auch ich kann die Attacke anführen.« Sie warf einen Blick in die Runde. Hatte sie das gerade wirklich gesagt? »Der westländische Spion hat unsere Angriffspläne verraten, aber wir haben den Vorteil noch immer auf unserer Seite. Wir können ihre Anführer dem Schwert überantworten und ihren heiligen Wald niederbrennen.« Vhalla wartete darauf, dass sich ein Gefühl des Entsetzens in ihr breitmachte. Aber sie hatte sich so oft eingeredet, dass es getan werden musste und es keinen anderen Weg gab, dass sie es inzwischen tatsächlich glaubte.
»Wir wissen nicht, wie ihr Angriff vonstattengehen soll, aber es wird ihre Moral untergraben, wenn ihr heiliger Wald in Flammen aufgeht.« Ein paar Anführer nickten bestätigend. »Außerdem«, fuhr sie fort, »wird es die Moral unserer Soldatinnen und Soldaten heben, und wir werden mit einem siegreichen Gefühl in die nachfolgende Schlacht ziehen. Deshalb …«
»Das reicht jetzt!«, brüllte sie der Kaiser nieder, und alle am Tisch zuckten erschrocken zusammen.
Vhalla richtete sich auf und schürzte die Lippen. Ihre Gefühle schwankten zwischen Hass, Wut und Angst.
»Habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt? Du bist nicht hier, um über Strategien zu sprechen. Du bist hier, um mir den Sieg zu bringen. Nur deshalb habe ich dich am Leben gelassen.«
Bei den Worten des Kaisers tauschten einige der Heeresführer überraschte Blicke. Aldrik drehte sich zu seinem Vater.
»Wir werden Soricium nicht voreilig angreifen«, verkündete der Kaiser, ehe irgendjemand etwas sagen konnte.
»Aber Eure Majestät.« Major Zerian war der Unerschrockenste in der Runde. Aldrik wirkte zu geschockt über die Entscheidung seines Vaters, um zu reagieren. »Wir trainieren seit Wochen , und das ist die günstigste Gelegenheit.«
»Wir werden ihrem Angriff standhalten und die Belagerung fortsetzen, bis ich etwas anderes beschließe«, sagte der Kaiser eisern.
Mit dumpfem Entsetzen blickte Vhalla vor sich hin. Er entschied gegen jede Logik, nur um sich ihr entgegenzustellen? Sie schwankte vor Verachtung. Dieser Mann scherte sich nicht um sein Volk, um das Leid von anderen. Ihn interessierte nur seine Idee von Macht.
»Ich plädiere für Vhallas Vorschlag.« Aldrik hatte sich endlich aus seiner Erstarrung gelöst.
Der Kopf des Kaisers fuhr herum.
»Ich ebenfalls«, schloss Daniel sich an.
Vhalla war entsetzt und gleichzeitig beeindruckt von seiner Kühnheit.
»Auch ich unterstütze Lady Yarl.« Erion stellte sich neben seinen Kameraden aus der Goldenen Garde.
»Sie ist keine Lady!« Dem Kaiser schien es endgültig zu reichen.
»Im Westen ist sie das sehr wohl«, sagte Erion ruhig. »Wollt Ihr damit etwa andeuten, dass die Traditionen des Westens keine Rolle spielen, Eure Hoheit?« Seine Worte hatten einen gefährlichen Beiklang.
Kaiser Solaris schüttelte vehement den Kopf. »So etwas würde ich nie sagen.« Offensichtlich wollte er die Westländer, mit deren Hilfe er diesen Krieg gewinnen wollte, nicht vergrätzen.
»Wie ich bereits gesagt habe«, fuhr Erion fort, »die Le’Dans unterstützen die Windläuferin. Ich fühle mich geehrt, dass sie in meinem Land eine Lady ist.« Es klang fast wie ein Dekret.
Einige Heeresführer nickten, darunter sogar ein oder zwei Südländer. Was den Kaiser in dieser Angelegenheit nur noch sturer machte.
»Ich denke, deine Heeresführer haben gesprochen, Vater«, sagte Aldrik und warf dem Kaiser einen herausfordernden Blick zu.
»Denkst du das?«, sagte der langsam.
»Ja, das tue ich.«
Als der Kaiser weitersprach, würdigte er Vhalla keines Blickes mehr – er war zu sehr damit beschäftigt, seinen Sohn wütend anzufunkeln. »Du vergisst dich, Aldrik.« Dann holte er tief Luft: »Vhalla Yarl, danke für deinen Bericht. Du kannst gehen.«
Vhalla blinzelte ungläubig. Nach allem – nach allem, was sie getan hatte, warf er sie einfach raus?
»Hast du meinen Befehl nicht verstanden?«, fragte Aldriks Vater und drehte sich endlich zu ihr.
»Doch, habe ich.« Sie trat vom Tisch zurück und ging Richtung Aldriks Zimmer.
»Ich wünsche, dass unsere weitere Besprechung vertraulich bleibt, Vhalla Yarl«, fügte der Kaiser hinzu.
Sie hielt inne, seine Andeutung enthielt eine Schärfe, die sie schaudern ließ. »Ich würde nie …«
»Du scheinst die Angewohnheit zu haben, vertrauliche Unterredungen von Anführern zu belauschen«, schnitt er ihr das Wort ab.
»Aber das war doch …« Verwandte er etwa seine eigenen Befehle gegen sie? War er derart arrogant, dass er so etwas vor aller Augen machte?
»Ich möchte lieber ganz sichergehen. Jax!«, wandte sich der Kaiser an den Westländer. »Habt Ihr das, was ich in Eure Obhut gegeben habe?«
»Eure Majestät, ich möchte Euch dringend davon abraten.« Abscheu schwang in Jax’ mattem Einwand mit.
»Ihr tut, was ich befehle!«, brüllte der Kaiser fast.
Hilflos drehte sich Jax erst zu Baldair und dann zu Aldrik. Keiner der beiden Prinzen schien in der Lage zu sein, seinem Vater zu widersprechen.
Langsam verließ der oberste Anführer der Schwarzen Legion die Halle, während der Kaiser sich wieder Vhalla zuwandte – mit einer Miene, wie Vhalla sie noch nie gesehen hatte. Sie hatte schon viele schlimme Begegnungen mit dem Kaiser gehabt, aber das hier war die furchteinflößendste. Denn seine leicht nach oben gezogenen Mundwinkel kündeten von einer morbiden und mörderischen Zufriedenheit – fast wie bei einer wilden Bestie, die ein verwundetes Beutetier entdeckt hatte.