VIERZEHN

»Vhalla Yarl«, sagte der Kaiser und trat ein Stück vom Tisch zurück. »Begreifst du eigentlich wirklich, was du bist?«

Vhalla antwortete nicht und ließ den Kaiser weiterreden, wobei alle Blicke allein auf ihn gerichtet waren.

»Gestatte mir, dass ich dich und meine Heeresführer belehre. Du bist ein Werkzeug , eine Waffe, du bist jemand, den ich brauche, um den Norden zu erobern. Und weil du meine überaus loyale Dienerin bist, erfüllst du mit Freuden deine Pflicht.«

»Das bin ich, Eure Hoheit«, stimmte Vhalla leise zu. Zum ersten Mal seit längerer Zeit nahm ihr der eiskalte Blick des Kaisers den Mut.

»Natürlich bist du das, Mädchen.« Der Kaiser baute sich vor ihr auf und schaute auf sie herab. »Du bist nicht hier, um zu denken. Was wäre das auch für eine törichte Vorstellung. Komm nicht auf die Idee, dass deine magischen Kräfte dich zu etwas machen, das du nicht bist.«

Vhalla biss sich auf die Lippe, bis es schmerzte, und verkniff sich jeden Widerspruch.

Jax kehrte mit einer quadratischen Holzkiste zurück. Vorn befand sich eine Verriegelung, die bereits geöffnet worden war. Unsicher betrachtete Vhalla die westländische Inschrift darauf.

»Eure Hoheit.« Jax umklammerte die Kiste so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. »Bitte überdenkt Euer Vorhaben noch einmal. Ihr könnt nicht wissen, was …«

»Seid still!«, blaffte Major Schnurr. »Es steht Euch nicht zu, dem Kaiser zu widersprechen.« Er warf Jax einen bösen Blick zu.

»Ich kenne die Kräfte, mit denen ich es hier zu tun habe, sehr gut.« Ehrfurchtsvoll öffnete der Kaiser die Kiste und betrachtete bewundernd deren Inhalt. »Wie es scheint, muss ich wohl alle nochmals daran erinnern, dass ich allein über diese Kräfte gebiete.«

Als Vhalla in die Kiste hineinschaute, fuhr es ihr durch Mark und Bein. Sie wollte etwas sagen, wollte um Gnade winseln, wenn es sein musste. Sie würde sich von ihnen nicht wieder dorthin bringen lassen, in eine kleine dunkle Gefängniszelle. Ihr Verstand begriff nicht länger, dass sie sich im Norden befand – einen ganzen Kontinent entfernt von dem Ort, an dem man sie während ihrer Gerichtsverhandlung nach der Nacht des Feuers und des Windes gefangen gehalten hatte.

»Eure Hoheit, ich schwöre Euch, dass ich meine Kräfte nicht ohne Eure Erlaubnis und nie gegen das Reich einsetzen werde«, gelobte sie mit bebender Stimme.

»Ach, Vhalla, du warst so viel beeindruckender, als du nicht so ängstlich klangst«, flüsterte der Kaiser so leise, dass es außer Jax und ihr niemand hörte.

Dann zog er langsam ein Paar Handfesseln aus der Kiste, die als dicke Eisenschellen um die Handgelenke getragen wurden und mit einem Scharnier verbunden waren. In das Eisen eingearbeitet waren polierte Steine, die Vhalla als Kristalle identifizierte.

»Vater, was ist das ?« Aldrik sprach als Erster.

»Woher habt Ihr die?«, fragte Erion mit finsterster Miene.

»Lord Ci’Dan hat sie auf meinen Wunsch hin nach Estrela gebracht. Nicht alle scheinen vergessen zu haben, dass man meinen Befehlen Folge leisten muss. Diese Fesseln wurden im Westen geschmiedet, um Geschöpfe wie sie in Schach zu halten.« Der Kaiser sah Erion drohend an.

Doch dieser dachte nicht daran, zu kuschen. »Lord Ci’Dan würde das nicht gutheißen.«

»Ihr nehmt Euch zu viel heraus, Lord Le’Dan! Alle Entscheidungsgewalt liegt bei mir, mein Wort ist Gesetz , und ich sorge dafür, dass das Gesetz widerspruchslos befolgt wird«, verkündete der Kaiser und verwies den westländischen Lord auf seinen Platz. »Streck die Hände vor, Vhalla Yarl.«

Gleich würde ihr übel werden. Vhalla konnte an nichts anderes denken als an das Gefühl von Eisen um ihre Handgelenke. Wieder würde man ihr wehtun – noch schlimmer als damals. Der Kaiser würde all seine Versprechungen hinsichtlich der düsteren Zukunft, die sie erwartete, wahr machen.

»Deine Hände!« Kaiser Solaris’ Geduld war am Ende.

Vhalla ballte die Hände zu Fäusten, damit sie nicht so zitterten. Sie schmeckte bittere Galle. Langsam streckte sie die Arme aus, doch statt kaltes Eisen auf ihrer Haut spürte sie warme Finger an ihren Handgelenken.

Aldrik zog sie mit festem Griff und brennendem Blick zur Seite. Sie hatte nicht einmal gemerkt, wie er auf sie zukam. »Du wirst ihr die nicht anlegen«, stieß er drohend hervor und schob sich zwischen Vhalla und seinen Vater.

Der Kaiser schien vollkommen überrumpelt vom offenen Widerstand seines Sohnes in Gegenwart seiner Untertanen. »Aldrik, mach dich nicht zum Narren.«

»Es ist falsch«, beharrte der Prinz. Er zog Vhalla noch näher an sich heran, sodass ihre geballten Fäuste an seiner Brust ruhten. »Sie hat dir pflichtschuldig und ohne Widerspruch gedient. Sie hat mein Leben gerettet – mehr als einmal –, genau wie das Leben von zahllosen Soldatinnen und Soldaten unserer Armee. Sehr wahrscheinlich hat sie heute auch unseren Feldzug gerettet. Und trotzdem willst du sie in Ketten legen?«

Seine Worte troffen nur so vor Abscheu. In seiner Miene lag fürchterliche, kaum kontrollierbare Wut. Mit angespanntem Unterkiefer, den Mund zu einer schmalen Linie zusammengepresst, funkelte Aldrik seinen Vater an. Vhalla konnte die Macht, die von ihm abstrahlte, spüren. Sogar Jax wich einen Schritt zurück.

»Mein Sohn, ich weiß, dass du fasziniert bist von der Magie dieses Mädchens. Aber das hier dient dem Wohle aller.« Die Augen des Kaisers blitzten gefährlich. »Geh zurück an deinen Platz, sodass wir das hinter uns bringen und mit unserer Besprechung fortfahren können.«

Aldrik ignorierte seinen Vater bewusst. Mit deutlich sanfterer Stimme sagte er: »Komm, Vhalla. Da mein Vater so viel Wert auf Ungestörtheit legt, bringe ich dich an einen Ort, an dem du dich ausruhen kannst. Bestimmt bist du müde von deiner Projektion heute Nachmittag.«

Vhalla nickte dankbar. Sie hatte keine Ahnung, ob Aldrik wirklich glaubte, was er da sagte. Oder ob er mitbekommen hatte, dass sie wie Herbstlaub zitterte, und wusste, dass sie von hier wegmusste, um die Fassung zurückzugewinnen.

»Aldrik!« Kaiser Solaris sagte den Namen seines Sohnes wie einen Fluch.

»Ich weiß, du bist das zuvor schon gefragt worden, aber kannst du uns dein Wort geben, dass du deine Magie nie gegen den Willen des Kaiserreichs Solaris einsetzen wirst?« Aldriks Daumen strichen zart über Vhallas Handgelenke.

»Ihr habt mein Wort, mein Prinz«, erwiderte sie leise, gestärkt durch sein Verhalten und seinen zärtlichen Blick.

»Reicht Euch ihr Wort, Anführer des Heeres?«, wandte sich Aldrik an die Anwesenden.

Keiner rührte sich, was Vhalla nicht überraschte. Schließlich forderte er sie dazu auf, dem Kaiser offen zu trotzen.

»Für mich reicht es aus«, sagte Daniel als Erster. Mit festem Blick sah er sie an, und Vhalla schluckte erleichtert. Obwohl Aldrik sie fast im Arm hielt, stand Daniel an ihrer Seite.

»Für mich ebenfalls«, sprang auch Jax ihr bei. Stirnrunzelnd blickte er auf die Fesseln in den Händen des Kaisers.

»Und ich wiederhole es gern ein drittes Mal: Die Le’Dans stehen zur Windläuferin und zum Lord des Westens«, verkündete Erion stolz.

»Ich wüsste keinen Grund, warum wir ihr nicht vertrauen sollten.« Mit Major Zerians Unterstützung hatte Vhalla nicht gerechnet.

»Ich habe Vhalla stets als Frau erlebt, die zu ihrem Wort steht«, fügte Baldair hinzu.

Es schien die übrigen Heeresführer zu beruhigen, dass der jüngere Sohn des Kaisers Aldriks Position durch seine – wenn auch nicht sehr energische – Fürsprache stärkte.

Aldrik wandte sich wieder an seinen Vater. »Wir haben die Zeiten hinter uns gelassen, in denen solche Dinge vonnöten waren. Lass dieses alte Relikt verschwinden – möge es in die dunkle Ecke des Museums zurückkehren, aus dem es gekommen ist.«

Eine lange Zeit herrschte Schweigen. Der Kaiser schaute mit zusammengekniffenen Augen erst zu Aldrik, dann zu den übrigen Anwesenden und schließlich zu ihr. Vhalla hielt den Atem an. Aldriks Finger auf ihrer Haut waren heiß. Es tröstete sie, dass er sie bis jetzt nicht losgelassen hatte.

»Vhalla Yarl«, sagte der Kaiser, »es geht hier nicht länger darum, wozu du fähig oder nicht fähig bist. Es geht nicht länger um dein Wort, was du tun oder nicht tun wirst. Es geht einzig und allein darum, dass du den Willen deines Herrschers respektierst, deines wahren Herrn

Aldriks Griff um ihre zitternden Hände verstärkte sich. Sie hasste die Lage, in der sie war, und verachtete den Kaiser mit jeder Faser ihres Körpers. Und dennoch wusste sie, was sie zu tun hatte.

Als sie sich aus seinem Griff wand, fuhr Aldriks Kopf zu ihr herum und mit einem erschrockenen Keuchen ließ er zu, dass Vhalla sich ganz von ihm löste. Ihr Leichtsinn machte sie kühn, und sie schlang ihre Finger um seine Hände, die noch immer in der Luft verharrten.

»Mein Prinz, ich danke Euch für Euer Vertrauen und Euren Glauben in mich«, sagte sie leise. Aldrik wollte protestieren, doch Vhalla schüttelte entschieden den Kopf. »Aber ich bin eine loyale Untertanin und muss mich dem Willen meines Herrschers beugen.«

Sie gab seine Hände frei und sofort machte Aldrik eine Bewegung, als wollte er sie festhalten. Vhalla warf ihm einen warnenden Blick zu. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen.

Doch im Widerspruch zu ihren Worten und allem Weiteren, was sie von nun an je öffentlich bekunden würde, entsprang diese Entscheidung keinesfalls dem Wunsch, dem Befehl des Kaisers zu gehorchen. Sie wurde von gegenteiligen Gefühlen motiviert. Mit den Heeresführern im Rücken würde Vhalla sich als gehorsame Soldatin präsentieren. Sie würde sich in eine bescheidene Dienerin verwandeln, die von ihrem machthungrigen Herrn missbraucht wurde.

Jedenfalls hoffte Vhalla, dass ihr Plan aufgehen würde, als sie die Hände vorstreckte.

Zufrieden legte der Kaiser ihr die Eisenfesseln um und ließ sie zuschnappen. Sobald sie sich geschlossen hatten, begannen die Kristalle schwach zu glühen. Sie bildeten einen Kreis. Vhalla keuchte auf, strauchelte, dann krümmte sie sich und fiel auf die Knie. Es war, als hätte sie jemand in den Bauch getreten. Nein – es war so, als hätte jemand ihren Oberkörper ausgehöhlt.

»Vhalla!« Aldrik kniete sich neben sie.

»Fass sie nicht an«, warnte ihn Jax. »Ihr Körper steht jetzt unter dem Einfluss der Kristalle. Im Zusammenspiel mit deiner Magie könnte es zu einer üblen Reaktion kommen.«

Vhalla bekam kaum mehr Luft. Die Handschellen schienen ihr die Fähigkeit genommen zu haben, zu atmen und zu denken. Ihr ganzer Körper fühlte sich fremd an, und sie schwankte, weil ihr so schwindlig war.

»Ist alles in Ordnung?« Sie nahm wahr, wie Daniel vortrat.

»Ja, schon. Es ist …«, japste Vhalla und hatte noch immer Mühe, Luft zu bekommen. Es war, als wäre aller Sauerstoff aus der Luft verschwunden. Die Welt war zu still. Selbst ihre Stimme klang weit entfernt und dumpf. »Ein Schock.«

»Soweit ich weiß, beziehen Magier ihre Kräfte aus den sogenannten Magieflüssen.« Die Augen des Kaisers funkelten interessiert. »Diese Handschellen wurden von Windläufern im alten Mhashan angefertigt, um diese Zuflüsse bei anderen Magiern zu blockieren.«

Bei anderen Windläufern, berichtigte Vhalla in Gedanken. Mit verschwommenem Blick schaute sie auf ihre Fesseln. Sie waren also von Sklaven für Sklaven gemacht worden.

»Solange Magier diese Handschellen tragen, ist der Zugang zur Quelle ihrer Magie unterbrochen«, erklärte der Kaiser der entsetzten Runde am Tisch. »Und wenn man bedenkt, wozu Windläufer fähig sind, bin ich der Ansicht, dass es das Beste ist, ihre magischen Kräfte unter Verschluss zu halten.«

Vhalla war gar nicht klar gewesen, wie sehr sie sich an ihre Magie gewöhnt hatte. Sie war mittlerweile ein Teil von ihr, und ihr Fehlen fühlte sich an, als hätte man ihr ein Körperglied abgetrennt. Trotzdem versuchte sie, wieder auf die Beine zu kommen. Aldrik fasste sie beim Ellbogen und half ihr auf. Vhalla hatte nicht die Kraft, ihn davor zu warnen, sie zu berühren.

»Sie hat ihre Loyalität doch bewiesen, Vater. Nimm sie ihr wieder ab.« Besorgt musterte Baldair Vhallas vollkommen erloschene Miene.

»Du kannst jetzt gehen, Vhalla Yarl.« Der Kaiser kehrte zum Tisch zurück.

Vhalla konzentrierte sich auf ihre Füße und gab sich Mühe, ihre gefesselten Hände gar nicht zu beachten. Gleichzeitig zwang sie sich dazu, vorwärtszugehen.

»Genug! Ich habe genug davon!« Aldrik riss Jax die Kiste aus den Händen und warf sie achtlos zur Seite, nachdem er den kleinen Schlüssel hervorgeholt hatte. Dann griff er nach Vhallas Handgelenken. Die Kristalle reagierten mit einem Flackern auf seine Berührung.

Mit zusammengebissenen Zähnen steckte er den Schlüssel in das Scharnier, das die beiden Handschellen miteinander verband. Sie lösten sich mit einem metallischen Klicken und fielen zu Boden. Angewidert hob Aldrik sie auf, warf sie zurück in die Kiste und klappte den Deckel zu.

»Jax«, knurrte er. »Bring sie in den Wald und vergrab sie irgendwo – weit weg und sehr tief. Und dein Wissen darüber nimmst du mit ins Grab.«

Jax nickte Aldrik beifällig zu, nutzte die aufkommende Unruhe unter den Anwesenden und verschwand, ehe irgendjemand ihn aufhalten konnte.

»Mein Prinz, das ist das Vermächtnis des Westens!«, rief Major Schnurr entsetzt.

»Es ist ein Vermächtnis des Hasses.« Aldrik sah den Major verärgert an. »Es ist ein Vermächtnis, auf das wahre Westländer nicht stolz sind.«

Mit einer Mischung aus Zorn und Entrüstung schüttelte Major Schnurr den Kopf. Er öffnete den Mund, um noch etwas zu sagen, überlegte es sich dann aber anders und stürmte zur Tür hinaus.

»Vhalla, komm.« Aldrik nahm ihre Hand.

Kaiser Solaris, der kurz davor war, die Beherrschung zu verlieren, weil seine Machtdemonstration nicht aufgegangen war, öffnete den Mund. »Sohn, du wirst nicht …«

Aldrik fiel ihm ins Wort. »Vater, ich finde dein Verhalten gegenüber Lady Yarl – unserem Gast, deiner loyalen Untertanin, der Frau, die du hierhergebracht hast, damit sie dir zum Sieg verhilft – abscheulich . Du hast sie immer wieder auf die Probe gestellt, und jedes Mal hat sie noch Großartigeres geleistet. Damit ist jetzt Schluss. Ich lasse nicht zu, dass du ihr noch einmal Schaden zufügst oder von ihr forderst, dass sie sich selbst schadet – nur zu deiner Zerstreuung oder um deine Unsicherheit zu überspielen. Zweifellos hat die Last des Krieges dein Urteilsvermögen getrübt. Hoffentlich wird auch dir das bald klar, denn bis deine absolut überfällige Entschuldigung erfolgt ist, habe ich keinerlei Interesse an weiteren Besprechungen.«

Vollkommen fassungslos schauten alle zum Prinzen, doch der schien es gar nicht zu bemerken. Er legte einen Arm um Vhallas Schultern und führte sie zum hinteren Ausgang der Halle. Vhalla rechnete damit, dass der Kaiser ihnen hinterherstürmen würde, aber es waren keine Schritte zu hören. Und sobald Aldrik sie zu dem Ort gebracht hatte, den sie zu ihrem Himmel erkoren hatten, löste sich alles andere auf.

»Ich kann es nicht fassen, dass er w-wirklich – bei der Mutter.« Aldrik war außer sich vor Wut. »Kristalle , er hat Kristalle hergebracht? Er ist wahnsinnig! Und dass ausgerechnet mein Onkel sie ihm gebracht hat …«

»Ich bin sicher, dass Lord Ci’Dan keine andere Wahl hatte«, sagte Vhalla und hoffte, dass das stimmte.

»Wie kann er es wagen, bei dir die Fesseln zu benutzen, mit deren Hilfe Windläufer wie Vieh gehalten wurden?! Durch die der Westen ihre Magie nach Belieben eingesetzt, durch die er Windläufer getötet hat?!«

Flammen schossen aus seinen Händen hervor und Vhalla umfasste sie. »Gib acht, dass du nichts verbrennst.« Sein Feuer züngelte an ihren Fingern.

Aldriks Zorn um ihretwillen war so tröstend, wie er erschreckend war. Wut würde die Probleme nicht lösen, die gelöst werden mussten. Es war eine Wut wie diese, die den Prinzen in seine düsteren Abgründe stürzte. Das musste er begreifen. Vhalla musste ihn davor bewahren. Sobald sie sich ansahen, änderte sich Aldriks Stimmung.

»Vhalla! Bei den Göttern. « Er barg ihr Gesicht in seinen Händen und das Feuer erlosch. »Wie kann er es wagen … Wieso hast du es zugelassen? Du hättest es verhindern müssen.«

»Indem ich es zuließ, stand er in besonders schlechtem Licht da«, erklärte sie.

Aldrik lachte heiser. »Das hast du wirklich so kühl durchdacht?«

»Lag ich damit richtig?« Forschend musterte Vhalla sein Gesicht.

»Zweifellos.« Aldrik küsste sie auf die Stirn und Vhalla schloss die Augen.

»Du hättest das nicht tun dürfen, Aldrik.« Sie dachte daran, wie er sie berührt hatte, während sie unter der Wirkung der Kristalle stand, dachte an Jax’ Warnung. Sie dachte daran, wie er seinem Vater die Stirn geboten hatte.

»Nein. Sag das nicht«, verlangte er entschlossen. »Das war absolut richtig. Ich habe es satt, danebenzustehen, während mein Vater dich so behandelt. Ich gebe nichts mehr auf den äußeren Schein.«

Auf dem Flur waren Schritte zu hören. Vhalla sog scharf den Atem ein und Aldrik zog sie eng an sich. Alle möglichen Schreckensfantasien schossen ihr durch den Kopf: Soldaten, die kamen, um sie von Aldrik zu trennen, sie einzusperren und ihr wieder diese schlimmen Ketten anzulegen. Die Gedanken zerstörten jegliche Kraft, die Vhalla zurückgewonnen hatte. Lautes Klopfen ließ die Tür erbeben.

»Bruder, komm zurück, ehe uns ein Bürgerkrieg blüht.« Wieder hämmerte Baldair mit der Faust gegen die Tür.

Das Gesicht in ihrem Haar vergraben, holte Aldrik tief Luft.

»Was Vater getan hat, war falsch«, sagte Baldair jetzt mit leiserer Stimme. »Es war wirklich übel. Aber bist du wirklich so überrascht darüber? Vhalla hat ihn vor seinen Heeresführern gedemütigt. Er drohte seine Macht zu verlieren und musste beweisen, dass er noch immer die Kontrolle hat. Vater ist nichts weiter als ein stolzer Mann …«

Aldrik löste sich von Vhalla und riss die Tür auf. »Dann soll ich ihm das also durchgehen lassen, nur weil er in seinem edlen Stolz gekränkt ist?«, knurrte er.

»Die westlichen Heeresführer sind außer sich, weil er die Handschellen benutzt hat. Weil es den westländischen Handelsbeziehungen schaden …«

»Da haben sie auch vollkommen recht!« Aldriks Zorn erwachte aufs Neue, nur ließ er ihn diesmal an seinem Bruder aus. »Sie ist eine Inspiration für den Osten, ein Fanal der Hoffnung, eine neue Ära! Und Vater vermittelt den Eindruck, dass er Windläufer so behandelt, wie man es vor mehr als hundert Jahren getan hat – als man sie verfolgte, in Ketten legte, tötete. Er hat Vhalla ganz offen als Werkzeug bezeichnet! Nicht als Menschen, sondern als Sache ! Ich kann es den westländischen Anführern nicht verdenken, dass sie keinen Wert darauf legen, noch immer mit dieser archaischen Einstellung in Verbindung gebracht zu werden – insbesondere, da mein Onkel die Mittel dazu bereitgestellt hat!«

»Sie drohen damit, das Lager zu verlassen.« Baldair streckte bittend die Hände vor, ohne auf den berechtigten Wutausbruch seines Bruders zu achten. »Erion führt sie an, und er will nicht auf mich hören, weil ich nicht ›aus dem Westen‹ bin.«

»Sehr gut, dann merkt Vater wenigstens mal, dass er die Menschen respektieren muss, von denen er abhängig ist.«

»Aldrik«, mischte Vhalla sich in das Gespräch ein, und angesichts ihres Tonfalls schauten beide Brüder zu ihr. Sie ging hinüber zu ihrem Liebsten, berührte ihn zärtlich an der Wange. »Geh schon.«

»Aber …«

»Kein Aber.« Vhalla schüttelte entschieden den Kopf. »Du musst ihnen zeigen, dass der künftige Kaiser ein besserer Mann ist als der gegenwärtige. Dieser Krieg muss enden, und für dieses Ziel nehme ich auch Kränkungen in Kauf. Das Gleiche erwarte ich von dir.«

»Vhalla«, protestierte Aldrik schwach.

»Geh und mach dem Krieg ein Ende«, flehte Vhalla ihn an. »Du hast gesagt, du würdest mich zurück nach Hause bringen.«

»Du bist eine erstaunliche Frau.« Aldrik fasste nach ihrer Hand und sah sie liebevoll an.

Vhalla erwiderte seinen Blick mit einem Lächeln.

»Dann kommst du jetzt also?« Baldair stand wartend im Türrahmen.

»Ja«, sagte Aldrik. »Und ich lasse alle wissen, dass meine Bereitschaft dazu nur der Frau zu verdanken ist, die mein Vater am liebsten wegsperren würde wie ein Tier.«

Baldair hob resigniert die Hände und akzeptierte Aldriks Laune dann mit einem Nicken.

Der Prinz beugte sich vor, um Vhalla noch einmal sanft auf die Stirn zu küssen. Wenn sie ganz ehrlich war, wollte sie lieber, dass er bei ihr blieb. Aldriks Anwesenheit beruhigte sie und gab ihr Sicherheit. Als ob sie unbesiegbar wären, solange sie nur zusammen waren. Aber Aldrik tat, worum Vhalla ihn gebeten hatte, er tat, was er tun musste.

Aldrik ließ sie los und ging zu seinem Bruder. Ein letztes Mal wandte er sich zu ihr um.

»Und wenn ein anderer als ich die Tür öffnet oder sich Einlass verschaffen will, dann kämpfst du, Vhalla. Für den Fall, dass mein Vater irgendetwas Hinterlistiges im Schilde führt, während ich weg bin.«

Sie nickte müde. »Viel Glück, für euch beide.«

Im selben Moment, in dem die Tür zufiel, schlugen die Ereignisse des Tages wie haushohe Wellen über ihr zusammen. Haltsuchend lehnte Vhalla sich an die Wand. Schließlich gaben ihre Knie nach, und sie rollte sich neben der Tür zu einem Ball zusammen. Ganz fest schlang sie die Arme um ihren Körper – um das Zittern zu unterbinden, um gegen die Erinnerung an Ratte, Maulwurf und Egmun anzukämpfen.

Gleichzeitig überlegte sie, was der Kaiser nun über sie und die Kristalle wusste. Die Handschellen waren für gewöhnliche Magier gedacht, vermutlich würde Aldriks Lüge, dass die Kristalle ihr dauerhaften Schaden zufügten, also weiterhin Bestand haben. Denn wenn der Kaiser herausfand, dass sie Vhalla nichts anhaben konnten, würde sie das in ein noch mächtigeres Werkzeug verwandeln. Mit ihrer Hilfe könnte der Kaiser versuchen, die legendäre Macht der Kristallhöhlen zu entfesseln. Vhalla bekam Kopfschmerzen, wenn sie daran dachte, zu was dieser furchtbare Mann vielleicht in der Lage sein könnte.

Sie musste eingeschlafen sein, denn das Nächste, was sie mitbekam, war, dass Aldrik sie sacht wach rüttelte.

»Vhalla«, flüsterte er.

»W-was?« Sie blinzelte schlaftrunken.

»Warum liegst du auf dem Boden?« Seine Stimme klang heiser vor Erschöpfung.

»Ich weiß es nicht, ich bin wohl eingenickt, als ich mich an die Wand lehnte.« Vhalla wollte ihm nichts von ihren Ängsten erzählen. Im Zweifel kannte er sie ohnehin schon. »Wie spät ist es?«

»Spät.« Er gähnte und half ihr auf.

Rasch zogen sie sich bis auf die Unterwäsche aus. Vhalla genoss die Vertrautheit zwischen ihnen. Es war wichtig, dass sie die wenigen Dinge auskostete, die ihr innere Ruhe schenkten.

»Habt ihr bis jetzt zusammengesessen?«, wollte sie wissen.

»Ja, ich … haben wir.«

»Wieder mal habe ich nur Unruhe gestiftet«, murmelte Vhalla und ließ sich schwer auf die Bettkante fallen.

»Nein, mein Vater hat sich das selbst eingebrockt. Ehrlicherweise war es fast amüsant, ihn dabei zu beobachten, wie er versucht hat, alles wieder in Ordnung zu bringen.« Aldrik kam zu ihr herüber.

Sie schaute hoch zu ihrem Prinzen. Bis auf die schlichten Baumwollhosen mit dem Kordelzug war er nackt. Sein Haar hing herab, ungekämmt und zerzaust von den kräftezehrenden Diskussionen und dem Machtkampf des heutigen Tages. Es fiel Aldrik wie ein Vorhang ums Gesicht und warf ausdrucksvolle Schatten auf seine markanten Züge. Die kleine Flamme, die treu an seiner Seite flackerte, beleuchtete jede seiner Narben, die von Mühsal und Widrigkeiten kündeten. Auf einmal war Vhallas Mund ganz trocken. Irgendetwas an seinem Blick war anders als sonst.

»Während der vergangenen Monate – vor allem seit Estrela, aber auch heute – konnte ich erleben, wie sehr du dich entwickelt hast«, fing Aldrik an. »Du hast Kräfte mobilisiert, die dir keiner zugetraut hätte, hast dich in Staatsangelegenheiten als überaus geschickt erwiesen, hast die Adeligen beeinflusst und größtenteils auf deine Seite gezogen, hast alle Erwartungen übertroffen.«

»Ich habe nur versucht zu helfen«, stieß Vhalla hastig hervor.« Irgendetwas an Aldriks Haltung machte sie leicht euphorisch. Und zwar so sehr, dass es ihr schon Sorgen bereitete. Ihr Körper wusste seit seinem ersten Wort, worauf der Prinz hinauswollte, aber ihr Verstand weigerte sich, es zu glauben. Der Gedanke, er könnte alles sagen, jagte ihr genauso große Angst ein wie der Gedanke, dass er auch gar nichts sagen könnte.

»Genießt du es?«

»Genieße ich was?«, wiederholte Vhalla.

Diesmal blieb seine Bemerkung mit dem Papagei aus, stattdessen wartete Aldrik gespannt auf ihre Antwort.

»Ich glaube schon«, sagte sie leise. »Nie zuvor war ich dazu gezwungen, mein Wissen tatsächlich einzusetzen, es ernsthaft anzuwenden – jede Theorie und sämtliche historischen Kenntnisse. Meine Tage sind herausfordernder als je zuvor in meinem Leben, und auch wenn es mir Angst macht, begeistert es mich oft auch.«

»Ich habe eine Position zu besetzen. Bei dieser Stelle muss man solche Dinge jeden Tag machen. Jemand muss in diese Rolle schlüpfen, ehe ich Herrscher sein kann.« Aldrik schluckte schwer und Vhalla sah seinen Adamsapfel hochhüpfen. »Die Person muss herausragend sein, stark und gutherzig. Sie muss mich zügeln können und mich immer wieder an meine Menschlichkeit erinnern – selbst in den dunkelsten Stunden.«

»Das ist viel verlangt«, flüsterte Vhalla matt. Der Moment steuerte auf einen Höhepunkt zu, und wenn er kam, würde ihre bisherige Welt zerschmettert werden.

»Das ist es und wird es auch in Zukunft sein.« Aldrik ballte die Hände zu Fäusten und öffnete sie dann wieder. »Aber es bleibt nicht unbelohnt. Man würde dem Wort dieser Person vertrauen, man würde sie respektieren und verehren. Sie kann die Zukunft dieses Reiches mitgestalten, zum Guten, zum Frieden hin.« Einen Augenblick lang schaute Aldrik zu Boden, und eine schwache Röte breitete sich auf seinen Wangen aus. »Sie könnte ihr Arbeitszimmer in meinem Rosenpavillon haben, und zwar für immer, wenn es ihr gefiele.«

Aldrik wusste genau, was er sagen musste.

»Wie bewirbt man sich für eine solche Position?«, fragte Vhalla kaum hörbar.

»Dafür kann man sich nicht bewerben.« Aldrik sah sie an, und Vhallas Herz wurde ganz weit. »Man muss gefragt werden.«

»Von wem?«

»Von mir.« Aldrik kniete sich vor sie.

Vhalla konnte nicht sprechen. Sie konnte nicht atmen. Sogar ihre Zehen waren taub vor Schreck – die Existenz der ganzen Welt schien von den Worten des Prinzen abzuhängen.

»Möchtest du, dass ich frage?« Er nahm ihre Hände in seine.

»Was meinst du damit?«, entgegnete Vhalla so leise, dass es kaum zu hören war. Selbst ihr Herzschlag war lauter.

»Möchtest du, Lady Vhalla Yarl, eines Tages Kaiserin Vhalla Solaris sein?«