FÜNFZEHN
»Was?« Alles war wie erstarrt in der beispiellosen Unmöglichkeit des Gesagten. Die ganze Welt reduzierte sich auf den vor ihr knienden Kronprinzen.
Aldrik blickte Vhalla mit solch furchtsamer Hoffnung an, dass ihr fast das Herz in der Brust zersprang. Er sagte nichts weiter, denn er wusste, dass sie seinen Antrag gehört hatte.
Er hatte ihr einen Antrag gemacht.
Ihr.
Die Zeit dehnte sich, und Vhalla begriff, dass es kein Scherz war. Es gab keinen Vorbehalt. Es gab nur den wartenden Prinzen, der mit jedem weiteren Moment, in dem sie stumm und völlig benommen dasaß, mehr in Panik geriet.
»Nicht ich. Du kannst nicht … mich auswählen.« Vhalla schüttelte den Kopf.
»Ich kann. Und ich habe.« Aldrik hielt ihre Hände noch fester, in seinen Worten lag eine gewisse Bangigkeit. »Vhalla, ich will dich zu nichts zwingen. Wenn du …« Aldrik versagte die Stimme und er hielt kurz inne. »Wenn du Ja sagst, würden wir erst heiraten, nachdem du offiziell zur Lady an unserem Hof ernannt worden bist. Bis dahin würden wir unsere Verlobung geheim halten, wobei ich dir verspreche, dass sie für mich bindend sein wird. Aber ich muss wissen … Ich muss wissen, ob du diesen Weg an meiner Seite gehen willst.«
Jeder Gedanke, der Vhalla durch den Kopf schoss, schrie nach Aufmerksamkeit: eine geheime Verlobung; ein Leben an der Seite von Aldrik; über ein Reich zu herrschen, obwohl sie nicht dazu geboren worden war; sein Rosenpavillon; Kaiserin zu sein . Sie mussten noch so vieles klären. In ihrer derzeitigen Lage war vieles vollkommen unsicher. Vhalla wollte Aldrik ihre Hände entziehen und von ihm verlangen, dass ihre Welt erst sicherer sein musste, ehe sie eine derart abwegige Idee überhaupt erwägen konnte.
Dann ließ sie ein weiterer Gedanke ganz still werden: Was wäre, wenn ihnen dafür keine Zeit mehr blieb? Was, wenn Vhalla morgen sterben würde? Was wäre wenn, was wäre wenn, was wäre wenn ? Die Frage füllte Vhallas Bewusstsein ganz aus und drohte ihr den Blick auf das zu versperren, was sie wollte. Das, wofür sie vom ersten Augenblick an gekämpft hatte, sobald sie erkannt hatte, was es war. Das, was direkt vor ihr wartete.
»Ja.«
Später würde noch genug Zeit sein, sich zu vergewissern, dass es die richtige Entscheidung war – ehe sie ihm vor Göttern und Menschen ewige Treue schwor. Und wenn keine Zeit blieb, würde sie die Fantasie bis zu ihrem letzten Atemzug nähren.
Aldrik blinzelte und seine Miene entspannte sich sichtlich. »Es wird nicht leicht werden«, flüsterte er.
»Das hast du mir schon gesagt«, erinnerte sie ihn.
»Du wirst lernen müssen, in den Augen des Hofstaates als Lady durchzugehen.«
»Das weiß ich.« Bereute er seinen Antrag etwa schon? »Ich möchte mit dir zusammen sein, Aldrik. Wir sind durch das Band verbunden, mein Schicksal ist mit deinem verknüpft. Du bist der erste Mann, den ich je wirklich geliebt habe, und ich will für immer an deiner Seite sein, wenn du es auch willst.«
»Meine Liebste«, flüsterte er entzückt. »Meine Liebste!«
Aldrik zog sie vom Bett hoch und legte ihr die Hände um die Taille. Unwillkürlich drückte Vhalla sich mit ihrem ganzen Körper an ihn. Er gab ihr einen entschiedenen Kuss, der keinen Raum für weitere Fragen ließ.
Ein wenig außer Atem löste er sich von ihr. »Ich habe etwas für dich.«
»Was denn?«, fragte Vhalla überrascht.
Aldrik bewegte sich wie ein Mann, der mit einem Schlag viele Jahre seines Lebens abgestreift hatte. »Sie müsste eigentlich aus Gold sein, das wäre angemessener für eine künftige Kaiserin. Aber seltsamerweise schien mir Silber passender. Und ich habe mehr Erfahrung mit diesem Metall.« Er durchwühlte eine seiner Truhen und holte eine Tasche heraus, die eine kleine Schachtel enthielt, in der wiederum ein kleines seidenes Beutelchen lag. Der Prinz kam zu ihr zurück und reichte ihr das weiße Beutelchen. »Man hat mir gesagt, dass die Männer des Ostens ihrer Braut ein Geschenk machen – als symbolisches Versprechen und Unterpfand einer glücklichen gemeinsamen Zeit.«
Vorsichtig nahm Vhalla den Beutel entgegen, ihr zitterten die Finger. Das hier passierte wirklich , rief sie sich in Erinnerung, während sie den Beutel öffnete. Sie hatte gerade eingewilligt, den Kronprinzen zu heiraten. Zwar gab es sehr Vieles, was sich zuvor noch zu ihren Gunsten entwickeln musste, aber wenn es wirklich alles eintrat …
Aldriks Unterpfand war sicherlich verzaubert, denn es raubte Vhalla den Atem.
Die Taschenuhr war kleiner als seine, aber ebenfalls aus Silber. Ihre zierliche Kette war so gefertigt, dass man die Uhr als Schmuckstück um den Hals oder in traditioneller Weise tragen konnte. Die Rückseite der Uhr war spiegelblank poliert. Vorn zierte sie eine Gravur: die lodernde Sonne des Reiches, zerteilt von einem Flügel – demselben Flügel, mit dem die Umhänge der falschen Windläuferinnen bestickt waren.
»Du hast dir oft mehr Zeit gewünscht«, erklärte Aldrik. »Wann immer du wolltest, dass die Zeit stehen bleibt oder der Morgen nie anbrechen möge, ist mir das nicht entgangen. Und du sollst wissen, dass ich dieses Gefühl jedes Mal geteilt habe. Deshalb verspreche ich dir meine Minuten, meine Stunden, meine Tage.« Er umschloss ihre Hand, die die Uhr hielt, mit seinen langen Fingern. »Meine Zukunft liegt in deinen Händen, Vhalla Yarl.«
»Du hast schon einen Plan.« Sie merkte es an der Art, wie er sich bewegte.
Aldrik grinste von einem Ohr zum anderen, als er ihr die Uhr aus der Hand nahm, bedächtig den Verschluss der Kette öffnete und sie ihr um den Hals hängte. Seine Finger strichen knapp oberhalb ihrer Brüste über das silberne Schmuckstück. »Den habe ich.«
Vhalla verlor sich in der perfekten Schwärze seiner Augen.
»Aber es ist ein Plan, der von deinem Zutun abhängt.«
Vhalla hob die Hand, spürte das Gewicht der Uhr, als Aldrik seine Finger davon löste. »Inwiefern?«
»Als Erstes müssen wir den Krieg gewinnen, und damit deine Freiheit, aber das wissen wir ja.« Es war Aldrik deutlich anzusehen, wie sehr ihn das beschäftigte. »Doch unterdessen müssen wir dich bereits zur Lady an unserem Hof ernennen lassen. Was unerlässlich ist, damit unsere gemeinsame Zukunft nicht infrage steht. Und mit jedem weiteren Tag, an dem ich dich mit unseren Heeresführern erlebe, bin ich zuversichtlicher, dass wir das problemlos erreichen werden.«
Mit fragendem Blick ließ Vhalla sich zurück aufs Bett sinken.
»Die Heeresführer sind hingerissen von dir. Sie bewundern deinen starken, edlen Charakter, deine Anmut, deine Haltung, deine verblüffende Intelligenz und Beredtheit. Und nach dem heutigen Abend auch deine vorbildliche Loyalität.« Aldrik setzte sich neben sie. »Mein Vater hat sich vor dem Abendessen zurückgezogen, wahrscheinlich wollte er das Gesicht wahren. Sobald er verschwunden war, sprachen sie nur noch über dich.«
»Aber sie können mich nicht zur Lady ernennen.« Vhallas Finger erkundeten noch immer die Uhr, fuhren jede ihrer Rundungen nach.
»Nein, das kann nur mein Vater«, bestätigte Aldrik.
Vhalla wurde das Herz schwer. »Dann ist es aussichtslos.«
»Liebste, glaubst du wirklich, ich würde dich bitten, mich zu heiraten, wenn ich es für aussichtslos hielte?« Aldrik grinste. »Denk doch mal nach. Seine Heeresführer werden ihn darum bitten, dir eine Stellung am Hof zu verschaffen. Sein Volk wird deinen Namen rufen, weil du die Heldin dieses Krieges bist. Und auch der Osten und der Westen blicken zu dir auf.«
»Das wird ihn trotzdem nicht umstimmen.« Der Hass des Herrschers auf sie wurzelte tief, da war Vhalla sich sicher.
»Und deswegen musste ich zuvor unbedingt wissen, ob du mich wirklich heiraten willst, bevor ich meinen Plan tatsächlich in die Tat umsetze.« Aldrik ergriff ihre Hände und wieder war seine Berührung wie Balsam für Vhalla. »Ich habe dir ja schon erzählt, dass mein Vater abdanken will, wenn ich dreißig bin – und bis dahin meine Pflichten erfüllt habe. Und zu diesen Pflichten gehört auch die Heirat mit einer Frau, die mir einen Erben schenkt.«
Vhalla nickte, war sich aber nicht sicher, ob sie es wirklich verstanden hatte. Ihre Welt stand komplett auf dem Kopf, und sie musste sich an Aldriks Händen festhalten, bis sie wieder wusste, wo die Sonne am Himmel aufging.
»Wenn der Krieg erst einmal vorbei ist, sage ich ihm, dass ich dir mein Herz geschenkt und dir mein Wort gegeben habe. Dann hat er nur zwei Möglichkeiten: dich in den Adelsstand zu erheben und der Hochzeit zuzustimmen. Oder auf die Vorstellung einer bilderbuchmäßigen Nachfolge zu verzichten. Denn wenn er mir die Heirat nicht gewährt, werde ich mich weigern, mich mit irgendwelchen anderen Frauen zu treffen. Stillschweigend werde ich mein Gelübde dir gegenüber halten, für immer. Ich werden warten, bis er eines natürlichen Todes stirbt, und dann folge ich ihm auf den Thron und mache dich selbst zu einer Lady.«
Vhalla ließ sich seine Worte durch den Kopf gehen. Es war töricht. Es war verrückt. Und sie küsste ihn dafür.
»Bist du glücklich?« Atemlos lehnte Aldrik sich zurück.
»Wie kannst du das nur fragen?« Vhalla lachte leise. »Aldrik, du bist nichts, womit ich gerechnet habe – und alles, von dem ich nicht wusste, dass ich es brauchte.«
Sie küsste ihn, als hätte er ihr wirklich alle Zeit der Welt geschenkt, als würde die Morgendämmerung nie hereinbrechen. Sie ließ zu, dass sie mit seiner Hitze verschmolz und daran glaubte, sie vergaß allen Kummer und verlor sich in Fantasien. Aldrik gab ihr einen sanften Stoß und sie fielen ineinander verschlungen aufs Bett.
Irgendwann später atmeten die beiden Liebenden wieder ruhiger und lagen still da. In Aldriks Arme geschmiegt wurde Vhalla immer schläfriger. Die Ereignisse des Tages verblassten und mühelos glitt sie hinüber ins Land der Träume.
Sie wusste sofort, dass sie sich in Aldriks Erinnerungen befand. Vielleicht hatte Vhalla sich inzwischen schon an die Traumszenarien gewöhnt oder es lag an der Intensität der Zusammenführung, durch die sie verbunden waren. Jedenfalls hatte sie kaum Mühe, den Traum als eine von seinen Erinnerungen zu erkennen und sich von Beginn an von Aldrik abzuspalten.
Sie schaute zu dem dunkelhaarigen Jungen, der Richtung Turm schlenderte. Sein Körper war schlaksig, sein Gang linkisch – fast als ob seine Arme und Beine über Nacht gewachsen wären, der Rest seines Körpers aber nicht. Er trug eine weiße Jacke über einem luftigen goldfarbenen Hemd und eine rote Hose. Vhalla bewunderte die Farben an ihm: das Rot des Westens, Gold und Weiß für das Reich. Die Haare fielen Aldrik glatt und schwarz über die Schultern.
Neben ihm ging ein Südländer, dessen stufig geschnittene Haare ihm bis zu den Ohren reichten. Er rieb sich über seinen dünnen Kinnbart. Mit einem Lachen schaute der Junge zu ihm auf.
»Sieht wie Fusseln aus.« Aldriks Stimme klang höher, als Vhalla es gewohnt war. Ab und zu brach sie und wurde dann deutlich dunkler.
»Ich lasse ihn ja auch erst seit vier Tagen wachsen«, sagte der Mann und lachte ebenfalls.
»Es sieht trotzdem lächerlich aus.« Aldrik verschränkte beim Gehen die Hände hinter dem Kopf. Es war seltsam, ihn so entspannt schlendern zu sehen.
»Wie Ihr meint, mein Prinz.« Der Mann versenkte die Hände in den Taschen seiner blauen Hosen.
»Nennt mich Aldrik, Victor«, sagte Aldrik seufzend. »Wie oft muss ich Euch das noch sagen?«
Victor, dachte Vhalla. Das war also der Minister für Magie als junger Mann?
»Mein Prinz, Ihr seid schon fast erwachsen, Ihr müsst Eure Stellung ernst nehmen«, tadelte Victor Anzbel ihn milde.
»Ich nehme sie ernst«, protestierte Aldrik.
»Ach ja? Sehe ich deshalb so oft, wie Ihr Euch mit einer gewissen Larel Neiress aus dem Unterricht schleicht?« Victor grinste seinen Begleiter an.
»Larel ist anders.« Aldrik verschränkte die Arme vor der Brust.
Vhalla fand die Färbung seiner Wangen anbetungswürdig. Der Anblick warf einen süßen Schleier über den Kummer, den die Erwähnung von Larel in ihr geweckt hatte.
»Ist sie das?«, fragte Victor.
»Das wisst Ihr genau.« Aldrik ließ die Arme wieder sinken.
»Na schön, mein Prinz. Aber ich wäre ein schlechter Mentor, wenn ich meinem Schützling gegenüber nicht ab und an als solcher auftreten würde.« Victor schaute bewusst geradeaus und wartete. Vhalla konnte sehen, wie der Moment, auf den er hingearbeitet hatte, gekommen war.
»So ist es zwischen uns nie gewesen.« Angelegentlich betrachtete Aldrik einen Knopf an seiner Jacke.
»Wirklich?« Victor musterte den Prinzen interessiert.
»Ich, wir dachten …« Der Junge hielt verlegen inne. »Aber so ist es nicht, wir sind bloß Freunde.«
Victor schenkte Aldrik ein wissendes Lächeln, sagte aber nichts. Er schien von der reizenden Verlegenheit, die das Erforschen der Liebe mit sich brachte, genauso bezaubert zu sein wie Vhalla.
Was Aldrik über seine Beziehung zu Larel gesagt hatte, ließ Vhalla vermuten, dass diese Erinnerung aus einer Zeit stammte, als Baldair ihn noch nicht als »schwarzes Schaf« bezeichnet hatte. Als er noch keinen Menschen getötet hatte. Doch sein erster Kuss mit Larel lag schon hinter ihm. Traurig betrachtete Vhalla den jungen Aldrik. Sie fragte sich, wie viele glückliche Augenblicke er danach noch erlebt hatte. Wie viel Zeit seines Lebens hatte er in Finsternis und Einsamkeit verbracht? Wie weit hatte sich der Mann, den sie jetzt kannte, von diesem unbeschwerten Jungen, vom Dasein eines gewöhnlichen Mannes entfernt?
Schließlich blieben die beiden vor einer Tür stehen. Vhalla erkannte die Tür zu den Gemächern des Ministers für Magie. Aldrik hob die Hand und klopfte. Vhalla überlegte, was sie durch Aldrik über die damalige Zeit wusste. Wenn er ein Junge dieses Alters war und Victor noch ein junger Mann … Eiskaltes Entsetzen packte sie.
Die Tür ging auf und Egmun stand im Türrahmen.
»Mein Prinz.« Egmun verbeugte sich kurz.
»Minister«, entgegnete Aldrik. Und zu Vhallas großem Entsetzen lächelte er den Mann an, der ihr mehr als alles andere auf der Welt verhasst war. Und der Mann lächelte zurück. »Wie geht es Euch?«, fragte Aldrik ungezwungen und betrat die Räume des Ministers.
»Ich kann mich nicht beklagen.« Egmun schloss die Tür hinter den beiden und Vhalla merkte, dass sie im Arbeitszimmer des Ministers direkt neben Aldrik stand. »Vor allem, wenn mich der mächtigste Magier des Reiches mit seiner Gegenwart beehrt.«
»Ihr schmeichelt mir, Egmun.« Aldrik machte eine wegwerfende Handbewegung und setzte sich auf einen der Stühle. Doch das leise Grinsen, das sich in seinen Mundwinkeln eingenistet hatte, bewies, dass ihm die Schmeichelei durchaus nicht unangenehm war.
»Wie habt Ihr Euch nach unserer letzten Übungsstunde gefühlt?« Egmun ließ sich hinter dem Schreibtisch nieder und presste die Fingerspitzen gegeneinander.
»Ihr solltet inzwischen wissen, dass solche banalen Dinge mir nichts anhaben können.« Wieder grinste Aldrik, aber Vhalla durchschaute das aufgesetzte Selbstvertrauen eines Jungen.
»Natürlich nicht«, sagte der Minister schmunzelnd und wandte sich dann an Victor. »Und du?«
»Mir geht es gut«, sagte Victor steif.
Aldrik gähnte. »Lügner.«
Victor funkelte ihn wütend an.
»Victor, du musst ehrlich zu mir sein.« Egmun blickte den jungen Mann abwartend an.
»Meine Magieflüsse haben sich danach ein bisschen seltsam verhalten.« Noch immer warf Victor Aldrik wütende Blicke zu, woraufhin der nur mit den Achseln zuckte.
»Wir werden das im Auge behalten, vielleicht musst du dann doch damit aufhören«, bemerkte Egmun.
Mit was aufhören?, hätte Vhalla gern gefragt.
»Nein, ich kann weitermachen«, sagte Victor entschlossen.
»Wir werden sehen.« Aus Egmuns Ton war eine gewisse Endgültigkeit herauszuhören. »Dann solltet heute nur Ihr üben, mein Prinz.«
Egmun erhob sich und Vhalla spürte die Nervosität des Jungen. Wovor fürchtete Aldrik sich? Auf einmal stellten sich auch bei ihr die Nackenhaare auf, als Egmun im hintere Teil des Raumes zu einer Vitrine ging. Sie dachte an die Ereignisse eines bestimmten Abends, der wahrscheinlich kurz nach dieser Begegnung stattgefunden hatte. An jenem Abend hatte Egmun Aldriks junge Seele zu einem Blutopfer gezwungen.
Als der Minister zurückkehrte, hielt er ein Kästchen in der Hand. Vhalla musterte es. Sie entdeckte westländische Inschriften, ansonsten war nichts Besonderes daran. Trotzdem kam es ihr vage vertraut vor, rief eine Erinnerung in ihr wach. Vhalla hatte es schon einmal irgendwo gesehen. Jemand hatte es für sie geöffnet. Als Egmun es auf den Schreibtisch stellte, versuchte sie, einen besseren Blick darauf zu erhaschen. Aldrik holte tief Luft, und Vhalla wurde ganz still vor Furcht. Und dann öffnete Egmun das Kästchen.
Vhalla erwachte jäh vom Geräusch klirrender Schüsseln und Teller. Sie drehte sich im Bett herum und stellte überrascht fest, dass Aldrik nicht mehr bei ihr war. Er stand neben der Quelle der Geräusche. Einem abgewetzten Tablett mit etwas Geschirr darauf.
»Guten Morgen.« Aldrik lächelte. »Wie geht es meiner Liebsten heute?«
Vhalla prägte sich das attraktive Gesicht des Prinzen ein. Bei Tageslicht verblasste die Erinnerung an den Traum rasch. »Ich hatte einen Traum.«
Aldrik hielt kurz inne und sah sie an, um sich zu vergewissern, dass es stimmte, was er vermutete.
»Eine deiner Erinnerungen«, stellte Vhalla vorsichtig klar.
»Und was für eine?« Er versuchte, ganz normal zu klingen und sich nicht von Panik überwältigen zu lassen.
»Nichts Entscheidendes.« Vhalla schüttelte den Kopf. Auf keinen Fall wollte sie schon so früh am Morgen die Stimmung verderben, erst recht nicht nach dieser freudvollen Nacht. »Du und Victor im Turm, wie ihr mit Egmun etwas geübt habt.«
»Was haben wir geübt?« In Aldriks Worten schwang keinerlei Emotion mit.
»Keine Ahnung.« Vhalla sah ihm an, in welch innerem Zwiespalt er steckte. »Jedenfalls kam es mir nicht besonders wichtig vor.« Sie lächelte aufmunternd. »Ist das etwa was zu essen?«
Die Frage riss Aldrik aus seiner Trance. »Allerdings. Ich dachte, Frühstück im Bett könnte ganz schön sein.« Er schien genau wie sie das Thema wechseln zu wollen.
»Fragt denn niemand nach, wenn du mir Essen ans Bett bringst?«, zog ihn Vhalla auf und rutschte zur Seite, als er vorsichtig einige der Schüsseln und Tellern auf die nachgebende Matratze stellte.
»Sollen sie doch Fragen stellen.« Aldrik verdrehte die Augen. »Wenn sie genug Freizeit haben, um sich darüber Gedanken zu machen, was ich esse und mit wem, dann lassen sie irgendetwas anderes Wichtiges außer Acht«, erklärte er hochmütig.
Vhalla lachte erleichtert, froh, dass die gute Stimmung anhielt und sie erst mal nicht weiter auf den Traum eingegangen waren. »Das ist das erste Mal, dass ich im Bett frühstücke.« Sie hatte schon davon gehört, dass Adelige so etwas taten, aber Menschen ihres Standes mussten früh aufstehen und ihr Tagwerk angehen. Außerdem hatten sie auch niemanden, der das Frühstück für sie zubereitet hätte.
»Ach ja?«, brummte Aldrik und kaute auf einem Stück Fleisch herum.
»Ja.« Vhalla streckte die Hand nach einer Schüssel Reis aus. Das kurze Zögern bei seiner Nachfrage war ihr nicht entgangen »Und was ist mit dir?«
Der Prinz hielt beim Kauen inne und schaute sie an. Dann streckte er die Hand aus, um die silberne Uhr zu berühren, die um ihren Hals hing. »Ich schon. Einmal«, sagte er nachdenklich.
»Ach ja?« Es war mehr ein Geräusch als eine Frage, um Aldrik die Möglichkeit zu geben, gar nicht darauf einzugehen.
»Ihr Name war Inad.«
Vhalla blinzelte, als sie Aldrik den Namen sagen hörte. Nicht aus Eifersucht, sondern weil er bisher kaum über die Frauen gesprochen hatte, mit denen er zuvor zusammen gewesen war. Er hatte ihr erzählt, dass er vor ihr mit drei Frauen geschlafen hatte, und er war nicht der Typ für unverbindliche Bettgeschichten, also musste Inad ihm etwas bedeutet haben.
»Es war der Morgen nach meinem ersten Mal. Sie hat mir Frühstück gebracht, und das war etwas Besonderes.« Aldrik ließ ihre Uhr wieder los.
Vhalla hielt seine Finger fest. »Was ist mit ihr passiert?«, wollte sie wissen. Es machte nicht den Eindruck, als ob er irgendeinen Groll gegen die Frau hegte.
Aldrik seufzte. »Mein Vater fand es heraus, das mit ihr und mir. Es gab da einen Tag, an dem ich sie in der Bibliothek treffen sollte.«
»In der Bibliothek?« Vhalla strich sich verwirrt durch die Haare.
»Ich war siebzehn oder achtzehn.« Endlich sah er Vhalla wieder an. »Ich glaube, du hattest noch nicht mal dort angefangen.«
Vhalla nickte. Manchmal fühlte sich der Altersunterschied zwischen ihnen völlig bedeutungslos an, manchmal war es so, als hätte er schon ein ganzes Leben gelebt, bevor ihre Existenz überhaupt erst für irgendwen Bedeutung erlangte. Aber bis sie ihre magischen Fähigkeiten entdeckt hatte, bis sie ihm begegnet war, war Vhallas Existenz ja auch nicht weiter bemerkenswert gewesen.
»Schon ziemlich witzig.« Aldrik schmunzelte vor sich hin. »In der Bibliothek scheine ich stets wichtigere Dinge als nur Bücher zu finden.« Er schaute sie an und Vhalla genoss seine stumme Bewunderung.
»Jedenfalls …« Aldrik spähte durch die Lamellen der Fensterläden nach draußen. »Mein Vater fand es heraus und war nicht gerade erfreut. Sie bekleidete einen sehr niedrigen Rang bei Hof, gehörte nur entfernt zur adeligen Gesellschaft, und ihre Familie war in irgendeinen Skandal verwickelt. Deshalb war sie ungeeignet, jedenfalls in seinen Augen.«
»Wie hat er reagiert?«, fragte Vhalla.
»Er hat ihre Familie zurück in den Westen geschickt«, entgegnete Aldrik. »Zumindest hat man mir das erzählt. Ich habe sie nie wieder gesehen oder auch nur ein Wort von ihnen gehört.«
»Das ist schlimm.« Ließ der Kaiser seinem Sohn gegenüber denn niemals Gnade walten?
»Die Sache hat mir auf unschöne Art die Augen geöffnet, was die Damen des Hofes betraf und die Einmischung meines Vaters in mein Liebesleben«, sagte Aldrik nachdenklich. »Mir wurde klar, dass ich für die meisten Frauen nur ein Mittel zum Zweck war, um Kaiserin zu werden. Sie sahen nicht mich, sondern den Titel, die Macht und das Gold, auf das eine Kaiserin Solaris hoffen könnte. Und genau diese Sorte Frauen wünschte sich mein Vater für mich. Frauen, die eigene Titel und Ambitionen hatten. Das waren die ›klugen‹ Partien – denn für das, was sie von mir bekommen würden, hätten sie umgekehrt auch etwas zu bieten.« Aldrik lehnte sich zurück. »Inad war anders, denn sie gehörte nicht zu diesem Kreis von Frauen. Kaiserin zu sein, kam ihr nie in den Sinn, wenn wir zusammen waren.«
Die Emotionen in seinem Blick ließen Vhalla innehalten. Aldrik wartete ganz offensichtlich darauf, dass sie eins und eins zusammenzählte, denn er lächelte leise. Sie schnaubte ungläubig.
»Hast du mich etwa von Anfang an so gesehen?«, fragte sie.
»Nein«, gestand Aldrik. »Damals in der Kapelle habe ich es dir ja erklärt. Anfänglich war ich nur von dir fasziniert, du warst ein amüsanter Zeitvertreib und schienst mir auch von Nutzen zu sein, als ich deine Kräfte erkannte. Erst als ich begriff, dass du bereit warst, den absoluten Mistkerl zu ertragen, der ich nun mal bin, haben sich meine Gefühle für dich verändert.«
»Du bist kein absoluter Mistkerl.« Vhalla verdrehte die Augen und schaufelte sich dann eine sehr undamenhafte Portion Essen in den Mund.
»Kann ich aber sein«, beharrte Aldrik.
»Ich glaube, du bist zu hart mit dir.« Vhalla stellte überrascht fest, dass sie die ganze Schüssel leer gegessen hatte. Aldriks Gegenwart regte ihren Appetit an. Ihr etwas heikles Essverhalten war kein Thema, wenn sie so entspannt war.
Kurze Zeit später standen sie vom Bett auf und räumten das Geschirr zusammen. Während Aldrik das Tablett wegbrachte, schlich sich Vhalla für die morgendliche Wäsche in den Waschraum. Bei ihrer Rückkehr saß Aldrik bereits an seinem Schreibtisch.
»Du musst heute noch mal in die Projektion gehen«, teilte er ihr mit. »Vielleicht können wir noch etwas über den bevorstehenden Angriff herausfinden.«
»Die Leute glauben bestimmt, dass du mich in deinem Zimmer eingesperrt hast und mich immer nur für ein paar Stunden hinauslässt.« Vhalla lachte und ließ sich wieder aufs Bett zurücksinken.
»Wenn du bei mir bist, geht es mir einfach besser. Das kann man mir doch nicht vorwerfen.« Aldrik grinste sie spitzbübisch an und wandte sich dann wieder seiner Arbeit zu.
Vhalla griff nach der Uhr um ihren Hals. Sie betrachtete die tickenden Zeiger darin. Die Uhr fühlte sich warm an und die vertrauten Kettenglieder bestätigten, was Vhalla schon vermutet hatte, als sie das erste Mal Aldriks Uhr sah. Ihr Prinz konnte sogar komplizierte Gerätschaften herstellen.
Dann wandte sie sich wieder wichtigeren Dingen zu. »Was haben die Heeresführer eigentlich beschlossen?«
Aldrik seufzte schwer. »Mein Vater beharrt darauf, dass er Soricium nicht stürmen und niederbrennen will. Und wie es scheint, möchte keiner seiner Truppenführer noch weiter in Ungnade fallen.«
»Das kann ich ihnen nicht verdenken«, murmelte Vhalla und begrub jede Hoffnung, dass der Kaiser ihrem Vorschlag doch noch folgen würde. Der Krieg würde so oder so irgendwann zu Ende sein.
»Dennoch stellen die Heeresführer bereits ihre Truppen auf. Unsere besten Späher wurden ausgeschickt, um herauszufinden, wo sich größere Gruppen von Nordländern versammeln. Falls möglich, werden wir ein paar davon unschädlich machen, ehe sie die Gelegenheit haben, uns anzugreifen. Aber sie sollen auf keinen Fall merken, dass wir ihre Pläne kennen.«
»Immerhin ist der Spion in der Festung tot.« Die Tatsache verschaffte Vhalla eine gewisse Genugtuung. Obwohl sie jetzt nie herausfinden würden, wer seine Informanten in der Zeltstadt waren.
»Vater will abwarten, bis der Angriff der Nordländer fehlgeschlagen ist. Dann wird er ihnen eine letzte Botschaft zukommen lassen und sie auffordern, sich zu ergeben. Ansonsten wird er Soricium niederbrennen«, berichtete Aldrik.
»Es soll so laufen wie mit deinem Onkel im Westen«, überlegte Vhalla laut. Die ehemalige Herrscherfamilie des Westens besaß noch immer eine gewisse Macht, obwohl der König getötet worden war.
»Das stimmt wohl«, bestätigte Aldrik. »Einen letzten Rest Verstand hat Vater doch noch. Er wird den Clan der Anführer nicht vollständig auslöschen, wenn sie ihm die Treue schwören. Denn sie können ihm viel besser dabei helfen, den Norden im Griff zu behalten, als ein fremder Anführer. Du hast ja selbst gesagt, dass die Nordländer ihren alten Traditionen sehr verbunden sind.«
»Soll ich auch die Wälder erkunden?«, wollte Vhalla wissen.
Aldrik schüttelte den Kopf. »Nein. Unsere Späher können ein größeres Gebiet abdecken als du allein. Du setzt deine Zeit und deine Kräfte besser in der Festung ein.«
»Verstanden.« Vhalla schloss die Augen und verließ ihren Körper.
Noch sechsmal würde die Sonne untergehen, dann begann die hoffentlich entscheidende Schlacht um den Norden.