SECHZEHN

Als Vhalla sich endlich wieder aus der Projektion löste, war sie vollkommen ausgehungert. Aldrik bestand darauf, dass sie zusammen mit den Heeresführern zu Abend aßen, und Vhalla war mit allem einverstanden, wenn sie nur etwas in den Magen bekam. Irgendwann würde sie dem Herrscher ja wieder entgegentreten müssen. Und das tat sie lieber mit Aldrik – mit ihrem zukünftigen Ehemann  – an ihrer Seite.

Aldrik hatte zwar gesagt, dass die Heeresführer ihre Haltung bei der Sache mit den Handschellen bewundert hatten, doch als sie die große Halle betraten, bekam Vhalla doch Zweifel. Man hatte die Besprechung wegen des Abendessens unterbrochen, bei ihrem Anblick allerdings sprang die Hälfte der Anwesenden auf. Die aufgetischten Speisen waren vergessen.

»Lady Yarl.« Sie war Erion dankbar, dass er das Schweigen brach. Der westländische Lord kam zu ihr und machte eine tiefe Verbeugung. »Ich möchte mich offiziell für den gestrigen Vorfall entschuldigen.«

Angesichts all der Aufmerksamkeit trat Vhalla verlegen von einem Fuß auf den anderen. »Es war ja nicht deine Idee, Erion. Es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen müsstest.«

»Trotzdem.« Er richtete sich wieder auf. »Du sollst nicht denken, dass der Westen dir oder irgendeinem anderen lebenden Windläufer gegenüber noch immer solche Gefühle hegt.«

Sie warf Jax einen langen Blick zu, aber der blieb stumm. Sein Schweigen verriet ihr allerdings genug. In seinem Blick lag zerknirschtes Unbehagen, und Vhalla wusste, dass dies die einzige Entschuldigung war, die sie je von ihm bekommen würde. In der Nacht, als der Herrscher im Lager angekommen war, hatte sie begriffen, dass sie beide nur Schachfiguren der Krone waren. Und Geschöpfe, die so gut wie keinen freien Willen besaßen, konnten für ihre Handlungen nicht verantwortlich gemacht werden. Nicht wirklich.

Aldrik führte sie zur Mitte des Tisches, wo man ihnen Platz gemacht hatte. Vhalla musterte die dargebotenen Speisen auf der Suche nach etwas Genießbarem. Sollte sie jemals in den Palast in Solarin zurückkehren, würde sie sich nie wieder über das Essen für die Dienerschaft und die Angestellten beklagen. Wenn sie überhaupt noch mal solche Mahlzeiten vorgesetzt bekam , dachte sie, als ihr Blick auf Aldrik fiel.

»Falls das eine Beruhigung ist: Ich habe dafür gesorgt, dass die verdammte Kiste weit weg und sehr tief vergraben wurde«, sagte Jax jetzt, und ein schiefes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus – ein Zeichen, dass ihr Verhältnis sich wieder normalisierte. »Und sollte jemand versuchen, die Kiste noch mal in deine Nähe zu schaffen, hoffe ich doch, dass du dich mit Zähnen und Klauen verteidigst.«

Vhalla lachte über die Vorstellung, dass der Kaiser von einem ihrer Windstöße umgeworfen wurde, sodass er auf seinem Hinterteil landete.

»Wenn dieser Krieg vorüber ist, solltet Ihr den Westen besuchen, Lady Yarl«, bemerkte eine westländische Adelige.

Vhalla war bewusst, dass Major Schnurr nicht mit einfiel in die allgemeine Zustimmung am Tisch.

»Hört, hört!« Erion hob sein Glas.

»Du würdest mit Begeisterung empfangen werden. Wir haben Bibliotheken, in denen sich ausschließlich Bücher über Magie befinden, und die garantiert deine kühnsten Erwartungen übertreffen.« Jax schien genau zu wissen, wie er Vhalla locken konnte.

»Wenn ich das so höre …« Vhalla lächelte.

»Ihr Platz ist in der Hauptstadt«, sagte Aldrik entschieden.

Vhalla gelang es nicht, die Röte aufzuhalten, die ihr in die Wange stieg. Ein Platz in der Hauptstadt an seiner Seite , das war es, was er sagen wollte. Wenn er so redete, würden binnen Kurzem alle über ihre Verlobung Bescheid wissen. Ihre Verlobung. Allein bei dem bei dem Gedanken schlug ihr Herz einen Purzelbaum.

Jax fixierte den Prinzen nachdenklich. »Es ist schon einige Zeit her, seit du das letzte Mal die Heimat deiner Vorfahren besucht hast. Wie lange warst du schon nicht mehr am Grab deiner Mutter? Warum reist ihr nicht zusammen dorthin?«, fragte er mit einem durchtriebenen Grinsen. »Stell dir vor, welchen Empfang man euch beiden bereiten würde. Der westländische Prinz, der Meister aller Magier, kehrt nach Hause zurück, Seite an Seite mit der ersten Windläuferin seit fast hundertfünfzig Jahren. Eine Windläuferin, die nicht in Ketten liegt, sondern eine freie Frau ist, ja sogar eine Lady! Eine hochdekorierte Soldatin und Gelehrte …«

»Ich würde mich nicht unbedingt als Gelehrte bezeichnen«, widersprach Vhalla.

Jax schien sie gar nicht gehört zu haben, denn er fuhr einfach fort: »… eine junge Frau, die sich aus ihrer Knechtschaft erhoben hat, um die Welt zu verändern! Sie werden Freudentränen vergießen, werden ihre Kinder nach euch beiden benennen! Das sind die Taten, von denen Barden singen und die junge Maiden beweinen!« Jax griff sich an die Brust. »Ihr zwei werdet …«

»Es reicht, Jax.« Mit einem tiefen Seufzer kniff Aldrik sich in den Nasenrücken.

Jax grölte vor Lachen und Vhalla senkte den Kopf über den Teller, um ihre roten Wangen zu verbergen. Sie hätte gelogen, wenn sie behauptet hätte, seine Schilderung hätte ihr keine Lust auf den Westen gemacht. Die übrigen Westländer am Tisch warfen Jax belustigte oder beifällige Blicke zu. Gedankenverloren strich Vhalla über ihre kleine Uhr. Dabei entging ihr, dass nun auch einige der Lords und Ladys am Tisch die neue Kostbarkeit an ihrem Hals bemerkten.

»Facetten von Jax’ Wahnsinn«, murmelte Aldrik.

»Ach, lieber Freund, du weißt genau, dass du Spaß daran hast!« Jax blinzelte und hob seine Flasche in einem scherzhaften Toast.

»Das sagst du jedes Mal, aber ich bin mir immer noch nicht sicher, ob es stimmt«, sagte Aldrik trocken. In seinem Ton lag keinerlei Schärfe, was Vhalla zeigte, dass er die Gesellschaft von Jax wirklich genoss.

Bald wandte sich das Gespräch ernsteren Dingen zu, denn die Zeit für Unbeschwertheit war begrenzt. Durch die Nachfragen und Unterhaltungen am Tisch erfuhr Vhalla, was sie den Tag über versäumt hatte. Wie es schien, war niemand sonderlich begeistert von der Idee, den unwägbaren Angriff abzuwarten, wenn doch Soricium reif zur Eroberung war. Aber der Kaiser hatte es so beschlossen, und ihnen blieb keine andere Wahl, als sich seinem Willen zu beugen. Das hatte er mit aller Brutalität klargemacht, als er Vhalla trotz ihrer Proteste die Handschellen angelegt hatte.

Sobald das Abendessen vorüber war, kehrten sie zum großen Planungstisch zurück. Auch Aldrik musste auf den neuesten Stand gebracht werden, da er die meiste Zeit des Tages in seinem Zimmer mit Vhalla verbracht hatte. Während er über Taktiken und Kriegsführung sprach, lag in Aldriks Blick fast die gleiche Intensität, mit der er ihren Körper betrachtete, wenn er ihn mit seinen Händen erkundete. Bei dem Gedanken wurde Vhalla furchtbar heiß, und sie verlagerte unruhig das Gewicht.

Erion würde sich mit seinen Truppen im Westen der Festung postieren. Zwei Drittel der Schwertkämpfer teilte er sich mit Daniel, der die Truppen im Osten befehligte. Baldair würde mit den übrigen Schwertkämpfern den Norden abdecken. An seiner Seite führte Raylynn die Bogenschützinnen und Bogenschützen an. Der Kaiser und Major Zerian schließlich geboten über die Truppen, die Soricium im Süden umzingelten.

Jax verkündete, dass er mit einer Hälfte der Schwarzen Legion an Erions Seite im Westen kämpfen würde. Sodass Aldrik sich anbot, auf der östlichen Seite die andere Hälfte anzuführen. Vhalla versuchte, keinerlei Gefühle preiszugeben, als sie sah, wie Aldriks Name auf der Karte bei den Truppen im Osten eingetragen wurde.

Als Prinz, allerhöchster Anführer der Schwarzen Legion und künftiger Kaiser war das seine Pflicht. Er würde kämpfen und auf dem Schlachtfeld voranschreiten. Wieder umklammerte Vhalla die Uhr an ihrem Hals. Zu wissen, dass er seit seiner Kindheit für Situationen wie diese trainiert hatte, machte es ihr nicht leichter.

Die übrigen Heeresführer gaben bekannt, wo sie Aufstellung nehmen würden, wobei sie ihre Kompetenzen auf die vier verschiedenen Gruppen des Heeres verteilten. Vhalla versuchte sich die Einteilung dieser oder jener Person auf diesem oder jenem Posten zu merken. Mitten in diesem Prozess stieß der Kaiser zu ihnen. Er stellte sich an den Kopf des Tisches und Vhalla hatte das Gefühl, als senkte sich eine düstere Wolke über die Anwesenden.

Aldrik zeigte ihm die fast vollständige Liste.

»Wem wird sich die Windläuferin anschließen?« Der Blick des Kaisers streifte Vhalla und es lag höchste Verachtung darin.

»Sollte sie nicht in der Festung sein?«, fragte Baldair sachlich, ohne auf die angespannte Stimmung einzugehen. »Um uns zu übermitteln, was drinnen vor sich geht?«

»Dort ist sie uns zweifellos von großem Nutzen«, dachte Raylynn laut.

»Wo möchtet Ihr gern sein?«, fragte Major Zerian an Vhalla gewandt, woraufhin sich auch die Blicke aller anderen auf sie richteten.

»Ich werde dort sein, wo ich am nützlichsten bin.« Vhalla schielte Richtung Kaiser. Gab es auf diese Frage überhaupt eine richtige oder falsche Antwort?

»Natürlich werdet Ihr das.« In Major Zerians verwitterten Zügen zeigte sich der Anflug eines Lächelns. »Ich frage Euch, weil der Ort, an dem Ihr sein möchtet , der Ort ist, an dem Ihr am nützlichsten seid.«

Vhalla musste nicht lange überlegen. »Ich will nicht in die Projektion gehen. Ich will kämpfen.«

»Was?«, stieß Daniel überrascht hervor und war damit nicht der Einzige.

»Wirklich?«, vergewisserte sich Baldair.

»Ich wurde hierhergebracht, um Informationen aus dem Innern von Soricium zu besorgen oder einen Zugang zur Festung zu schaffen. Ersteres habe ich getan, und unter den gegenwärtigen Umständen scheint mir das Zweite nicht nötig zu sein«, erklärte Vhalla angesichts der verwirrten und neugierigen Blicke. »Ich glaube, dass ich auf dem Schlachtfeld von größerem Nutzen bin.«

»Ich freue mich schon darauf, den legendären Tornado der Windläufer zu erleben«, bemerkte Jax grinsend.

»Wir wissen nicht, wie die Schlacht ausgeht und was danach noch vonnöten ist. Vielleicht müssen wir uns doch noch Zutritt zur Festung verschaffen«, gab Craig zu bedenken. »Da kommt es mir unklug vor, das Leben der einzigen Person aufs Spiel zu setzen, die uns das garantieren kann.«

Vhalla runzelte die Stirn. Da hatte er zwar recht, trotzdem freute sie sich nicht gerade über Craigs Einwurf.

»Wir sollten sie kämpfen lassen«, verkündete der Kaiser, was alle außer Vhalla und die beiden Prinzen überraschte.

Natürlich wollte er, dass sie kämpfte , dachte sie finster. Es würde sie nicht überraschen, wenn er im Durcheinander der Schlacht irgendeinen »Unfall« geplant hatte.

»Wenn sie kämpft, dann kämpft sie an meiner Seite«, stellte Aldrik klar, dem der gleiche Gedanken gekommen sein musste. Eine leise Drohung lag in seinem Ton und warnte jeden davor, ihm zu widersprechen.

Selbst Kaiser Solaris blieb stumm.

»Dann kämpft sie also mit Euch«, gab Major Zerian die endgültige Entscheidung bekannt.

Vhalla hörte, wie Aldrik tief Luft holte und sich dann über die Unterlagen und Karten beugte. Er quetschte den Namen seiner zukünftigen Braut auf die kleine freie Stelle neben seinem. Die Tinte trocknete, und damit war es besiegelt.

Die nächsten Tage verliefen angenehmer als erwartet. Nie hätte Vhalla damit gerechnet, an diesem Ende des Großen Kontinents Frieden und schon gar nicht Glück zu finden. Doch nur so und nicht anders ließen sich die Gefühle beschreiben, die sie in ihrem Herzen bewegte.

Die Vorbereitungen für den Kampf waren anstrengend. Fast jeden Tag ging sie in die Projektion und wenn sie das nicht tat, berichtete sie Aldrik von ihren Erkenntnissen, sodass sie das Heer entsprechend aufstellen konnten. Die Heeresführer akzeptierten sie inzwischen als eine der Ihren und hörten sich ihre Überlegungen an – selbst wenn Aldrik nicht direkt an dem Gespräch teilnahm, selbst wenn er sich um etwas anderes kümmerte. Es war ziemlich gewagt, aber die Truppenführer schienen kaum Probleme damit zu haben, dass Vhalla ihn in seiner Abwesenheit vertrat. Aldrik ermunterte sie dazu, indem er alles unterstützte, was sie entschied.

Der Kaiser behelligte sie oder Aldrik nicht, doch sie machte sich keine Illusionen darüber, dass auch er sie akzeptiert hatte. Viel eher war er so erzürnt über die Begeisterung, die Aldrik und seine Truppenführer ihr gegenüber an den Tag legten, dass er still seine Wunden leckte. Oder etwas Böses im Schilde führte. Sehr wahrscheinlich beides.

Mehr als einmal bemerkte Vhalla die Blicke, die auf ihre Uhr fielen. Aber keiner fragte danach – außer Fitz. Jedes Mal wenn Vhalla ihn besuchte, machte er Bemerkungen darüber.

Obwohl sie sich deswegen schuldig fühlte, erzählte sie ihm nichts von Aldriks Antrag, sondern bezeichnete das Schmuckstück als ganz normales Geschenk. Der Antrag kam ihr nach wie vor vollkommen unreal vor. Noch immer schien es ein Traum, eine Illusion, eine Fantasie, dass sie Aldrik eines Tages heiraten würde.

Während der Nacht bewies der Prinz ihr allerdings das Gegenteil – auf jegliche Weise, die ihm zur Verfügung stand.

Doch tagsüber blitzte etwas anderes immer häufiger in Vhallas Kopf auf, je näher der geplante Angriff rückte: die Axt. Sie wusste, dass sie existierte, das spürte sie tief in ihrem Inneren, und Minister Anzbel hatte sie gebeten, sie ihm zu beschaffen. Wenn diese Axt so mächtig war, wie er behauptet hatte, musste Vhalla um jeden Preis verhindern, dass sie in die falschen Hände geriet.

Auch am Vorabend der Schlacht kreisten ihre Gedanken nur darum. Dass sie blicklos ins Leere starrte, fiel ihr erst auf, als sie eine Hand an ihrem Rücken spürte. Erschrocken zuckte sie zusammen. Aldrik stand direkt neben ihr.

»Geh ins Bett«, befahl er ihr leise, weil er Vhallas Zerstreutheit für Erschöpfung hielt. »Das ist die letzte Nacht, und du brauchst allen Schlaf, den du bekommen kannst.«

»Und was ist mit dir?«, fragte Vhalla, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass niemand in Hörweite stand.

Aldrik schüttelte den Kopf. »Ich habe noch viel zu tun, es wird wohl spät werden. Aber nicht zu schlafen, ist ja eigentlich normal für mich.«

»Nicht mehr«, korrigierte Vhalla ihn.

»Du hast recht. Inzwischen ist es beinahe normal, dass ich die Nacht über schlafe.« Aldrik grinste.

»Ich ruiniere dich«, sagte Vhalla neckend.

»Wie kannst du es wagen, dafür zu sorgen, dass ich genug schlafe und mich um mich selbst kümmere?«, entgegnete Aldrik im selben spöttischen Ton.

»Ist es denn wirklich in Ordnung, wenn ich jetzt gehe?« Vhalla ließ den Blick durch die Halle schweifen, in der noch immer reges Treiben herrschte.

»Wir müssen alle irgendwann schlafen. Einige haben sich bereits zurückgezogen.«

»Und wann kommst du?«

»Bald.« Aldrik schaute sie nicht an.

»Wie bald?« Vhalla wusste genau, dass er ihr auswich.

»Vielleicht wenn es dämmert.« Aldrik fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht. »Warte nicht auf mich.«

»Na schön.« Vhalla seufzte und schielte verstohlen zum Kaiser. Sie hatte heute wieder viel Zeit an Aldriks Seite verbracht und würde ihr Glück nicht weiter herausfordern, indem sie ihn dazu drängte, mitzukommen. Es war sowieso schon ziemlich offensichtlich, wie oft sie sich zur selben Zeit zurückzogen.

Sobald er sich wieder auf die Arbeit konzentrierte, sackten Aldriks Schultern nach unten. Vhalla wandte sich ab, und die verbliebenen Truppenführer nickten ihr respektvoll zu. Nur der Kaiser nahm ihren Abgang nicht zur Kenntnis.

Vhalla wollte gerade in Aldriks Zimmer schlüpfen, als ein leicht zerzaust aussehender Baldair aus dem seinen trat. Ihr war gar nicht aufgefallen, dass er nicht mehr in der Halle gewesen war.

»Hallo, Vhalla.« Gähnend lehnte sich Baldair an den Türrahmen.

»Hallo, Baldair.« Sie schenkte ihm ein leises Lächeln.

Der Prinz spähte den Gang entlang. »Vhalla, vielleicht habe ich keine Gelegenheit, es dir zu sagen …«

»Was denn?«

»Viel Glück.« Schlichte Worte, aber sie kamen von Herzen. »Und bleib am Leben.«

»Das habe ich vor.« Vhalla grinste müde. »Und du auch, Baldair.« Sie griff schon nach der Türklinke, als Baldair noch ein »Du würdest mir fehlen« hinterherschob.

»Was?«

»Wenn dir etwas zustoßen würde, würdest du mir fehlen.«

»Deine Zuneigungsbekundungen kommen ein bisschen spät«, sagte Vhalla und lachte kurz auf.

»So meine ich es nicht, und das weißt du auch.« Er wuschelte ihr durchs Haar, dann legte er seine Hand einen kurzen Moment auf ihren Scheitel. »Während der vergangenen Wochen bist du ein Teil der Familie geworden, und irgendwie habe ich dich gern um mich.«

»Irgendwie?« Vhalla konnte sich den Kommentar nicht verkneifen.

»Bei der Mutter, Frau, nimm das Kompliment einfach an!« Er stemmte die Hände in die Hüften und schmunzelte.

»Ich habe dich auch gern um mich, Baldair.« Vhalla lächelte. Es war ein langer Weg bis hierhin gewesen. »Jetzt wo du mich nicht länger wegen deines Bruders quälst.«

»Ja, hm …« Er rieb sich über die Stirn. »Ich wollte eigentlich nur helfen. Euch beiden. Aber du hast unglaubliche Veränderungen bei ihm bewirkt. Er ist nicht mehr der Mann, der er noch vor einem Jahr war, und das verdanken wir dir. So wie jetzt habe ich ihn nie zuvor erlebt, und es tut mir leid, dass ich versucht habe, diese Entwicklung zu bremsen.«

»Ich bin dir nicht böse«, entgegnete Vhalla, weil sie merkte, dass er auf ihre Absolution hoffte.

»Das freut mich«, sagte der Prinz aufrichtig. »Wenn wir erst einmal zurück im Palast sind, würde ich dich gern noch einmal neu kennenlernen, Vhalla.«

»Ach ja?« Sie zog die Augenbrauen hoch.

»Bisher habe ich dich nur als Bibliothekselevin erlebt, die meinem Bruder Belustigung und Zeitvertreib war.« Vhalla schnaubte empört. »Dann als Soldatin, als neues Mitglied der Schwarzen Legion meines Bruders«, fuhr Baldair fort. »Und schließlich als Aldriks … Geliebte .« Das Wort »Geliebte« versteckte er in einem Husten.

»Als ob du deinen Bruder noch nie zusammen mit einer Frau erlebt hättest«, zog ihn Vhalla auf.

»Normalerweise tue ich das auch nicht! Es ist so … seltsam! Er ist eigentlich nicht dieser warmherzige, freundliche Mensch«, widersprach Baldair. Dann fiel sein Blick auf ihre Brust und die Leichtigkeit zwischen ihnen war dahin.

Vhalla begriff sofort, was Baldairs Aufmerksamkeit geweckt hatte. Unsicher bedeckte sie die Uhr, die nun schon vollkommen vertraut um ihren Hals hing, mit der Hand.

»Ich möchte dich einfach nur besser kennenlernen, das ist alles«, sagte Baldair bedächtig. »Als die Frau, die mein Bruder für würdig erachtet.«

»Ich möchte dich auch gern besser kennenlernen«, erwiderte Vhalla mit leiser Stimme. Er wusste es , da war sie sich sicher. Genau wie sie erkannte Baldair Aldriks Schmiedekünste auf Anhieb, und selbst wenn er nicht ahnte, dass die Uhr ein Unterpfand für ihre Verlobung war, war dem jüngeren Prinzen doch offenkundig bewusst, dass sie eine besondere Bedeutung besaß. Dass sich die Situation offiziell geändert hatte.

»Wir sehen uns.« Baldair fasste sie am Oberarm. »Wenn wir den Sieg feiern.«

Vhalla nickte lächelnd und blickte ihm nach, als er davonging.

Sieg. In Aldriks Zimmer spukte ihr das Wort weiter im Kopf herum. Morgen würden sie gegen die letzte Bastion des Nordens kämpfen. Vhalla umklammerte wieder die Uhr und fasste einen Entschluss.

Sie legte ihr Kettenhemd an, setzte die Kapuze auf, dann öffnete sie den Fensterladen und schlüpfte hinaus in die Nacht. Mit schnellen Schritten entfernte sie sich unbemerkt vom Lagerpalast.

Ihr blieb nur diese eine Nacht. Sie hatte Zeit, bis der Morgen anbrach – bis ihr Prinz in sein Zimmer zurückkehren und sich im Bett an sie schmiegen würde. Vhalla musste ihnen den Sieg garantieren. Irgendwo dort in der Finsternis wartete eine Axt, die Seelen durchtrennen konnte.