SIEBZEHN

Mit gesenktem Kopf hastete Vhalla durchs Lager. Eine spürbare Tatkraft lag im Tun der Soldatinnen und Soldaten, trotzdem schob sie sich ungehindert durch das nervöse Gewusel. Das Heer wusste von dem bevorstehenden Angriff, und alle schienen sich für das zu rüsten, was der nächste Tag ihnen bringen mochte.

Mehr als einmal sah sie, wie Soldatinnen und Soldaten gemalte Flügel auf ihre Kleidung nähten oder das Symbol der Windläuferin in ihre Rüstung kratzten. Vhalla biss sich auf die Lippe und dachte an Timanthia. Was war hier draußen passiert, während sie selbst so konzentriert im Lagerpalast gearbeitet hatte? Glaubten all diese Leute wirklich, dass ein bloßes Symbol sie beschützen würde gegen das, was der Norden aufzubieten hatte?

Doch Vhalla sprach niemanden darauf an, sondern begab sich zielstrebig zum Rand des Lagers und überwand dann den Schutzwall, um zu der brandgerodeten Freifläche zu gelangen, die entlang des Walls verlief. Einen Augenblick fragte sie sich, wie Soricium vor der Belagerung ausgesehen haben mochte. Dort wo jetzt die kaiserliche Armee kampierte, hatten bestimmt Bäume gestanden. War es hier wie in der Hauptstadt des Südens gewesen, wo rund um den Palast Tausende von Menschen lebten?

Gern hätte sie den Blick über das Lager schweifen lassen, aber sie wollte sich jetzt nicht umdrehen – denn dann hätte ihr Verfolger gewusst, dass sie ihn bemerkt hatte. Schon seit sie sich aus dem Lagerpalast geschlichen hatte, waren hinter ihr Schritte zu hören gewesen. Zunächst hatte Vhalla geglaubt, es sei ein Soldat, der einfach nur in dieselbe Richtung wollte wie sie, aber schnell war klar, dass sich jemand an ihre Fersen geheftet hatte.

Mit geballten Fäusten wartete sie, bis die Person den Wall überquert hatte und die verbrannte Fläche betrat. Bis sie allein waren. Dann holte sie tief Luft und bereitete sich innerlich vor. Es gab nur einen Grund, warum ihr jemand folgen sollte. Doch egal, was Jadars Recken im Schilde führten, sie würden keinen Erfolg haben.

Sie verlagerte das Gewicht auf einen Fuß, wirbelte herum und hob die Hand vor die Brust. Sofort spürte sie die Magie in ihren Fingern – bereit, loszuschlagen. Doch sobald ihr Blick sich mit dem ihres Verfolgers kreuzte, erstarrte sie.

»Daniel?«, stieß Vhalla verwirrt hervor.

»Wo willst du hin?« Seine Hand lag locker auf seinem Schwertknauf, ein Zeichen seines jahrelangen Trainings. Wenn sie jetzt angegriffen hätte, wäre er bereit gewesen. Er wäre ihr ausgewichen und hätte zurückgeschlagen, ehe sie auch nur einmal hätte blinzeln können – wenn sie nicht von Aldriks enormen Kampfkünsten profitiert hätte.

»Wo willst du hin?«, gab sie schließlich zurück.

»Ich habe zuerst gefragt.« Eine kindische Antwort, doch sie erzielte ihre Wirkung.

Vhalla veränderte ihren Stand und ließ die Hand sinken. »Es gibt da etwas, das ich tun muss.«

»Etwas Leichtsinniges«, ergänzte er.

Vhalla zuckte mit den Schultern. »Schon möglich.« Sie hatte sich ehrlicherweise nicht so viele Gedanken über ihr Vorhaben gemacht. Sie wusste nur, dass es getan werden musste.

»Schon möglich«, sagte Daniel, mehr zu sich selbst, und schüttelte schmunzelnd den Kopf. Dann hob er den Blick.

Nie hätte Vhalla damit gerechnet, dass er sie noch mal auf diese Weise ansehen würde. Mit einer so tiefgehenden Zärtlichkeit und einer Verehrung, die in Vhalla den Impuls weckten, ihn umgehend daran zu erinnern, dass sie vergeben war. Sie musste an die Uhr unter ihrem Kettenhemd denken.

»Ich kenne dich.« Daniel machte einen Schritt auf sie zu. »Du hast da diesen Hang zu riskanten Aktionen und die Gabe, dir Ärger einzubrocken.«

»Na und?« Vhalla hob das Kinn. »Willst du mich etwa dazu zwingen, ins Lager zurückzukehren?«

Der Ostländer lachte und strich sich das braune Haar nach hinten. »Ganz gewiss nicht. Du kannst mit deinem Leben tun, was du willst. Aber ich werde dich beschützen, wenn du mein Schwert akzeptierst.«

»Weil Baldair das befohlen hat?« Sie wusste nicht, warum die Antwort ihr wichtig war.

»Habe ich je einen Befehl gebraucht, um in deiner Nähe zu sein?«, fragte Daniel. Eine Aussage, gegen die Vhalla nichts vorbringen konnte.

Aber sie begriff, dass Daniel gedacht hatte, sie würde auf Baldairs ursprünglichen Befehl, sie in jeglicher Lage zu beschützen, anspielen. »Dann hat er dich also nicht geschickt?«

»Baldair?« Jetzt war auch Daniel verwirrt. »Nein, ich habe dich durchs Lager gehen sehen und beschlossen, herauszufinden, wo du hinwillst.«

»Woher wusstest du, dass ich es bin?«

Daniel kam noch näher – bis der Abstand zwischen ihnen so gering war, dass es sich ein bisschen übergriffig anfühlte. Daniel war nur noch einen Hauch von ihr entfernt, und wenn sie nicht beide in Rüstung gewesen wären, hätte sie den Arm ausstrecken und seine durchtrainierte Brust berühren können – hätte spüren können, wie sich die Muskeln unter ihrer Hand wölbten. Daniels haselnussbraune Augen leuchteten warm wie ein Sommertag.

»Es gibt kein zweites Kettenhemd wie dieses.« Er fuhr mit den Fingern über den Saum von Vhallas Kapuze, dabei berührte eine raue Fingerkuppe Vhallas Stirn.

Was Daniel betraf, so hatte sich wohl nichts geändert. Obwohl er von ihr und Aldrik wusste, obwohl er wusste, dass Vhallas Herz vergeben war, hatte er noch immer mehr als freundschaftliche Gefühle für sie. Doch als er die Hand wegzog, zeigte er, dass er die Rolle akzeptierte, die er in ihrem Leben noch spielen konnte.

Widerstreitende Gefühle machten Vhalla das Herz schwer.

»Wirst du mir denn jetzt sagen, was du hier draußen vorhast?« Daniel trat zurück und ließ ihr wieder mehr Raum.

Vhalla überlegte kurz. »Je weniger du weißt, desto besser.« Mit diesen Worten setzte sie sich in Bewegung, denn es gab keine Zeit zu verlieren.

»Das klingt verhängnisvoll.« Daniel kam an ihre Seite.

Vhalla blickte zu dem Bauwerk, dem sie sich gerade näherten. Es war eine verhängnisvolle Nacht. Der Vollmond starrte auf sie herab wie das riesige Auge des Drachen Chaos, das er der Sage nach besaß. Je näher sie den Ruinen von Alt-Soricium kamen, desto stärker wurde Vhallas Gefühl, beobachtet zu werden.

Es war dasselbe Gefühl wie damals in Estrela, als die Augen einer Feuerzähmerin viel zu lange auf ihr geruht hatten. Aber vom Laden der Wahrsagerin trennte sie nun ein halber Kontinent. Sehr viel wahrscheinlicher spürte sie die Augen des auf der Lauer liegenden Feindes.

Die Ruinen waren größer, als Vhalla sie in Erinnerung hatte. Sie erstreckten sich weit entlang der verbrannten Freifläche und ragten höher empor als jedes andere Gebäude, das Vhalla kannte – bis auf den Palast in Solarin. Vhalla kam sich schrecklich klein vor. Äste und Wurzeln durchdrangen den Stein, aber nicht sehr tief, wie es schien. Unter der bröckelnden Fassade befand sich eine Schicht glatten Steins – Ähnliches hatte sie in der Festung von Soricium gesehen.

»Hat die schon mal jemand erkundet?«, fragte sie Daniel. Das war garantiert nicht seine erste Runde um das Lager, also wusste er es vielleicht.

»Die Ruinen? Nein.« Er schüttelte den Kopf.

Vhalla blieb am Waldrand stehen, schaute in die gähnende Finsternis des dichten Blätterdachs. Nicht einmal das Licht des Mondes drang bis auf den Waldboden. Als sie diesen Urwald das letzte Mal durchquert hatte, wäre sie fast nicht mit heiler Haut davongekommen. Vhalla ballte die Fäuste und ging weiter – zutiefst dankbar, dass Daniel bei ihr war.

Langsam umrundeten sie das Gebäude und Vhalla fuhr mit der Hand an den Steinen entlang. Alt-Soricium besaß eine Magie, die ihr vollkommen fremd war. Die Magie, die Vhalla kannte, war stets in Bewegung. Feuerzähmer ließen Flammen knistern und lodern, Wasserwandler zogen Wassermassen ab oder ließen sie frei strömen, Erdgebieter waren dynamisch und schillernd in ihrem magischen Wirken. Doch dies – dies war ein Pulsieren, das seinen Ursprung in etwas viel Tiefgreifenderem hatte als in einem gewöhnlichen Magiefluss.

Selbst Daniel war ganz still geworden. Sein Blick verriet, dass er höchst alarmiert war. Er suchte Baumwipfel und Waldboden nach Anzeichen von möglichen Angreifern ab. Vhallas Nackenhaare stellten sich auf. Das Gefühl, beobachtet zu werden, wurde so stark, dass sie innehielt und ihre magische Sicht aktivierte. Dann lauschte sie, ob ihr Wind Atemgeräusche der Feinde zu ihr trug.

Nichts regte sich.

Der Wald war so unheimlich und still, dass Vhalla sich umdrehte, um vom Rand her wenigstens ein bisschen Mondlicht zu erhaschen. Doch das dichte Unterholz hatte sich bereits hinter ihnen geschlossen und versperrte den Blick auf die kaiserliche Zeltstadt. Als wäre der Wald eine hungrige Bestie, die sie ganz verschluckt hatte.

Ihnen blieb nichts anderes übrig, als weiterzugehen. Vhalla wusste nicht, wonach sie suchte, doch als sie an der Rückseite der Ruine ankamen, war sie erleichtert und gleichzeitig völlig frustriert. Auch hier schützten durch magische Kräfte geformte Steine das Innere des Gebäudes vor Eindringlingen – selbst vor den Bäumen.

Im Geiste ging sie alles durch, was sie über die Axt wusste. Achel ruht in ihrem Steingrab. Wenn man bedachte, wohin Za bei diesen Worten geschaut hatte, war Vhalla sich ziemlich sicher, dass dies das besagte Steingrab war.

Unter den wachsamen Augen der Götter.

Sie blickte nach oben – dorthin, wo die Baumwipfel nicht bis zur Spitze des Gebäudes heranreichten. Weit über ihr war ein großes Auge, das auf die Welt herabsah: die Götter .

»Moment mal, was machst du denn?«, zischte Daniel, als Vhalla einen Fuß gegen die Mauer stemmte.

»Wir kommen nur von oben hinein«, erwiderte Vhalla im Flüsterton. Ihre Füße waren bereits auf Höhe seines Kopfes.

»Vhalla, wenn du runterfällst …«

»Ein Sturz kann mir nichts anhaben, weißt du nicht mehr?« Jeder andere hätte wahrscheinlich vor einem so hohen Gebäude kapituliert. Vhalla aber merkte, wie ihr das Atmen immer leichter fiel, je weiter sie sich mit den Armen nach oben zog und dabei sicheren Halt mit den Füßen fand. Dort oben war es luftiger als in der Tintenschwärze des Urwaldbodens. Dem Himmel entgegenzuklettern, bedeutete Freiheit.

Daniel tat sich weitaus schwerer als sie, und er machte furchtbar viel Lärm.

Angespannt hielt Vhalla auf einem schmalen Vorsprung inne. Daniel verursachte genug Getöse, um jeden in ihrer Nähe auf sie aufmerksam zu machen. Außerdem behinderte ihn seine Rüstung zu sehr, um wirklich voranzukommen. Vhalla seufzte leise, weil sie wusste, was sie ihm jetzt sagen musste. »Du kannst mir nicht folgen, Daniel.«

»Vhalla!«, protestierte er mit Panik in der Stimme.

»Du hast es selbst gesagt: Wenn man hier herunterfällt, geht das nicht gut aus.«

»Aber ich will mit dir kommen.«

»Zwing mich nicht dazu, mit anzusehen, wie noch ein Mann abstürzt, der mir etwas bedeutet«, stieß Vhalla, ohne nachzudenken, hervor. Noch ein Mann, der mir etwas bedeutet. An Daniels Miene erkannte sie die Wirkung ihrer Worte. Wahrscheinlich schaute sie selbst genauso überrascht drein wie er. Vhalla schluckte. »Geh zurück zum Schutzwall und warte da auf mich. Wenn ich bei Anbruch der Morgendämmerung nicht zurück bin, hole Aldrik.«

»Bitte lass mich nicht so lange in Sorge zurück«, verlangte Daniel.

»Werde ich nicht.«

Daniel setzte sich in Bewegung und Vhalla blickte ihm nach. Dann wandte sie sich wieder der Steinwand zu. Sie fühlte sich unangenehm an unter ihren Händen – fast als verweigere sie sich jeder Berührung. Wann immer Vhalla sich mit den Füßen in eine Ritze stemmte, hatte sie das widerliche Gefühl, als setzte sie die Sohlen ihrer Stiefel auf das Gesicht eines Menschen. Das Hinaufklettern an sich war gar nicht so schwer, aber die Abscheu, die die Ruinen ihr gegenüber ausstrahlten, ließ es länger und beschwerlicher werden, als es hätte sein müssen.

Als Vhalla ganz oben anlangte, hing der Mond direkt über ihr. Sie keuchte leise vor Anstrengung, richtete den Blick aber sofort auf eine dunkle Stelle in der Mitte des Daches, auf dem sie sich befand. Mit vorsichtigen Schritten ging sie dorthin und spähte hinein.

Was sie sah, verschlug ihr den Atem. Das Licht des Mondes strömte durch die Öffnung und wurde von Hunderten kleiner Punkte reflektiert, sodass es in das Leuchten zahlloser Sterne zersplitterte – ein wirbelnder Mikrokosmos purer Magie. Das war die Macht, die im Innern der massiven Steinmauern eingeschlossen war. Vhalla kauerte sich an den Rand und blickte hinab. Der Boden im Innern des Gebäudes schien nicht sehr weit entfernt zu sein. Die Frage war, ob sie angesichts der unzähligen Kristalle ungefährdet dort landen konnte.

Zentimeterweise schob Vhalla sich bis zum Rand vor, holte dann tief Luft und sprang hinein. Das Mondlicht verblasste rasch und Vhalla überließ sich dem Wind, der ihren Sturz auf einen großen Kristall abbremste. Es gelang ihr, an ihm herabzugleiten und mehr oder weniger unverletzt unten aufzukommen, wenn auch etwas unsanft.

Vhalla rieb sich den Hinterkopf, den sie sich an einem der Kristalle angeschlagen hatte, und hob den Blick. Die gewölbte Decke über ihr schien von Magie geradezu zu leuchten. Aber vielleicht war das auch nur eine Sinnestäuschung. Sie blinzelte gegen ihre Benommenheit an und sprang auf.

Jeder Kristall, den sie berührte, strahlte Magie ab. Sobald ihre Füße oder ihre Hände über einen Stein glitten, erwachte dieser schimmernd und funkelnd zum Leben – in der Farbe der ältesten Gletscher in den höchsten Bergen des Südens. Die Magie griff nach Vhalla, umspielte ihre Finger, lockte sie, Gebrauch von ihr zu machen. Trotz der unglaublichen Kräfte, die in diesem Raum versammelt waren, gab es einen Gegenstand, der ihre Aufmerksamkeit besonders auf sich zog.

Auf den ersten Blick wirkte Achel nicht besonders beeindruckend. Sie war nicht länger als Vhallas Unterarm. Der flache Griff der Axt war mit Lederstreifen umwickelt, die schon ganz mürbe wirkten. Aber die Klinge. Sie glänzte heimtückisch, und schien aus einem einzigen schimmernden Stein herausgemeißelt zu sein. Achels Kraft war so gewaltig, dass sie Vhalla bis ins Mark drang.

Kristallwaffen gab es wirklich.

Nichts sonst gab es hier. Nur die Kristalle, die sich aus allen Wänden dem zentralen Sockel, auf dem Achel ruhte, entgegenreckten. Die Klinge der Axt war auf einen weiteren Kristall gebettet.

Langsam ging Vhalla näher heran.

Es gab keine Anzeichen für eine Falle oder einen Hinterhalt, was sie nur noch misstrauischer machte. Die Axt übte einen solchen Reiz auf Vhallas Magie aus, dass sie ganz nervös wurde. Die Macht Achels ähnelte der von Aldrik, sodass Vhalla beinahe seine Haut an ihrer spürte. Für einen kurzen Moment schloss sie die Augen.

Dann kehrte das Gefühl, beobachtet zu werden, mit Macht zurück, und Vhalla riss die Augen wieder auf. Angespannt warf sie einen Blick über die Schulter. Niemand zu sehen. Nur die Kristalle. Und sie hatte keine Ahnung, wie sie aus diesem Raum wieder entkommen sollte.

Innerlich mit sich ringend betrachtete Vhalla die Axt, dann streckte sie die Hand aus, zögerte aber wieder. Und wenn Achel hier viel besser geschützt war als irgendwo sonst? Ihre Hand zitterte so sehr, dass sie aus Versehen mit den Fingern den Griff streifte und Achels Magie hell erstrahlte.

Als sich der ganze Raum mit Licht füllte, musste Vhalla die Augen abschirmen. Blinzelnd versuchte sie ihre Sicht wieder zu normalisieren.

»Lasst sie ruhen.« Die Stimme war geisterhaft, schwach, schaurig und merkwürdig vertraut. Einzelne Magiefetzen schwebten durch die Luft wie leuchtende Federn aus silbrigem Mondlicht.

Vhalla war nicht länger allein. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes stand eine Frau, ganz in schwarzes Leder gekleidet, das ihre üppigen Kurven eng umspielte. Sie hatte einen langen Schal in tiefem Purpur um Schultern und Kopf geschlungen, der Vhalla an die Gewänder der Priesterinnen erinnerte. Einzig sichtbar in ihrem Gesicht waren ihre leuchtenden rubinroten Augen.

Vhalla wollte die Frau fragen, wer sie war. Sie wollte die Beine fest im Boden verankern und sich auf einen Kampf gefasst machen. Aber sie konnte keinen Muskel rühren.

»Lasst die Waffe ruhen; lasst Achel in seinem Grab«, wiederholte die Frau. Durch den Schal klang ihre Stimme dumpf. Sie hob die Hand, und über ihrem Arm erschienen seltsame Zeichen in geisterhaftem Weiß. Das Ganze erinnerte Vhalla vage an die außergewöhnliche Magie, die die Anführerin in der Festung von Soricium gewirkt hatte. Doch diese Frau schien keine Nordländerin zu sein. Wenn man von ihrer dunklen Haut um die Augen ausging und den einzelnen Haarsträhnen, die unter dem Schal hervorquollen, sah sie eher westländisch aus. Vielleicht.

Die Frau legte die Hand auf die Kristalle hinter sich. Die Steine ächzten und knackten, verformten sich unter ihrem Einfluss auf unnatürliche Weise. Sie machten einen Weg in den Wald frei, und wieder tanzten dieselben zersplitterten Mondlichtstrahlen durch die Luft. Die Zeichen über dem Arm der Frau verblassten.

»Hört auf meine Warnung und geht. Rührt die Magie der Götter nicht an, Vhalla Yarl.«

Endlich fand Vhalla ihre Stimme wieder. »Wer seid Ihr?«

»Ich habe schon viele Namen gehabt«, flüsterte die Frau.

Ihr Glühen schwächte sich ab, ihre Gestalt bestand jetzt mehr aus Licht als aus Fleisch und Blut. Die Frau schien unter der Last ihres eigenen Gewichts zu zerbrechen, die Finsternis zerschmetterte ihr Antlitz. Als Vhalla sich wieder vollständig rühren konnte, war die Frau verschwunden.

Vhallas Knie gaben nach. Laut keuchend brach sie zusammen. Im Nachhall dieser Erscheinung ging ihr ein Schauer durch und durch – war es Magie gewesen? Vhalla hatte keine Ahnung, was sie da gerade erlebt hatte, aber es lag jenseits von allen bisherigen Erfahrungen.

Die einzig vernünftige Erklärung war, dass es sich um eine Art Schutzmechanismus handelte, der von den Kristallen ausging. Ein heraufbeschworener Geist, der jeden verscheuchen sollte, der es auf die Axt abgesehen hatte. Doch die Öffnung nach draußen war immer noch da.

Vhalla rappelte sich auf und betrachtete Achel.

Wenn sie die Waffe hierließ, konnte irgendein Nordländer hier hereinspazieren und sich Achel holen. Vhalla war mehr denn je davon überzeugt, dass sie alle in ernster Gefahr schwebten, sollte es tatsächlich so kommen. Durch die kreisförmige Öffnung ganz oben im Raum war der Mond schon nicht mehr zu sehen. Also durfte Vhalla keine Zeit verlieren.

Sie umfasste den Griff.

Die Kraft von Achel sandte Schockwellen durch ihren Körper. Die Waffe lechzte danach, befreit zu werden. Sie war bereit, auf die Welt losgelassen zu werden. Sobald sie auch nur einen Finger an ihrem Griff bewegte, kam es Vhalla so vor, als flüsterte Achel: »Ja, ja, ja.«

Ohne große Mühe konnte sie die Waffe ablösen. Ein leichtes Ziehen und ein bisschen Magie – schon gab der Kristallsockel seinen Gefangenen frei. Dabei ertönte ein deutlich hörbares Knacken, dann wurde es still im Raum.

Gleich darauf ging ein Knirschen und Knistern durch das Gewölbe, das an dünnes Eis erinnerte. Zu dünnes Eis, das unter seinem eigenen Gewicht zersplitterte. Alarmiert setzte Vhalla sich in Bewegung. Bei jedem Schritt zerbrachen die Kristalle unter ihr.

Sie rannte in den Gang, warf sich im Laufen die Kapuze über, um keine Kristallsplitter ins Gesicht zu bekommen. Sie fielen wie ein Glasregen auf sie herab, und aus dem leisen Klirren und Krachen wurde bald lautes Poltern und Bersten. Vhallas Herz raste und sie fürchtete schon, in dem einstürzenden Gebäude gefangen zu werden. Doch einen halben Atemzug später war sie draußen.

Keuchend blickte sie zurück. Noch immer lösten sich Kristalle ab, nunmehr trüb und inaktiv und fast obsidianschwarz in der Finsternis.

Vhalla hastete weiter, denn der Lärm würde die Aufmerksamkeit aller Nordländer auf sich ziehen, die in der Nähe waren. Sie lief um das Gebäude herum und kam dann schlitternd zum Stehen, denn sie befand sich bereits auf der brandgerodeten Freifläche entlang des Schutzwalls. Zuvor war ihr das Ausmaß der Ruinen viel größer vorgekommen.

»Vhalla!« Daniel, der sich außer Sichtweite der Patrouillen am Fuße eines Baumes niedergelassen hatte, sprang auf.

»Ich wollte gerade Hilfe holen.« Rasch kam er auf sie zu.

»Was?« Vhalla blickte wie gebannt zum Himmel. Der Mond stand tief und die Sterne verblassten bereits. Sie sah, was sie eigentlich nicht sehen wollte. »Ich war doch nur kurz dort … vielleicht eine Stunde.«

»Du warst stundenlang weg«, berichtigte Daniel sie. Sein Blick fiel auf die Axt, die Vhalla mit eisernem Griff umklammert hielt. »Bei der Mutter, was ist das denn?«

Vhalla senkte den Blick – sie hatte Achel ganz vergessen. Die heraufziehende Morgendämmerung ließ die Waffe schwach glänzen, wobei die Axt selbst auch ein unnatürliches Licht verströmte. Vhalla schaute rasch zu Daniel. Was sie tun würde, wenn sie die Waffe erst einmal in Händen hielt, hatte sie sich vorher nicht überlegt. Und natürlich hatte sie auch nicht geplant, dass ausgerechnet Daniel etwas davon mitkriegen würde.

»Ich muss sie verstecken«, flüsterte Vhalla eindringlich. »Niemand darf wissen, dass ich sie habe.«

Daniel wirkte zutiefst verunsichert. »Was ist das überhaupt?«

»Das spielt keine Rolle«, erwiderte Vhalla, wobei sich alles in ihr verkrampfte, weil sie ihn nicht einweihte. So tolerant Daniel beim Thema Magie war, er wäre bestimmt nicht begeistert über die Vorstellung von Waffen aus Kristall. Nicht einmal Magier waren über die Vorstellung von Kristallwaffen begeistert. Die einzigen Menschen, die sich je dafür begeistert hatten, waren Wahnsinnige und Mörder, wie es schien. »Der Morgen bricht an. Ich muss zurück in den Lagerpalast.«

Und dann überkam sie Panik. Sie konnte Achel nicht mit zu Aldrik nehmen. Sie durfte es nicht riskieren, dass er die Waffe entdeckte, nun da sie wusste, dass allein der Gedanke an Kristalle ihn nervös machte.

Sollte Vhalla die Axt irgendwo vergraben? Aber was, wenn jemandem die frisch aufgeworfene Erde ins Auge stach und er nachschaute? Oder wenn sie Achel nicht tief genug vergrub und der Regen oder schwere Stiefelschritte die Waffe wieder zutage förderten? Der einzige Ort, an dem Achel garantiert sicher war, war bei Minister Anzbel. Er würde wissen, was damit zu tun war. Doch er befand sich nun mal am anderen Ende des Kontinents.

»Hilf mir.« Fieberhaft versuchte Daniel, die Verschlüsse seiner Rüstung zu lösen.

Vhalla starrte ihn einfach nur verwirrt an.

»Vhalla, hilf mir aus meiner Rüstung!«

Sie betrachtete die Axt in ihrer Hand – völlig ratlos, wie sie Daniel helfen konnte, während sie die Waffe wie einen Schraubstock umklammert hielt.

»Leg das Ding weg und hilf mir, Vhalla«, sagte Daniel jetzt in sanfterem Ton.

Seiner Aufforderung zu gehorchen, fiel ihr leichter, als das Chaos in ihrem Kopf zu sortieren. Vhalla ließ Achel fallen und kam wieder zu sich. Schon stand sie neben Daniel, um ihm seinen Brustpanzer und die Schulterplatten abzunehmen. Durch die viele Zeit, die sie mit ihm als Serien verbracht hatte, waren ihre Finger den Umgang mit der Rüstung eines Schwertkämpfers gewohnt. Daniel warf die Sachen zu Boden, danach zog er sein Kettenhemd aus. Er machte sich nicht die Mühe, die Lederschienen an seinen Armen zu entfernen, sondern zog stattdessen den Dolch aus einer seiner Beinschienen und schnitt sein Hemd an den Armen ab.

Die Hitze stieg Vhalla in die Wangen beim Anblick seines muskulösen Oberkörpers.

»Vhalla.« Daniel wedelte mit einem Stoffstreifen vor ihrem Gesicht herum. »Wickle die Waffe da rein.«

Endlich begriff sie, was er von ihr wollte. Hastig riss Vhalla ihm den Stoff aus der Hand, kniete sich hin und schlug Achel sorgfältig darin ein. Eigentlich hatte sie erwartet, dass eine Waffe, die dafür berühmt war, alles durchtrennen zu können, durch den Stoff schneiden würde wie ein heißes Messer durch Butter. Aber die Axt ließ sich widerstandslos in den Stoff einwickeln. Einmal, zweimal, dreimal.

Bis Vhalla sich vom Boden erhob, hatte Daniel seine Rüstung schon fast wieder angelegt. Eilig half sie ihm, die restlichen Haken zu schließen.

»Du musst zurück, oder?«, fragte er und trat beiseite.

Vhalla nickte stumm. Zu wem sie zurückkehrte, hing schwer zwischen ihnen in der Luft – fast als wäre der Prinz persönlich anwesend.

»Ich nehme sie und verstecke sie.« Daniel hob Achel vom Boden auf. »Bei mir wird niemand Verdacht schöpfen oder meine Sachen durchwühlen. Du kannst sie dir später holen.«

»Benutze sie auf keinen Fall!« Zwar hatte Vhalla keinen triftigen Grund, ihn davor zu warnen, aber es fühlte sich richtig an. Der Waffe wohnte eine weitreichende Macht inne, der Vhalla misstraute. Sie wusste nicht einmal, ob sie es sich selbst zutraute, Achel ein weiteres Mal in die Hand zu nehmen. »Und fass sie auch nicht so oft an«, fügte sie hinzu, weil ihr bewusst war, wie die Kristalle einen Menschen verderben konnten.

»Ich nehme sie schon nicht mit ins Bett oder so.« Daniel schmunzelte, doch Vhalla sah ihn weiterhin ernst an. »Na schön, du hast mein Wort, ich rühre sie nicht an.«

»Danke.«

»Und jetzt lauft, Lady Yarl, sonst fällt es noch auf, dass Ihr nicht die ganze Zeit in Eurem Bett gelegen habt.« Daniel lächelte sie müde an.

Vhalla machte einen Schritt rückwärts – noch konnte sie den Blick nicht von ihm lassen. »Danke«, flüsterte sie noch einmal. Zweifellos wusste er, dass dieser Dank viel mehr umfasste als seine Bereitschaft, die Waffe für sie zu verbergen.

Daniel nickte. »Jederzeit.«

Endlich drehte Vhalla sich auf dem Absatz um, setzte die Kapuze auf und versuchte, möglichst unauffällig durchs Lager zum Lagerpalast zurückzukehren. Je weiter sie sich von Achel entfernte, desto unbeschwerter fühlte sie sich. Doch eine ganz bestimmte Empfindung verschwand nicht, bis Aldrik später wieder an ihrer Seite war. Sie blieb bestehen, bis der Prinz, der nichts von ihren Abenteuern ahnte, Vhalla, durch seine Berührung dazu brachte, alles andere zu vergessen.

Es war das unangenehme Gefühl, beobachtet zu werden.