ACHTZEHN
Obwohl sie beide schon länger wach waren, hatten Vhalla und Aldrik noch kein Wort gesprochen. Der Kronprinz und seine Zukünftige lagen einander gegenüber, verschränkten immer wieder die Finger miteinander, während es draußen heller und heller wurde. Mit ihrer freien Hand spielte Vhalla mit der Uhr um ihren Hals.
»Vhalla«, sagte Aldrik endlich und sein Tonfall verriet ihr, dass ihr nicht gefallen würde, was er gleich sagen wollte. »Falls …«
»Bitte nicht.« Vhalla schmiegte ihr Gesicht an seine nackte Brust. Mit einem tiefen Atemzug prägte sie sich seinen typischen Geruch nach Rauch, Feuer und Schweiß ein, unter dem ein schwacher Eukalyptusduft lag.
Die Nase in ihrem Haar vergraben schüttelte Aldrik den Kopf. »Falls …«, sagte er beharrlich, »… die Schlacht nicht so läuft wie geplant … Falls mir etwas zustoßen sollte …«
»Aldrik«, flehte Vhalla. Noch lag der Tag erst vor ihnen, aber ihre Entschlossenheit begann schon jetzt zu schwinden.
»Dann sag Baldair, er soll in mein Zimmer im Turm gehen. Er ist noch nie dort gewesen, aber Victor kann ihn dorthin bringen. Vom Zimmer abgetrennt ist eine kleine Kammer, in der eine schwarze Truhe steht. Der Schlüssel ist im Rosenpavillon verborgen, unter einem lockeren Stein in der Nähe der Bank«, erklärte Aldrik.
»Es wird nichts passieren …«
»Vhalla, bitte .« Aldrik schlang seine Arme um sie. »Bitte erzähl Baldair davon und sag ihm auch, dass du alles bekommen sollst, was in der Truhe ist – und was immer er noch hinzuzufügen vermag, damit du ein behütetes und bequemes Leben führen kannst. Er wird dir glauben. Er hat mir sein Wort gegeben, dafür zu sorgen, dass es dir gut geht und du glücklich bist. Und inzwischen vertraue ich auch darauf, dass er es genauso machen wird.«
Vhalla kniff die Augen zusammen, als könnte sie auf diese Weise den Grund für Aldriks Ansprache ausblenden. Ihre Gedanken wanderten zu Achel. Wenn sie sich die Waffe noch vor der Schlacht holen konnte, würde der Kampf dann zu ihren Gunsten ausgehen? Für einen kurzen Moment erwog sie, Aldrik davon zu erzählen und die Axt in der Schlacht einzusetzen. Doch angesichts seiner früheren Reaktion auf Kristalle wollte sie diesen Augenblick zwischen ihnen auf keinen Fall verderben. Außerdem misstraute sie der Waffe. Etwas daran war ihr ein Rätsel und ließ sie auf der Hut sein.
»Kehre nicht in den Süden zurück«, fuhr Aldrik fort.
»Was?« Vhalla war so überrascht, dass sie alle Überlegungen zu Achel vergaß.
»Wenn ich nicht …« Aldrik hielt inne, unfähig es auszusprechen. »Wenn ich nicht da bin, um dich zu beschützen, geh in den Westen. Begib dich zu meinem Onkel. Bei ihm wirst du so sicher sein, wie du es bei mir wärst. Ophain weiß, dass dies mein Wille ist.«
»Aber Jadars Recken …«, warf Vhalla unsicher ein.
»Bei dem Mann, der sie kennt und über ihre Vorhaben Bescheid weiß, bist du am sichersten«, beharrte Aldrik. »Seit sich die Recken aus Protest über die Heirat meiner Mutter mit meinem Vater gegen meine Familie erhoben haben, bekämpft sie mein Onkel. In der Obhut von Ophain wird für dich gesorgt, und das ist es, was ich will. Das ist das Einzige, was ich will, wenn ich nicht da bin, um dich zu meiner Frau zu machen. Wenn ich dich nicht selbst beschützen kann.«
Innerlich bebend holte Vhalla tief Luft.
»Wirst du das tun?«, fragte Aldrik sanft, um weiteren Protesten zuvorzukommen.
Vhalla nickte.
»Versprich es mir«, drängte er sie.
»Ich verspreche es«, sagte Vhalla gehorsam, und es fühlte sich wie ein Messerstich in die Eingeweide an. »Sorg dafür … sorg dafür, dass dir nichts zustößt.« Voller Angst umfasste sie seine Wangen. »Das Reich braucht dich, es braucht deine Tatkraft, um das Blut wegzuwaschen und die Wunden zu heilen.«
Aldrik schüttelte den Kopf. »Ich bin nur gut darin, Dinge kaputt zu machen und alles zu zerstören.« Er klang müde.
»Nein.«
»Vhalla, du kennst mich erst …«
»Du hast das hier geschaffen«, fiel Vhalla ihm ins Wort und er blinzelte sie überrascht an. »Uns , du hast uns geschaffen.« Als Beweis hielt Vhalla ihm die Uhr hin, die er für sie geschmiedet hatte. »Und das mit uns ist eines der schönsten Dinge, die ich je erlebt habe.«
Aldrik schienen die Worte zu fehlen, deshalb drückte er nur seine Stirn an ihre und versuchte, seine Gefühle in den Griff zu bekommen. Vhalla spürte seine Hand in ihrer ganz leicht zittern, und sie tat alles dafür, nicht zu weinen. Mit jedem weiteren Atemzug tat sie alles dafür, dass sie sich allmählich beruhigte.
»Ich liebe dich, meine Liebste, meine zukünftige Frau«, flüsterte Aldrik.
»Ich liebe dich auch«, antwortete Vhalla, und nichts war jemals wahrhaftiger gewesen. »Mein zukünftiger Mann.«
Da. Sie hatten es beide gesagt. Seit Tagen war es insgeheim beschlossen, aber es so offen auszusprechen, machte es sehr viel realer.
Es dauerte fast eine Stunde, bis Aldrik sich endlich von ihr löste, bis beide bereit dafür waren, dass er sich auf den Weg machen musste. Vhalla stemmte sich im Bett hoch und beobachtete ihn beim Anziehen.
»Was geschieht jetzt?«, wollte sie wissen.
»Wir gehen alles noch einmal durch«, erklärte Aldrik, als sie nur mit einem seiner langen Hemden bekleidet auf ihn zukam. Während Vhalla ihm sorgfältig, fast ehrfürchtig seine Rüstung anlegte, betrachtete er ihre nackten Beine.
»Ich ziehe dich jedem Schildknappen vor, der mir je gedient hat«, sagte Aldrik schmunzelnd.
Vhalla erwiderte sein Lächeln. Da war eine Leichtigkeit zwischen ihnen, wie sie sie seit langer Zeit nicht mehr empfunden hatte. Es war ein Scherz, den normale Liebende machen würden, anders als die verzweifelten Worte, die sie einander seit Wochen zuflüsterten.
»Ich freue mich, Euch behilflich sein zu können, mein Prinz«, murmelte sie, hob Aldriks gepanzerte Hand an ihre Lippen und küsste sie bedächtig.
»Ich liebe dich.« Aldrik küsste sie ein letztes Mal, dann verschwand er.
Auf einmal war Vhalla übel. Sie presste sich eine Hand gegen die Stirn und griff mit der anderen haltsuchend nach der Uhr um ihren Hals. Es war schon beinah Mittag und ehe sie sichs versah, würde die Sonne bereits untergehen.
Beim Anlegen ihrer eigenen Rüstung ging Vhalla genauso sorgfältig vor wie bei Aldrik. Sie vergewisserte sich mehrfach, dass jede Schnalle richtig geschlossen, jeder Riemen festgezurrt war. Sie vergewisserte sich, dass die Kettenglieder ihrer Kapuze nicht verdreht und dass auch ihre Panzerhandschuhe und ihre Beinschienen tadellos angelegt waren.
In der großen Halle war es überraschend ruhig. Baldair saß mit seiner Goldenen Garde zusammen, ein paar andere Heeresführer, darunter auch Aldrik, besprachen sich am Planungstisch. In der Ecke der Halle steckte der Kaiser mit einigen älteren Truppenführern die Köpfe zusammen, doch ansonsten war nicht viel los.
Vhalla ließ sich am Tisch der Goldenen Garde nieder, weil Aldrik zu beschäftigt wirkte. Sie hatte noch nichts gegessen, trotzdem blickte sie nur lustlos auf die Speisen. Sie ermahnte sich, dass sie alle Kraft brauchen würde, war aber viel zu unruhig, um zu essen.
»Vhalla.« Daniels Flüstern riss sie aus ihren Gedanken.
Sie sahen sich an. Daniels Blick war wie eine Liebkosung aus der Ferne – er verschlang sie mit den Augen, als wäre es das letzte Mal. Vhalla begriff, dass hier jeder auf seine Art seinen Frieden damit machte, nicht zu wissen, wer am nächsten Morgen noch an diesem Tisch sitzen würde. Stumm und voller Angst verabschiedeten sie sich voneinander.
»Iss etwas«, sagte Daniel schließlich.
»Ja, ich weiß.« Vhalla griff nach einer Gabel.
»Und versuch, nicht zu nervös zu sein«, riet er ihr, was wenig hilfreich war.
»Versuch mal der Sonne zu sagen, sie soll am Morgen nicht aufgehen«, sagte Vhalla leicht verärgert.
»Dann hab Vertrauen in die Menschen um dich herum.« Daniel beugte sich vor. »Ich werde da sein, an deiner Seite.«
Erschrocken schaute Vhalla ihn an. Auf einmal fiel ihr ein, dass er an vorderster Front auf der Ostseite der Festung kämpfen würde, wo auch Aldrik und sie eingeteilt waren. Das, was bisher nur in Tinte auf einer Karte verzeichnet war, wurde auf einmal real, und Entsetzen überfiel sie. Zu viele Menschen lagen ihr am Herzen – zu viele, um sie alle beschützen zu können.
»Die Schwarze Legion wird dich und den Prinzen nicht aus den Augen lassen«, sagte Jax ernster, als Vhalla ihn seit Langem erlebt hatte.
Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf ihn. »Ich will nicht, dass sie …«
»Dass sie was?«, unterbrach Jax sie. »Soll der Turm seine Anführer etwa nicht beschützen?«
»Ich bin nicht ihre Anführerin«, protestierte Vhalla, aber es klang kraftlos, selbst in ihren Ohren.
»Bist du nicht?« Jetzt beugte sich auch Jax vor und stützte die Ellbogen auf den Tisch. »Wann warst du das letzte Mal im Lager? Hast du nicht bemerkt, dass es mehr Soldatinnen und Soldaten mit gemalten Flügeln auf ihren Rüstungen gibt als mit der strahlenden Sonne von Solaris?« Jax’ Blick fiel auf ihre Uhr. »Du wurdest nicht dazu geboren, ihre Anführerin zu sein, du wurdest auserwählt . Und das hat ein viel größeres Gewicht.«
Rasch stopfte Vhalla sich eine Gabel voll Essen in den Mund, um die Gefühle im Zaum zu halten, die auf sie einstürmten. Um gegen ihre Nervosität anzukauen und gegen die nicht gerade subtilen Worte von Jax. Irgendwann hatte Vhalla alles aufgegessen, aber das flaue Gefühl im Magen blieb.
Einzelne Mitglieder der Goldenen Garde verschwanden und kehrten zurück, kümmerten sich um dieses und jenes. Aber Vhalla war nie allein. Erion versuchte ihr Selbstvertrauen zu stärken, Craig gab sich Mühe, sie zum Lachen zu bringen. Trotzdem konnte niemand den Aufruhr in ihrem Herzen beruhigen. Es war das Warten, das ihr zu schaffen machte, die langsam verrinnenden Stunden in diesem plötzlich viel zu kleinen Raum voller Menschen. Insgeheim verfluchte Vhalla die Nordländer, weil sie nicht schon am Morgen angegriffen hatten.
Hätte sie doch bloß ein Buch dabeigehabt. Nicht um zu lesen. Vhalla war in keiner Verfassung, in der das möglich gewesen wäre. Aber ein Buch zum Anschauen, um sich daran festzuhalten, um sich nicht wie eine Soldatin zu fühlen, die gleich töten würde.
Doch als ihr Aldrik schließlich die Hand auf die Schulter legte und ihr zunickte, musste Vhalla zu einer Soldatin werden. Sie setzte ihre Kapuze auf, er seinen Helm, und gemeinsam verließen sie den Lagerpalast. Vhalla starrte auf die hoch aufragenden Festungsmauern von Soricium, auf die riesigen Bäume, die im Licht der untergehenden Sonne orangefarben leuchteten.
Sie fragte sich, was gerade innerhalb der Festung vor sich ging. Ob sie sich auch auf die Schlacht vorbereiteten. Ob sie sich auch wie Tiere fühlten, die man in einen Käfig eingesperrt hatte.
Für einen zufälligen Beobachter hätte das kaiserliche Lager völlig normal gewirkt. Doch Vhalla sah die Männer mit gezogenen Schwertern zusammengekauert in ihren Zelten hocken und darauf warten, herbeigerufen zu werden. Sie sah die Bogenschützen – verborgen in ihren Hochsitzen auf den mit Stacheln versehenen Kampftürmen. Sie sah die verstärkten Patrouillen des Reiches entlang der äußeren Wehrmauer der Festung, die jeden an der Flucht hindern würden.
Die gesamte Armee wartete – jeder an seinem vorherbestimmten Platz im Verborgenen und bereit, loszuschlagen. Vhallas Blick schweifte über die Senke, in der Soricium lag. Sie wusste, dass die kaiserlichen Patrouillen entlang der Freifläche absichtlich ausgesetzt oder nur noch sporadisch durchgeführt worden waren. Sie wollten den Norden zum Angriff provozieren. Der Feind sollte ihnen direkt in die Arme marschieren, damit sie den Norden mit einem Schlag überwältigen konnten.
Im Schatten eines Belagerungsturms blieb sie neben Aldrik stehen. Er schaute hinauf zu den Bäumen, dabei ballte und öffnete er die Fäuste. Vhalla folgte seinem Beispiel. Auch sie öffnete ihre Magieflüsse. Töten oder getötet werden. Ob richtig oder falsch, dies war die einzige Wahl, die sie hatte. Es spielte keine Rolle, warum sie hier war; wenn sie nicht kämpfte, würde sie sterben.
Sie blickte zur Seite in das Gesicht ihres Prinzen. Mit dem Helm und seinem angespannten Unterkiefer war er kaum wiederzuerkennen. Unruhig und wachsam betrachtete er die Bäume. Vhalla atmete tief durch, dann aktivierte sie ihre magische Sicht und ihr Windgehör.
Alles war still, und die Sonne senkte sich weiter herab. Vhalla lauschte den ruhelosen Bewegungen der kaiserlichen Soldatinnen und Soldaten. Und wenn sie sich geirrt hatte? Falls es nicht zum Angriff kam, würde man sie wahrscheinlich hängen.
Doch dann hörte sie über all ihre Nervosität hinweg in der Ferne den diffusen Lärm einer größeren Menschenmenge, die sich durch die Baumwipfel und vom Boden aus näherte. Eine verborgene Armee, die damit rechnete, die kaiserlichen Soldatinnen und Soldaten in ihren Zelten überraschen und niedermähen zu können. Sie waren den Nordländern zahlenmäßig weit überlegen – zumindest auf dem östlichen Flügel. Ohne das Überraschungsmoment zu gunsten der Nordländer musste der Süden zwangsläufig gewinnen.
Vhalla beschloss, ihre Kräfte zu schonen, und gab ihre magische Sicht wieder auf. Bald würden die Nordländer über sie herfallen. Sie vernahm bereits das Knarren von Bogensehnen, die im Zwielicht der untergehenden Sonne gespannt wurden.
Nur eines verriet, dass es im Lager nicht so zuging wie gewöhnlich: die Stille . Alle warteten mit angehaltenem Atem. Aus dem Augenwinkel sah Vhalla Magie aufblitzen. Ein Mann mit einem Dolch aus Eis in der Hand kauerte kampfbereit hinter einem Zelt, weit weg von seiner gewöhnlichen Schlafstätte.
Fitz warf ihr einen kurzen Blick zu und Vhalla sagte stumm seinen Namen. Er lächelte schwach. An seiner Seite tauchte Elecia auf. Viel zu spät wurde Vhalla klar, dass sie die Nacht nicht mit der Suche nach einer sagenumwobenen Axt hätte verbringen sollen. Stattdessen hätte sie – unbedingt – bei ihren Freunden sein sollen. Hatte sie denn nichts aus Larels Tod gelernt?
Über die verbrannte Freifläche hinweg ertönte ein Schrei und kündigte die Nordländer an, die jetzt zwischen den Bäumen hervorstürmten. Vhalla riss den Kopf herum. Der Feind hatte sich angepirscht, zum Angriff entschlossen, ohne zu ahnen, was für ein Monster er damit entfesselte. Die gesamte Armee lag auf der Lauer, jede Soldatin und jeder Soldat in höchster Konzentration.
Die erste Reihe nordländischer Angreifer hatte schon fast den Rand der Zeltstadt erreicht, als das Hornsignal ertönte. Es wurde von einem Wachturm zum nächsten übermittelt. Die Zelte wurden zur Seite geschleudert oder einfach aufgeschlitzt von den Soldaten, die sich darunter verborgen hatten. Den Nordländern blieb nur ein kurzer Moment, um zu begreifen, was da passierte, dann prasselte bereits der erste Pfeilhagel auf sie nieder.
Daniel führte diese Attacke an, und Vhallas Herz klopfte so heftig in ihrer Brust, dass es ihr die Rippen hätte zerschmettern müssen. Alle, die ihr nahestanden, machten sich zum Angriff bereit. Aldrik, Daniel, Fitz, Baldair und Elecia: Wie sollte sie so viele Menschen zugleich beschützen?
Zum Chor gespannter Bogensehnen und einer Hymne aus Stahl auf Stahl fiel Aldrik in vollen Lauf. Vhalla preschte an seine Seite, verbannte alles andere aus ihren Gedanken und konzentrierte sich nur noch darauf, was sie sein musste. Sobald die zweite Welle Nordländer am Waldrand auftauchte, hob Aldrik die Hand. Ein wütender Pulsschlag hämmerte in Vhallas Ohren.
Jetzt ging es los.