EINUNDZWANZIG

Vhalla konnte nicht atmen. Es war, als hätte sie vollkommen vergessen, wie das ging. Sie rang nach Luft, aber ihre Lungen füllten sich nicht. Mit offenem Mund stand sie da und kämpfte gegen den Schwindel an.

»Was?«, stieß sie schließlich hervor.

»Ich bin verlobt und werde heiraten«, verkündete Aldrik barsch.

»Was?«, wiederholte Vhalla. Ihr Kopf war vollkommen leer.

»Hör auf, alles zu wiederholen wie ein einfältiger Papagei!«, blaffte er sie wütend an.

Erschrocken machte Vhalla einen Schritt zurück. Sein Zorn ließ sie taumeln.

»Bruder, das ist doch nicht ihre Schuld.« Baldair legte Aldrik die Hand auf die Schulter.

»Wenn sie nicht wäre, dann …« Aldrik funkelte seinen Bruder finster an, eine Beleidigung schon auf der Zunge. »Dann …« Sein Blick wanderte zurück zu Vhalla, und ihm versagte die Stimme. Ihr hatte er die Zukunft versprochen. Aldrik schloss den Mund und schluckte herunter, was er hatte sagen wollen.

»Was ist passiert?« Vhallas wehes Herz ließ ihre Stimme brüchig klingen.

»Mein Vater strebte nach einer idealen Lösung. Denn es verhält sich genauso, wie du gesagt hast: Die Nordländer würden sich einem fremden Herrscher nie ganz unterwerfen. Sie sind dem Clan der Anführer seit Jahrhunderten treu ergeben.« Aldriks Ton schwankte zwischen Zorn und Erschöpfung. »Das Oberhaupt des Clans der Anführer hat eine Tochter, die in einem Jahr volljährig wird. Und da ich praktischerweise noch ungebunden bin, war … hat ihnen das Wissen, dass eine der Ihren unsere künftige Kaiserin sein würde, die Kapitulation versüßt.« Mit einem Wutschrei ließ Aldrik seine Faust auf die Tischplatte krachen.

Vhalla griff nach der Uhr um ihren Hals. »Aber d-das bist du doch nicht. Du bist nicht mehr ungebunden.«

»Was?« Baldair blinzelte.

Aldrik atmete schwer und sah sie anklagend an, als wollte er sie warnen, es auszusprechen.

»Aldrik, du bist nicht mehr ungebunden. Du hast mich gefragt und ich habe …«

»Sei still, Frau!« Der Kronprinz wandte den Blick ab und fuhr sich mit einer heftigen Bewegung durch die Haare. »Mein Vater wusste nichts davon. Und selbst als ich …« Aldrik schluckte. »Er wollte sich den Vorschlag nicht mal anhören. Er will eine der Ihren unter unserer Kontrolle haben, um sich durch das Leid, das wir ihr zufügen könnten, der Treue und Loyalität des ganzen Nordens zu versichern. Er hat das von Anfang an so geplant, und wir waren töricht und blind.«

Aldrik redete, aber er schien eine andere Sprache zu sprechen. Nichts kam Vhalla mehr logisch vor. Nichts schien einen Sinn zu ergeben. Es war unmöglich, dass das alles wahr sein sollte. »Und was tun wir jetzt?«

»Was wir jetzt tun?« Aldrik schaute auf sie herab. »Was wir tun? Ich habe es dir doch gesagt, es gibt kein wir mehr, Vhalla. Es gibt dich, und es gibt mich. Du kehrst als Lady aus dem Norden zurück. Und ich habe das fantastische Privileg, dich gesund und munter am Hof zu erleben. Ich heirate dieses Mädchen und erfülle meine Pflicht.«

»Nein.« Vhalla schüttelte den Kopf. »Nein!« Ihre Stimme brach. »Du hast doch immer einen Plan, einen Ausweg, einen klugen Schachzug, eine schlaue Halbwahrheit oder eine Alternative auf Lager.« Sie hob das Dokument vom Boden auf und hielt es Aldrik hin.

»Sieh hin! Sieh genau hin! Du hast mich zu einer Lady gemacht. Mich? Die Tochter eines Bauern ist jetzt der Liebe des Kronprinzen würdig. Wenn du das vollbringen kannst …«

Aldrik schlug ihre Hände weg, als wäre das Dokument vollkommen bedeutungslos, und Vhalla schaute ihn entsetzt an.

»Es ist vorbei!«, schrie er, hin- und hergerissen zwischen wütender Frustration und dem verzweifelten Wunsch, dass Vhalla ihn verstehen und sein Schicksal bedauern sollte. »Ich habe den ganzen Tag mit ihm gestritten. Als ich Vater gesagt habe, ich würde jede andere Frau außer dir zurückweisen, hat er sich wie ein Feigling verhalten. Er hat dich herbringen lassen, um mir zu drohen, um mich zu zwingen.«

Unwillkürlich musste Vhalla an die vergebliche Warnung von Lord Ci’Dan denken: Sie war der Riss in der Rüstung des Kronprinzen .

»Ich habe alles Erdenkliche versucht, um alternative Kapitulationsbedingungen vorzuschlagen – bis zu dem Augenblick, als er dich hier hatte, bewacht von einem Mann, der dich töten würde, sollte irgendein anderer als mein Vater aus seinem Zimmer treten.« Aldrik blickte auf seine Fingerknöchel, die er sich am Tisch blutig geschlagen hatte. »Ich habe meine Hand für dein Leben gegeben. Das Beste, was ich erreichen konnte, war, dich als Lady in Sicherheit zu wissen und dir mit dem Gold meiner Familie ein gutes Leben zu ermöglichen. Das , das war mein Plan.«

Vollkommen fassungslos starrte Vhalla den Kronprinzen an. Doch wenn sie ganz ehrlich war, hatte sie sich schon halbwegs gedacht, was da vor sich gegangen war. Ihre Hände verkrallten sich in ihrer Tunika. Es war ihre Schuld.

»Wenn ich, wenn ich meine Rüstung getragen hätte.« Ihre Schultern bebten. »Dann, dann …«

»Nein«, sagte Aldrik seufzend. Ihre sichtliche Bestürzung besänftigte ihn. »Schnurr hätte dir das Schwert genauso gut ins Auge gerammt, und mir war klar, dass du nach der vergangenen Nacht für einen Kampf nicht bereit warst.«

»Es muss doch irgendetwas geben, das wir tun können.« Vhallas Stimme schwankte, veränderte sich mit jedem zittrigen Atemzug.

»Vhalla, genug jetzt. Es ist vorbei.« Müde und mit hängenden Schultern drehte sich Aldrik von ihr weg.

»Nein!«, rief sie und stellte sich vor ihn. »Nein!« Wie von Sinnen schüttelte Vhalla den Kopf. »Was ist mit allem, was wir besprochen haben? Was ist mit allem, was wir geplant haben?«

»Vorbei«, sagte Aldrik, konnte ihr dabei aber nicht in die Augen sehen.

»Wie kannst du nur so sein?«, zischte sie.

»Wie kannst du so sein?«, drehte Aldrik den Spieß um. »Ich dachte, du wüsstest so genau, wie das mit uns ausgehen würde.« Höhnisch blickte er sie an.

Eine Erinnerung, die Vhalla mit Absicht vergessen hatte, ließ ihre Welt stillstehen. Die Erinnerung an eine Frau, an ein seltsames Geschäft in Estrela, an Feuer und rote Augen. Eine Weissagung, die sie verdrängt hatte. Vhalla merkte, wie ihr die Tränen kamen. Sie hatte es gewusst: Ihr werdet Euren dunklen Wächter verlieren . Wie hatte sie so töricht sein können zu glauben, sie hätte damals an der Schlucht tatsächlich ihr Schicksal überlistet?

Vhalla betrachtete das Gesicht des Prinzen – noch immer sah sie seine Schönheit, obwohl Wut und Schmerz es verzerrten. Es war, als ob Vhalla für ihn jetzt nur noch eines verkörperte: eine Qual. Wieder schüttelte sie den Kopf, als könnte sie dadurch aus diesem lebenden Albtraum erwachen. Dann schlug Vhalla die Hände vors Gesicht und begann zu schluchzen.

Es war zerstört, alles um sie herum war zerstört. Die schöne, aber fragile Verbindung zwischen ihnen beiden lag in Trümmern.

»Nein«, sagte Vhalla und ließ langsam die Hände sinken. »Nein, nein ! So sollte es nicht kommen! Wir …« Es war ein körperlicher Schmerz, ein furchtbares Reißen tief in ihrem Innern. »Das kann ich nicht, was soll ich denn jetzt tun?«

Durch ihre Tränen konnte sie Aldrik nur verschwommen sehen.

»Du bist frei. Du tust, was immer dir beliebt.« Mit angespanntem Unterkiefer wandte Aldrik den Blick ab. Ihr Leid machte ihm zu schaffen, und es machte ihm auch zu schaffen, sie nicht trösten zu können.

Vhalla merkte das, doch es kümmerte sie nicht. »Ohne dich?«, bedrängte sie ihn.

»Ja, ohne mich!«, blaffte Aldrik. »Du hast deinen Zweck hier erfüllt!«

»Meinen Zweck?« Vhalla war sprachlos, ihre Stimme wurde schrill. »Mehr war ich nicht für dich? Nur e-ein Mittel zum Zweck ? Eine Eroberung? Hast du mich für deinen Vater nur schön bei Laune gehalten? Oder wolltest du die Ehre haben, sagen zu können, du hättest als Erster mit der Windläuferin das Bett geteilt?«, schrie sie bis aufs Äußerste gereizt. Ihre Worte waren ungerecht. Aber das Leben selbst war auch ungerecht.

»Wie kannst du es wagen«, knurrte Aldrik und kam einen Schritt auf sie zu.

»Wie kannst du es wagen, Aldrik Ci’Dan Solaris! Wie kannst du es wagen, mich glauben zu lassen, dass es wahr werden könnte!« Vhalla zog an der Kette um ihren Hals und hielt ihm die Uhr hin. »Wie kannst du es wagen, mich dazu zu bringen, dich zu lieben! Wie kannst du es wagen, dein Wort zu brechen!« Vhalla konnte sich nicht mehr bremsen. »Ich wünschte, ich hätte nie Ja gesagt. Ich wünschte, ich wäre dir nie begegnet!«

»Ach, ist das so? Dann lasst mich Euch versichern, dass das auf Gegenseitigkeit beruht, Lady Yarl.« Aldrik richtete sich zu voller Größe auf, bereit, ihr das zu geben, was sie wollte. Denn irgendwie wusste er genau wie sie, dass sie sich unwiderruflich entzweien mussten. Dass sie nicht weiterleben konnten, wenn sie noch immer an die Liebe glaubten, die sie so offensichtlich füreinander hegten. »Du, wir, das war nur eine einzige große Lüge. Von Beginn an war nichts davon wahrhaftig. Du hast recht, du warst nur eine Trophäe für mich.«

»Bruder, hör auf damit!«, ging Baldair jetzt dazwischen. Er trat einen Schritt auf die streitenden Liebenden zu, die sich so offensichtlich in Rage redeten.

»Halt dich da raus!« Mit einem mörderischen Blick brachte Aldrik seinen Bruder dazu, stehen zu bleiben, dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf Vhalla. »Unsere Versprechen waren ohne Bedeutung, wir waren ohne Bedeutung

Vhalla wusste, dass Aldrik log. Sie konnte es an seiner Miene ablesen. Aber das entschuldigte seine Worte nicht. Sie rissen ihre Eingeweide in Stücke. Kummer war nicht logisch – es war ein Feuer, das sich immer wieder selbst anfachte.

»Was bist du für ein bemitleidenswertes Geschöpf.« Mit Verachtung blickte Aldrik sie an. »Als ob ich dich je lieben könnte. Ich habe dem naiven Mädchen, das du warst, nur etwas vorgemacht.«

Vhalla begann zu lachen. Ein Wahnsinn entsprang aus ihrer Trauer, ließ ihre Lippen beben und ihre Schultern zittern. Er musste es weiter auf die Spitze treiben. Er konnte nicht aufhören, obwohl er sein Ziel schon erreicht hatte. Er musste alles so gründlich zertrümmern, bis nichts als ein Häuflein Dreck zurückblieb.

»Du irrst dich«, sagte sie heiser. Nie zuvor war sie sich selbst so bedrohlich vorgekommen. Sie verfügte über eine Waffe, die viel mächtiger war als seine Lügen. »Ich war diejenige, die dir etwas vorgemacht hat.«

»Was?« Überrascht wich Aldrik zurück. Er sah ihr an, dass sie sich dem Punkt näherten, auf den sie beide hingearbeitet hatten.

Vhalla blieb ein kurzer Moment, um seine Angst und sein Bedauern zu registrieren. Hätte sie doch nur Mitleid mit ihm gehabt und sich zurückgehalten.

»Das Band zwischen uns ist die größte aller Lügen«, flüsterte Vhalla, und Aldrik erstarrte. »Ich wollte dich nie retten. In jener Nacht dachte ich, es ginge um Baldairs Leben. Nur um seinetwillen habe ich all meine magischen Fähigkeiten in meine Notizen gelegt.«

Auf einmal wirkte Aldrik vollkommen verloren, und sein Blick schoss zwischen ihr und dem sehr verwirrt dreinblickenden Baldair hin und her.

Vhalla konnte nicht mehr an sich halten, nun war sie an der Reihe, die rote Linie zu überschreiten. Dem Schmerz die Zügel schießen zu lassen, war ein finsteres Vergnügen, und sie konnte es nicht mehr unterdrücken. Aldrik hatte sie so tief verletzt, dass sie unfähig war, darüber nachzudenken, was richtig oder falsch war, gerecht oder ungerecht. Sie wollte vom vergifteten Trank der Rache kosten und das Einzige in die Waagschale werfen, womit man einen Lügner zur Strecke bringen konnte: die Wahrheit.

»Wovon sprecht ihr überhaupt?«

Keiner von beiden schenkte Baldair auch nur die geringste Beachtung.

Vhalla lachte bitter. »Du bist nicht der Einzige, der lügen kann, Aldrik.«

Mit fassungslosem Entsetzen sah Aldrik sie an. Sein Zorn entbrannte aufs Neue, sein ganzer Körper spannte sich an, und er ballte die Fäuste. Dann riss er den Kopf zu Baldair herum. »Du.«

In einer Unschuldsgeste hob Baldair die Hände.

»Nicht einmal diese einzige Freude konntest du mir lassen, ohne sie zu besudeln«, sagte Aldrik.

Vhalla war so erschrocken darüber, dass Aldrik sie auf einmal wieder als seine »einzige Freude« bezeichnete, dass sich ihr gesunder Menschenverstand zurückmeldete. Sie hatte nicht beabsichtigt, Baldair in ihren Streit zu verwickeln, nur um Aldriks Wut auf sie noch zu steigern. Sie hatte ihre gemeinsame Zukunft mit Aldrik vernichten wollen, nicht die von ihm und Baldair.

»Aldrik, er hatte nichts damit zu tun.« Vhalla trat halb vor Baldair, um den älteren Prinzen aufzuhalten.

»Ein neuer Tiefpunkt, selbst für dich, Bruder«, sagte Aldrik mit Verachtung in der Stimme. »Dass du dich von deiner Hure schützen lässt.«

Vhallas Arme sanken herab. Sie war wie vor den Kopf gestoßen.

»Nenn sie nicht so! Das meinst du nicht so«, beschwor Baldair seinen Bruder.

Dass der jüngere Prinz sie verteidigte, war rührend, doch Aldrik ging gar nicht darauf ein.

»Ach nein? Dann vielleicht Flittchen ?« Als er das Wort »Flittchen« sagte, verzog er das Gesicht. »Wer ist als Nächster dran, jetzt wo du beide Prinzen gehabt hast? Willst du vielleicht mit meinem Vater ins Bett?«

Ungläubig, dass er so etwas überhaupt nur aussprechen konnte, blickte Vhalla ihn an.

»Wir haben nie das Bett geteilt!«, blaffte Baldair jetzt wütend.

»Ich hätte es schon an dem Tag im Garten wissen müssen«, fuhr Aldrik unbeirrt fort. »Als ich herausgefunden habe, dass ihr euch schon mal begegnet wart.« Er richtete den Blick auf Baldair, und in seinen Augen flackerte ein überraschend ehrliches Maß an Schmerz auf. »Du musstest es wieder tun. Zu denken … Dass ich auch nur einen Moment lang gedacht habe, unser Verhältnis könnte sich ändern.«

Jetzt war Baldairs Geduld erschöpft. »Warum sollte ich das auch wollen? Damit ich mehr Zeit mit meinem Bastard-Bruder verbringen kann?«

»Nenn mich nicht so!«, brüllte Aldrik los.

»Was denn? Wir wissen doch, dass es wahr ist, schwarzes Schaf

Ohne Vorwarnung stürzte Aldrik sich auf seinen Bruder. Er war überaus geschickt, aber Baldair war groß und kräftig, und der jüngere Prinz musste die Schläge seines Bruders nur abwehren.

»Aufhören, alle beide!« Vhalla ballte die Fäuste. Die Brüder reagierten nicht. Und ihr Wind war nicht stark genug, um sie auseinanderzutreiben.

Langsam dämmerte Vhalla, was sie getan hatte. Sie hatte den Mann, der gerade den einzigen Menschen verloren hatte, den er liebte, in die Ecke gedrängt. Und jetzt zertrümmerte sie auch noch seinen letzten Rettungsanker. Wenn er Baldair nicht mehr an seiner Seite hatte, wer würde dann auf ihn aufpassen?

Flammen loderten auf. Baldair fiel auf die Knie.

»Du …« Der jüngere Prinz schnappte nach Luft. »Noch nie hast du deine magischen Kräfte gegen mich eingesetzt.«

Aldrik zog seine Faust zurück, aus der helle Flammen schossen. »Vielleicht solltest du dein Schwert holen und wir machen eine richtigen Kampf daraus? Wir sind keine Kinder mehr.«

Mit einem Wutschrei stürzte Baldair sich auf Aldrik, packte ihn an der Hüfte und riss ihn um. Wie ein Steppenläufer aus Fäusten rollten sie über den Boden. Es schien, als wollten sie ihre Schläge nicht einmal lange genug unterbrechen, um wieder auf die Beine zu kommen.

»Aufhören!«, rief Vhalla. »Aufhören, alle beide!«

Wieder achtete keiner auf sie. Die Männer hatten sich in Kinder zurückverwandelt, die nicht gewillt waren, auf die Stimme der Vernunft zu hören. Aldrik rappelte sich als Erster auf und landete einen sauberen Treffer.

»Aldrik, hör auf!« Vhalla sah keine andere Möglichkeit, als sich ins Getümmel zu werfen. Sie drängte sich zwischen die Prinzen, und zwar genau in dem Moment, in dem Aldrik erneut mit der Faust ausholte. Seine dunklen Augen wurden ganz groß. Wie sie diese Augen liebte.

Mit voller Wucht traf Aldriks Faust sie an der Wange. Vhalla geriet ins Taumeln.

Keuchend hielt der Kronprinz inne, seine Hände zuckten kurz in ihre Richtung, er wollte sie halten, wollte sie trösten. Vhalla wich zurück und richtete sich wieder auf.

»Fass mich nicht an«, flüsterte sie.

»Vhalla, ich wollte dich nicht schlagen«, beteuerte Aldrik in flehendem Ton. »Du-du hast dich bewegt und ich konnte nicht mehr …«

»Das macht nichts.« Vhalla schüttelte den Kopf. »Das ist die Zerstörung, die Wut anrichten kann.«

Baldair hatte gesagt, sie hätte Aldrik verändert, aber es hatte nicht ausgereicht. Menschen veränderten sich nicht, wenn andere sie darum baten – ganz gleich, wie wichtig ihnen derjenige war, der diese Bitte äußerte. Wahre Veränderung konnte nur aus eigenem inneren Antrieb heraus kommen. Aldrik würde sich nicht ändern, bis er das gesamte Ausmaß seiner Handlungen erkannte – als Lügner, als Marionettenspieler, als Mann, der sich selbst und andere zerstörte. Er hatte keine Ahnung, wie sehr sein Zorn der Welt um ihn herum schadete – selbst wenn er sich nur gegen ihn selbst richtete. In jedem Augenblick, den man mit ihm verbrachte, nahm man das stillschweigend in Kauf.

Aldrik würde es nie begreifen, bis jemand die Kraft aufbrachte, sich zu erheben und es ihm zu zeigen.

Diese Rolle war ihr zugefallen. Vhalla betete, dass Aldrik an der Herausforderung wachsen statt an ihr zerbrechen würde.

Der Kronprinz machte einen weiteren ruckartigen Schritt auf sie zu.

»Komm nicht in meine Nähe.« Vhalla wich weiter zurück.

»Vhalla, du musst verstehen …«

Eine kräftige Hand legte sich auf Aldriks Brust und hielt ihn fest.

»Hast du sie nicht gehört?« Baldair durchbohrte Aldrik mit Blicken. »Sie will dich nicht in ihrer Nähe.«

»Du kannst mich nicht von ihr fernhalten!«, rief Aldrik wütend.

Vhalla hob das Pergament, das sie zur Lady ernannte, vom Boden auf.

»Vhalla! Vhalla, warte!«

Sie ignorierte ihn.

»Ich bin dein Prinz. Ich befehle dir, zu mir zu kommen.«

»Was?« Vhalla wirbelte herum. Er hatte das Einzige gesagt, was sie dazu brachte, sich ihm noch einmal zuzuwenden – aber gewiss nicht auf die Art, wie er es sich erhofft hatte. »Ich möchte, dass Ihr eins begreift, Prinz Aldrik Ci’Dan Solaris.« Vhalla würde die Worte »mein Prinz« nicht länger benutzen. »Ich gehöre Euch nicht.«

Zum Beweis hielt sie ihm das Schriftstück hin. Das Einzige, was ihr geblieben war, war ihr Name.

»Was könntet Ihr noch von mir wollen, das ich Euch nicht bereits gegeben habe?« Vhalla keuchte leise, so sehr war sie in Rage geraten. Ihre Frage war nicht rhetorisch gemeint und sie wartete auf Aldriks Antwort. Doch es geschah nichts weiter, als dass sie ihm ansah, wie er allmählich die volle Wahrheit erkannte.

Andererseits , überlegte sie, war sie selbst auch nicht ganz unschuldig. Seufzend ließ sie die Hand mit dem Schriftstück sinken. Sie hatte Aldrik kritiklos angenommen; sie hatte seine Probleme ignoriert und seine geheimen Marotten, die ihn in ihren Augen zu etwas Besonderem gemacht hatten, idealisiert. In ihrem Kopf hatte sie ihn zu dem Mann gemacht, den sie sich gewünscht hatte; sie hatte nicht den Mann geliebt, der er wirklich war.

»Auf Wiedersehen, Aldrik«, flüsterte Vhalla.

Der Prinz sah sie fassungslos an. Seine Wut und sein Leid machten einer immensen Panik Platz, denn Aldrik hörte die Endgültigkeit in ihrem Ton. »Warte!«, rief er. »Wo willst du hin?«

Unbeirrt ging Vhalla weiter Richtung Tür, wobei sie das Schriftstück zusammenfaltete und es dann in die Tasche steckte.

»Antworte mir!«, bettelte er, befahl er. »Vhalla, Vhalla, bitte! Antworte mir!«

Draußen ließ Vhalla sich von der abendlichen Stimmung umfangen, lauschte aber noch seinen gedämpften Rufen. Die beiden Wachposten links und rechts neben den Türen warfen ihr neugierige Blicke zu, doch Vhalla hielt den Kopf hoch erhoben. Sobald die Wachablösung kam, würde es im Lager heftiges Gerede geben.

Vhalla biss sich so fest auf die Unterlippe, dass sie aufplatzte. Das Einzige, wofür sie seit ihrem Aufbruch aus der Hauptstadt gekämpft hatte, hatte sie bekommen: ihre Freiheit. Aber sie hatte Vhalla beinah alles gekostet. Ihr wurde klar, dass sie den Lagerpalast mit nichts weiter als den Kleidern an ihrem Leib und dem Erlass des Kaisers verließ. Alles andere hatte sie in dieser behelfsmäßig errichteten besseren Baracke zurückgelassen. Auf dem Boden in Aldriks Zimmer lag alles verstreut, was sie in den Norden mitgenommen hatte: ihre Kleider, ihre Rüstung, ein paar andere Habseligkeiten und ihr Herz.