Marionetten

Dirk Sander hatte eine Viertelstunde zusammengekauert und dem Sturm trotzend vor dem Büro an der Kurpromenade unweit der Grömitzer Welle, des bekannten Meerwasser-Brandungsbads, gewartet. Aber die Tür war verschlossen geblieben und Alexander Clasen nicht wie verabredet aufgetaucht.

An der großen Fensterscheibe hatte er sich die Nase platt gedrückt, in der Hoffnung, jemanden im Innern erkennen zu können. Aber der Raum war nicht nur äußerst spartanisch eingerichtet, alles an ihm wirkte, als wäre Alexander schon seit Langem nicht mehr hier gewesen. Vielleicht, weil die Räumlichkeiten renoviert wurden, zumindest deuteten ein paar Details darauf hin. Auf dem einsam in der Mitte des Büros stehenden Schreibtisch lag nichts außer einem Zollstock. Und weiter hinten sah Sander eine Trittleiter vor einer weißen Wand und Abdeckfolie auf dem Boden.

Hier waren sie in all den Jahren noch nie zusammengekommen. Meistens hatten sie sich in einem der Cafés an der Promenade getroffen, manchmal auch in den Nachbarorten entlang der Küste. Er erinnerte sich auch an einige Treffen in der Villa der Clasens in der Anfangszeit. Er war beeindruckt von dem Haus gewesen und hatte dadurch etwas besser verstanden, wie die beiden tickten. Ihr Leben drehte sich nur um sie selbst und ihren Besitz. Sie waren kinderlos und hatten auch klar geäußert, dass Nachwuchs nicht zu ihrem Lebens- und Karriereplan passte.

In ihrem Haus hatten die beiden alles bis ins letzte Detail durchdesignt. Möbel und Wohnaccessoires waren wohlüberlegt ausgesucht worden, dafür hatte Maren ein Auge. Und Geld schien dabei ohnehin keine Rolle zu spielen. Ganz im Gegensatz zu diesem tristen Büro in einem der älteren Flachdachbauten an der Promenade, vor dem Sander jetzt stand.

Er hatte Alexander angerufen, aber nicht einmal seine Mailbox war angesprungen. Dem Geräusch in der Leitung nach zu urteilen, war sein Handy nicht nur ausgeschaltet, sondern gar nicht mehr erreichbar.

Einfach tot.

Kurzerhand entschied Sander, es bei den Clasens zu Hause zu versuchen. Es war gerade einmal acht Uhr an diesem Dienstagmorgen, sie würden mit Sicherheit noch am Frühstückstisch sitzen. Alexander hatte ihren Termin vielleicht einfach vergessen.

Denkbar, aber doch eher unwahrscheinlich, ging es ihm wiederum durch den Kopf. Alexander Clasen war alles Mögliche, aber niemand, der unpünktlich erschien oder eine Verabredung sogar vergaß. Und schon gar nicht in diesem Fall. Was sie zu besprechen hatten, war wichtig und dringend. Sie mussten endlich den Graben überwinden, der sich in den letzten Wochen immer mehr aufgetan hatte. Aber vor allem musste Alexander verstehen, dass es so nicht weitergehen konnte.

Der Sturm, der vergangene Nacht über die Küste gezogen war, hatte nach einer kurzen Pause in den letzten zwei Stunden wieder an Kraft zugelegt. Der Strand war noch immer zu großen Teilen überspült, überall war Treibgut angeschwemmt worden. Auf der Promenade lagen Abfälle aus umgekippten Mülleimern verstreut. Einige Schilder und Metallverkleidungen von Häusern und Strandbuden waren abgeknickt und herausgebrochen. Am schlimmsten hatte es jedoch die Seebrücke erwischt. Auf einer Strecke von bestimmt fünfzig Metern war der hölzerne Bau zerstört. Viele Holzplanken waren einfach vom Wind und von den Fluten mitgerissen worden. Auch einige Aufbauten schienen schweren Schaden genommen zu haben.

Selbst im Kurpark, der wenige hundert Meter vom Meer entfernt war, sah es schlimm aus. Abgebrochene Äste, wohin das Auge reichte. Eine der großen Eichen auf der Westseite des Parks war sogar entwurzelt worden und zum Glück auf eine freie Rasenfläche gefallen.

Sander kam ein anderer Gedanke. Was, wenn der Sturm die Villa getroffen hatte und Alexander seit Stunden damit beschäftigt war, sich um die Schäden zu kümmern? Ja, das schien ihm eine logische Erklärung zu sein. Ein umgestürzter Baum im Garten, Stromausfall oder herabgestürzte Dachziegel, etwas in der Art. Er würde ihm einfach dabei helfen, die Schäden zu reparieren. Und vielleicht wäre das der beste Weg, ins Gespräch zu kommen, ohne sofort über ihre Pläne, die zweifellos sehr voneinander abwichen, in Streit zu geraten.

Aus der Ferne nahm er unaufhörlich Martinshörner wahr. Die Feuerwehr war seit letzter Nacht im Dauereinsatz. Im Radio hatte er kurz nach dem Aufstehen gehört, dass es durch den Sturm nicht weit von hier auf der A1 einen schweren Unfall mit mehreren Fahrzeugen gegeben hatte.

Alexanders Mercedes G-Klasse stand in der Einfahrt des Hauses. Davor der Fiat 500 Abarth seiner Frau. Wahrscheinlich war es so, wie er vermutet hatte. Alexander hatte den Termin einfach verschwitzt, auch wenn ihm das nicht ähnlich sah. Vielleicht hatte er sich wegen des Sturms auch nicht vor die Tür getraut. Doch hätte er ihm dann nicht eine Nachricht geschrieben?

Sander ging die wenigen Stufen hinauf und drückte auf den Messingknopf neben der Haustür. Im nächsten Augenblick drang der Klingelton durchs Haus und bis nach draußen. Das war jedoch auch alles, was aus dem Haus zu hören war. Keine Stimmen und auch keine Schritte auf der großen Holztreppe oder dem Zementfliesenboden im Flur. Er klingelte erneut.

Durch die dicke getönte Scheibe der Tür konnte Sander nur schemenhaft den Flur erkennen. Aber es war genug zu sehen, um sicher zu sein, dass drinnen alles ruhig war.

Offenbar war Alexander tatsächlich nicht zu Hause. Vielleicht hatten Maren und er kurzfristig beschlossen, vor dem seit Tagen angekündigten Sturm einfach abzuhauen. Womöglich waren sie weggeflogen, irgendwohin in den Süden. Er wusste, dass die beiden des Öfteren auf den Kanaren urlaubten. Sie hatten sich bestimmt ein Taxi genommen, um zum Flughafen Fuhlsbüttel zu kommen. Nur wieso hatte er nicht Bescheid gegeben? Sie hätten den Termin noch einmal um eine Woche verschieben können, schlimmstenfalls hätten sie die Angelegenheit auch in einem Videocall geklärt.

Sander schüttelte unzufrieden den Kopf. Das alles passte nicht zu Alexander. Er ging die Stufen zur Haustür wieder hinunter und warf einen Blick an der Fassade hoch. Nirgends ein Fenster, hinter dem sich etwas bewegte. Aber wenn er es richtig erkannte, waren im ersten Stockwerk die Vorhänge zugezogen.

Er bewegte sich nach rechts, wo ein kleiner Schotterweg erst parallel zur Front der Villa verlief und dann seitlich am Haus entlang zum großen Garten im hinteren Bereich führte. Er rannte in gebückter Haltung und stemmte sich mit hochgestelltem Kragen gegen den immer stärker werdenden Wind. Die Hoffnung, draußen im Garten auf Alexander zu treffen, zerschlug sich allerdings schnell. Weit und breit war niemand zu sehen.

Dafür lagen auf der Terrasse und im Garten diverse Gegenstände, die der Sturm umhergewirbelt hatte. Ein paar umgefallene und zerbrochene Tontöpfe, abgebrochene Äste und zwei Gartenstühle, die sich selbstständig gemacht hatten. So wie es aussah, war Alexander heute Morgen noch nicht hier draußen gewesen.

Sander drehte sich im Kreis und sah sich um. Plötzlich verstand er, woher das Geräusch kam, das er unterbewusst seit einigen Sekunden wahrgenommen hatte. Die rückwärtige Tür, die in den Keller des Hauses führte. Sie schlug unaufhörlich auf und wieder zu. Rasch ging er die Treppe hinunter und griff nach der Klinke. Das Gefühl, dass es eigentlich nicht richtig war, die Villa zu betreten, schob er mühelos beiseite. Denn mittlerweile war er sich sicher, dass hier irgendetwas nicht stimmte.

»Alexander?«, rief er, so laut er konnte, nachdem er durch zwei Kellerräume gegangen und die lange Treppe erreicht hatte, die durch das gesamte Haus bis ins Obergeschoss führte. »Ich bin’s, Dirk. Bist du zu Hause?«

Keine Antwort.

Mit jeder Stufe, die er hinaufging, wurde er langsamer. Er musste an zwei sich abstoßende Magneten denken. Unter größter Anstrengung versuchte er sich dagegen zu wehren, wozu ihn irgendwelche unvernünftigen Kräfte in seinem Körper trieben.

Erfolglos. Sander bewegte sich weiter im Haus nach oben. Er passierte das Erdgeschoss, in dem sich der Flur und die Haustür, ein großes Zimmer, das die Clasens für repräsentative Zwecke und Besuche nutzten, sowie zwei Arbeitsräume befanden, und ging weiter hoch bis in den ersten Stock.

Die Vorhänge waren tatsächlich zugezogen. Passte das zu Alexander? Er hatte das Bild eines Mannes im Kopf, der im Bademantel mit Drink und Zigarre in den Händen am offenen Fenster stand.

»Alexander, bist du hier?«, fragte er wieder. Die Worte kamen diesmal jedoch so leise über seine Lippen, als glaubte er schon nicht mehr, dass hier überhaupt jemand war, der sie hören könnte. Und eigentlich wusste er längst, dass dies nicht der Fall war.

Trotzdem ging er weiter, noch vorsichtiger als zuvor. Und nun mit der großen Befürchtung, dass ihn in diesem Haus etwas Schreckliches erwartete.

Viel zu wenig Licht, haderte Sander. Er fingerte sein Handy aus der Jackentasche und schaltete die Taschenlampe an. Sofort erstarrte er. Er registrierte die offene Küche, die jetzt direkt vor ihm lag. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Auf Barhockern hinten in der Ecke saßen zwei Menschen, mit den Köpfen an die Wand gelehnt.

Sander spürte, dass seine Hände zitterten. Er kämpfte gegen das Zähneknirschen an, das plötzlich einsetzte. Ein stechender Schmerz fuhr ihm in beide Schläfen. Obwohl er die Gesichter nicht erkennen konnte, war er sich sicher, dass es sich um Alexander und Maren handelte. Und genauso sicher war er sich, dass die beiden tot waren. Denn ihre Arme und Beine hingen schlaff, wie bei Marionetten, an ihren Körpern hinunter.

Er musste wieder an die letzten Tage und Wochen denken. Die Bilder flogen nur so vor seinem inneren Auge vorbei. Irgendetwas musste vollkommen aus dem Ruder gelaufen sein. Und er konnte nicht einmal ausschließen, dass er etwas damit zu tun hatte.