Arrangement

Es mussten gut und gerne fünf Jahre vergangen sein, seitdem Morten Sandt zuletzt in Grömitz war. Früher war er regelmäßig hier gewesen. Ostsee in Flammen hatte er sich nur selten entgehen lassen. Das spektakuläre Höhenfeuerwerk über der Lübecker Bucht war ihm vor allem deswegen in Erinnerung geblieben, weil er unter sternenklarem Himmel und hell leuchtendem Feuerregen zum ersten Mal ein Mädchen geküsst hatte. Das lag sechzehn Jahre zurück. Er war ziemlich genau halb so alt wie heute gewesen. Ein Junge, noch mitten in der Pubertät, bei dem die Hormone verrücktspielten, und mit dem begehrtesten Mädchen der Schule an seiner Seite.

Es war bei dem einen Kuss geblieben. Am nächsten Tag hatte sie ihm gesagt, dass er zwar ein netter Typ sei, aber niemand, mit dem sie sich etwas anderes vorstellen könne.

Etwas anderes? Er hatte sie nicht gefragt, was sie damit meinte. Vielleicht weil er damals noch etwas zu naiv gewesen war, sehr wahrscheinlich sogar. Bis zu seinem zweiten Kuss und der ersten Beziehung war anschließend noch über ein Jahr vergangen. Was das anging, war er wohl ein Spätstarter gewesen.

Der Abend am Strand von Grömitz war ihm jedenfalls noch heute so präsent, als wäre es erst letzte Woche gewesen. Einer dieser Augenblicke, an die man sich sein Leben lang erinnerte. Die nicht verblassten, ob man wollte oder nicht.

»Pass auf, der Baum!«, schrie Elif plötzlich neben ihm.

Morten riss das Steuer seines Peugeot 208 hastig herum und steuerte den Wagen auf die Gegenfahrbahn der Bundesstraße, um der direkt vor ihnen auf die Straße fallenden Buche auszuweichen.

Als er abbremste und zurück auf seine Spur einscherte, spürte er das Adrenalin, das durch seinen Körper pulsierte. Das war mehr als knapp gewesen. Ohne seine Kollegin hätte er den Baum wohl voll erwischt. »Danke«, sagte er leise.

Der Sturm, der seit gestern Abend über Schleswig-Holstein zog, war der schlimmste, an den er sich erinnern konnte. Auf dem Weg von Lübeck an die Küste waren sie an zahlreichen umgestürzten Bäumen am Straßenrand vorbeigefahren. Schilder waren abgeknickt, Ampeln ausgefallen und zum Teil sogar aus ihren Verankerungen gerissen. Überall flogen Äste und Plastikteile herum. In Lübeck schwappte die Trave längst über ihre Ufer, der Wind drückte das Wasser flussaufwärts in Richtung Stadt.

Im Radio hatten sie davon gesprochen, dass die Pegelstände im Tagesverlauf den höchsten Stand seit mehr als fünfzig Jahren erreichen sollten. Was das für einige Bewohner der Altstadtinsel, insbesondere im Bereich der Obertrave, bedeutete, mochte er sich gar nicht vorstellen.

Unter normalen Umständen wäre er an einem Tag wie diesem im Büro oder am besten gleich im Homeoffice geblieben, was mittlerweile zwar möglich war, aber nur selten von ihm selbst oder den anderen in ihrem Kommissariat genutzt wurde. Die Meldung aus Grömitz, die vor einer knappen Stunde hereingekommen war, stellte allerdings selbst einen schweren Herbststurm in den Schatten. In einer Villa am Kurpark war ein Ehepaar namens Alexander und Maren Clasen tot aufgefunden worden. So wie die Kollegen der Polizeistation Grömitz, die sich gar nicht weit entfernt vom Fundort der Leichen befand, berichtet hatten, musste der Tatort sich ziemlich grauenhaft dargestellt haben. Offenbar waren beide Opfer brutal erdrosselt worden.

Die Position der Toten schien auffällig zu sein, ohne dass die Kollegen näher darauf eingegangen waren. Das sollten sie sich besser mal so schnell wie möglich selbst ansehen, hatte der Grömitzer Polizist gesagt. So etwas Schreckliches hätte es in dem sonst doch eher beschaulichen Badeort noch nie gegeben.

»Mein erster richtiger Einsatz und direkt in Lebensgefahr«, holte Ole, der auf der Rückbank saß, Morten zurück aus seinen Gedanken. »Aber irgendwie anders als gedacht.«

Er warf einen Blick in den Rückspiegel. Ole schien nicht zu wissen, wohin mit seinen langen Beinen in dem kleinen Auto. Trotzdem hatte er Elif den Vorrang gelassen, vorne zu sitzen. Morten hatte noch kein Gefühl dafür, wie Ole tickte. Er gehörte seit September ihrem Team an, aber bislang hatten sie kaum etwas miteinander zu tun gehabt. Vielleicht lag es daran, dass Ole der Sohn von Kriminalhauptkommissar Birger Andresen war, weshalb Morten ihm mit einer Mischung aus Respekt und Zurückhaltung begegnete.

Die Wahrheit war allerdings auch, dass er kaum Zeit gehabt hatte, ihn besser kennenzulernen. Birger Andresens Rückzug aus dem Tagesgeschehen der Mordkommission hatte eine große Lücke hinterlassen. Obwohl Birger vor nicht allzu langer Zeit wegen eines Sabbatjahrs schon einmal länger abwesend gewesen war, wusste Morten nicht, wie sie ihn und seine Erfahrung dauerhaft ersetzen sollten. Zwar hatte Birger angeboten, falls nötig zu helfen und von außen einen Blick auf festgefahrene Ermittlungen zu werfen, aber Morten bezweifelte, dass es jemals dazu kommen würde. Jedenfalls hatte er ihn seit dem Sommer nicht mehr gesehen, als sie gemeinsam in Scharbeutz einen schwierigen Fall aufgeklärt hatten.

Obwohl die Personallage durch Birgers Weggang angespannt war, hatten sich in den letzten Wochen einige Dinge auch zum Positiven gewendet. Carsten Boy war nicht länger kommissarischer Leiter der Mordkommission – für Morten eine Grundvoraussetzung, überhaupt hier weitermachen zu können. Boy und seine hierarchische Art, das Kommissariat zu leiten, hatten ihn an den Punkt geführt, ernsthaft darüber nachzudenken, Lübeck und vielleicht sogar der Kriminalpolizei den Rücken zu kehren.

Auch wenn es nicht Birger Andresen war, der den Posten von Boy übernommen hatte, war er dennoch froh über die Neubesetzung. Morten kannte Ida-Marie Berg noch aus der Phase, bevor sie in Elternzeit gegangen war. Sie hatten damals in seiner ersten richtigen Mordermittlung zusammengearbeitete. Auch von den Kollegen, die bereits länger Teil der Kripo waren, hatte er nur Gutes über sie gehört. Er war dennoch überrascht gewesen zu erfahren, dass sie vor fast zehn Jahren schon einmal die Leitung innegehabt hatte. Offenbar war der Posten in der Vergangenheit einige Male neu besetzt worden. Er wusste nicht viel darüber, und wenn er ehrlich war, wollte er das auch gar nicht.

Jedenfalls hatte Morten in den letzten Wochen eine ganz neue Atmosphäre auf dem Flur im vierten Stock des Polizeihochhauses in der Possehlstraße erlebt. Plötzlich spürte man so etwas wie Teamgeist. Und ihnen wurde viel mehr Vertrauen in die eigenen Stärken und die Verantwortung, die jeder Einzelne übernehmen sollte, entgegengebracht. Etwas, das ihm besonders wichtig war.

Bislang hatte er seine neue Chefin als das komplette Gegenteil von Carsten Boy kennengelernt. Morten war guter Dinge, was die Zukunft des Teams anging, in dem er, obwohl selbst noch gewissermaßen ein Anfänger, mittlerweile verrückterweise einer der erfahrensten Ermittler war.

Was ihn allerdings etwas irritierte, war die offenbar besondere Verbindung zwischen Ida-Marie und Ole Andresen. Er wusste nicht, was es damit auf sich hatte, vermutete aber, dass es mit ihrem Verhältnis zu seinem Vater zu tun hatte. Alles, was mit Birger Andresen zusammenhing, schien irgendwie kompliziert zu sein. Meistens begleitet von einem Rattenschwanz voller weiterer Probleme, hatte er manchmal das Gefühl. Und obwohl Birger so wichtig für ihr Team war und er die meisten Mordfälle in Lübeck und Umgebung in den vergangenen zwei Jahrzehnten mehr oder weniger im Alleingang aufgeklärt hatte, gab es bei ihm auch diese andere Seite, mit der viele anscheinend ihre Schwierigkeiten hatten. Auch wenn Morten erst seit zweieinhalb Jahren dabei war, hatte er mehr als eine leise Ahnung, was dahinterstecken könnte.

Er parkte in zweiter Reihe hinter mehreren Streifenwagen und dem BMW von Harald Seelhoff, dem Leiter der Kriminaltechnik. Vor dem Haus, in dem sich offenbar zwei Morde ereignet hatten. Wortlos gingen sie an einigen Kollegen vorbei und betraten die stattliche Villa.

Im Eingangsbereich wurden sie von einer sehr jungen Kollegin empfangen und die Treppe hinauf in ein großes Wohnzimmer geführt. Mortens Blick kreiste durch den Raum, jedes Detail sah edel und teuer aus. Wer auch immer für die Innenausstattung verantwortlich gewesen war, hatte einen ausgesprochen exquisiten Geschmack und einen prall gefüllten Geldbeutel. Elif und Ole hatten das Wohnzimmer bereits verlassen, ehe auch er schließlich dem leisen Stimmengewirr in die offene Küche folgte.

Alexander und Maren Clasen saßen einander zugewandt auf zwei modernen Barhockern. Die ganze Szenerie wirkte wie gestellt, was sie offenkundig auch war. Schließlich waren die beiden tot und hätten sich unter normalen Umständen so nicht auf den Stühlen halten können, aber ihre Körper lehnten seitlich an einer Wand, vor der auch ein kleiner Tisch stand.

Morten wandte seinen Blick rasch wieder von den beiden ab. Eigentlich war er niemand, der ein Problem mit dem Anblick von Mordopfern hatte. Aber dieser Tatort überstieg auch seine Grenzen.

Die Gesichter der Clasens waren dunkelrot bis lila verfärbt und kaum noch als solche zu erkennen. Bei der Frau waren zudem die Augäpfel stark hervorgetreten. Im Halsbereich der beiden erkannte Morten deutliche Anzeichen dafür, dass sie stranguliert worden waren.

Harald Seelhoff stand etwas abseits und war in ein Gespräch mit Siederdissen, einem seiner erfahrensten Mitarbeiter, vertieft. Mit beiden war Morten bislang noch nicht richtig warm geworden. Vielleicht lag es daran, dass sie als alte Hasen einem jungen Kollegen weniger aufgeschlossen gegenübertraten. Aber wenn er ehrlich war, fiel auch ihm selbst der Umgang mit deutlich älteren Kollegen wesentlich schwerer als mit gleichaltrigen.

Zum Glück hatte sich auch die Kriminaltechnik verjüngt. Seit dem Spätsommer arbeitete Jannik Unger in Seelhoffs Team. Er und Morten kannten sich aus der gemeinsamen Zeit ihrer Polizeiausbildung in Eutin. Jetzt gerade war er damit beschäftigt, mögliche Spuren auf der langen Arbeitsplatte zu sichern. Morten trat auf ihn zu und räusperte sich leise.

»Meinen Eltern hat es letzte Nacht das Dach weggeweht«, sagte Jannik, ohne hochzublicken. »Und anstatt ihnen zu helfen, muss ich mir das hier antun. So ein kranker Scheiß.«

»Augen auf bei der Berufswahl«, sagte Morten trocken. »Wenn ich mich richtig erinnere, wolltest du anfangs doch in den Bereich Cyberkriminalität. Dann wäre dir so etwas erspart geblieben.«

»Dann hätte ich andere Dinge gesehen, auf die ich gut und gerne verzichten kann«, antwortete Jannik genervt. »Willst du dir nicht lieber anschauen, was passiert ist, anstatt mir ungefragt Ratschläge zu geben?«

»Eigentlich hatte ich gehofft, du erzählst es mir.«

»Alles, was ich weiß, ist, dass da drüben zwei Menschen tot auf ihren Küchenstühlen sitzen, weil irgendein Wahnsinniger sie auf brutalste Weise zu Tode gequält hat. Ansonsten gibt es kaum Spuren. Aber ich bin ja leider auch noch nicht fertig.«

Morten verzichtete darauf, Jannik noch weitere Fragen zu stellen. Deutlicher konnte man nicht zum Ausdruck bringen, dass man schlecht gelaunt war und keine Lust auf ein Gespräch hatte. »Tut mir leid, dass du deinen Eltern nicht helfen kannst«, sagte er und wandte sich von ihm ab.

Morten sah, dass Elif und Ole direkt vor den beiden Barhockern standen und die Opfer inspizierten. Er atmete einmal tief durch und stellte sich dann neben sie. »Warum auf diese Weise?«, fragte er leise. »Es sieht fast danach aus, als hätte der Täter das absichtlich so arrangiert.«

»Ich würde sagen, daran besteht gar kein Zweifel«, sagte Elif entschieden. »An deinem Blick vorhin habe ich schon gesehen, dass du dasselbe denkst wie ich. Spannend finde ich allerdings etwas anderes.«

Morten sah sie interessiert aus den Augenwinkeln an.

»Der Tatort ist gestellt«, fuhr Elif fort. »Aber auf diese Weise kann der Mörder unmöglich beide gleichzeitig getötet haben.«

»Du meinst, einer der beiden musste mitansehen, wie der andere zuerst starb?«

»Könnte zumindest sein. Ich wüsste jedenfalls nicht, wie sonst …«

»Kann ich euch kurz stören?«, unterbrach Ida-Marie die beiden. Sie musste gerade erst eingetroffen sein, zumindest hatte Morten weder sie noch ihr Auto vor dem Haus gesehen.

Ohne dass Morten und Elif überhaupt reagieren konnten, redete ihre Chefin weiter. »Es wäre gut, wenn ihr euch mit dem Mann unterhaltet, der die beiden gefunden hat. Er wartet in einem Café an der Promenade.«

»Also ich lege keinen gesteigerten Wert darauf, mir das hier auch nur eine Sekunde länger anzusehen«, sagte Morten.

»Ist es so entscheidend, dieses Gespräch jetzt sofort zu führen?«, fragte Elif etwas irritiert. »Ich würde das hier gerne noch besser verstehen.«

»Es handelt sich offenbar um einen Geschäftspartner und guten Bekannten von Alexander Clasen. Ich halte es für wichtig, schnellstmöglich mit ihm zu reden, um mehr über die Opfer zu erfahren. Besser, als uns hier gegenseitig auf den Füßen zu stehen.« Ida-Marie blickte die beiden mit unmissverständlicher Miene an.

Morten wunderte sich über den angespannten Tonfall seiner Chefin, so kannte er sie nicht. Aber eines schien klar zu sein: Widerspruch war in diesem Moment zwecklos. Und im Gegensatz zu Elif war er ganz froh darüber.