Luxusresort
Der Sturm tobte auch am späten Vormittag noch immer über Grömitz. Die Promenade war von Menschen leer gefegt, auch weil die Gischt der Wellen meterhoch bis an die Häuserfront spritzte.
Morten und Elif liefen in gebückter Haltung bis zu dem kleinen Café gleich in der Nähe der Seebrücke. Dass es trotz des Wetters geöffnet hatte, wunderte Morten, allerdings war mit Ausnahme von dem Mann, der die Clasens heute Morgen gefunden hatte, auch kein anderer Gast anwesend.
Sein Name war Dirk Sander. Er war Bauunternehmer aus Timmendorfer Strand, und wenn er Ole vorhin richtig verstanden hatte, war sein Geschäft in den letzten Jahren zu einem der führenden Betriebe im Bereich Neubau und Sanierung von Luxusimmobilien in der Region herangewachsen.
Er saß am Tresen des Cafés und trug eine dicke Winterjacke mit Fellkragen. Seine Hände schien er an einem heißen Getränk zu wärmen. Morten räusperte sich und wartete darauf, dass Sander sich zu ihnen umdrehte, aber er reagierte nicht und sah stoisch auf einen imaginären Punkt hinter der Theke.
Er gab Elif ein Zeichen, dann traten sie von beiden Seiten neben den Mann mit dem vollen blonden Haar und stellten sich vor.
»Gibt es hier niemanden, bei dem man bestellen kann?«, sagte Morten schließlich. Sein Blick wanderte durch den Laden und zum Bereich hinter der Theke.
»Nein«, antwortete Sander knapp. »Soll ich Ihnen einen Kaffee machen?«
»Danke, nein.« Morten schüttelte irritiert den Kopf. »Weshalb treffen wir uns ausgerechnet hier?«
»Das Café gehört Alexander. Ich habe einen Schlüssel, weil er vorhatte, den Laden komplett zu entkernen und neu zu gestalten.«
»Und Ihr Unternehmen sollte die Arbeiten ausführen?«
»Natürlich.«
»Sie waren also Geschäftspartner?«
»Nicht nur das, ich würde durchaus sagen, dass Alexander ein guter Freund von mir war.«
»Seit wann kannten Sie sich?«
»Wir sind uns vor etwa zehn Jahren zum ersten Mal begegnet, aber bis zu unserem ersten Geschäft hat es noch eine Weile gedauert.«
»Weshalb waren Sie heute Morgen bei den Clasens?«
»Wir waren verabredet«, antwortete Sander. »In seinem Büro, hier gleich um die Ecke. Aber er war nicht da.«
Morten warf Elif einen Blick zu. Von einem Büro Clasens hier an der Promenade wusste er bislang noch nichts. Auch seine Kollegin zuckte mit den Schultern.
»Was haben Sie dann gemacht?«, fragte Morten weiter.
»Ich habe versucht, ihn telefonisch zu erreichen, aber leider ohne Erfolg. Schließlich bin ich rüber zu seinem Haus gelaufen. Die Autos der beiden standen zwar vor der Tür, aber niemand öffnete. Ich bin dann um das Haus herumgegangen, und die Kellertür war offen. Den Rest kennen Sie ja.«
»Was haben Sie gemacht, als Sie die beiden entdeckt haben?«
»Ich bin direkt aus dem Haus gelaufen und habe den Notruf gewählt.«
»Waren Sie sich denn sofort sicher, dass es sich um Alexander und Maren Clasen handelt?«
»Natürlich, ich habe sie doch gesehen.«
»Dann wissen Sie ja, wie brutal der Täter vorgegangen ist. Selbst unsere Identifizierung ist noch nicht ganz abgeschlossen.«
»Mir war sofort klar, dass die beiden tot sind«, entgegnete Sander entschieden. »Und ich hatte keinen Zweifel daran, dass es Alexander und Maren waren.«
Morten nickte. Er hatte gar nicht vorgehabt, Sander in eine Ecke zu drängen, aber irgendwie kam es ihm seltsam vor, dass er bei seiner Schilderung so kurz angebunden war.
»Wann haben Sie zum letzten Mal mit Alexander Clasen Kontakt gehabt?«, wechselte Elif das Thema.
»Der Termin heute Morgen stand schon etwas länger fest«, antwortete Sander. »Ich glaube, wir haben vor zwei Wochen miteinander telefoniert und das Treffen vereinbart.«
»Was war der Grund für den Termin? Gab es einen besonderen Anlass, den Sie nicht telefonisch besprechen konnten?«
»Ich sage es mal so, wir hatten Redebedarf.«
»Inwiefern?«, ließ Elif nicht locker.
»Es gab ein paar Dinge zu unserer zukünftigen geschäftlichen Zusammenarbeit, über die wir sprechen mussten.«
»Klingt, als hätte es Probleme zwischen Ihnen gegeben«, warf Morten ein.
»Probleme würde ich es nicht nennen, aber unterschiedliche Vorstellungen. Alexander hat mir sehr dabei geholfen, mein Unternehmen zu dem zu machen, was es heute ist. Aber wir haben bis zuletzt zu den Bedingungen gearbeitet, die wir damals vereinbart hatten.«
»Die Ihnen also nicht mehr passten?«
»Die Kräfteverhältnisse haben sich verschoben«, antwortete Sander unbeeindruckt. »Mein Unternehmen ist mittlerweile um ein Vielfaches größer als Alexanders kleine Firma. Seine Projekte machen längst nur noch einen kleinen Teil meines Geschäfts aus. Und sie lohnen sich auch kaum noch für mich. Ich war nicht länger bereit, zu diesen Konditionen mit ihm zusammenzuarbeiten.«
Wieder kreuzten sich Mortens und Elifs Blicke. Lieferte Sander ihnen hier etwa das Motiv auf dem Silbertablett? Eben noch hatten sie das Gefühl gehabt, der Mann würde mauern. Und jetzt gab er offenkundig zu, dass Alexander Clasen und er finanzielle Streitigkeiten miteinander gehabt hatten.
»Mir ist klar, was Sie darüber denken«, durchbrach Sander ihre Gedanken, »aber glauben Sie wirklich, ich würde Ihnen das erzählen, wenn ich etwas mit der Sache zu tun hätte?«
»Wir hätten es wahrscheinlich ohnehin herausgefunden«, sagte Elif. »Vielleicht wollten Sie uns einfach zuvorkommen, damit Sie nicht in Verdacht geraten.«
»Alexander ist tot«, erwiderte Sander mit etwas aufgesetzter Entrüstung, wie Morten fand. »Er war nicht nur mein engster Geschäftspartner, sondern auch ein Freund. Entsprechend fühle ich mich gerade. Vollkommen egal, dass wir in letzter Zeit nicht mehr so gut miteinander ausgekommen sind.«
»Haben Sie denn irgendeine Idee, wer es auf ihn und seine Frau abgesehen haben könnte? Sie haben den Tatort selbst gesehen, es scheint so zu sein, als hätte der Täter die beiden sehr planvoll getötet.«
»Wenn ich wüsste oder zumindest ahnen würde, wer das getan hat, hätte ich es Ihnen sofort gesagt.« Sander nahm einen großen Schluck aus seiner Tasse und stellte sie dann auf der Theke ab. Anschließend erhob er sich und sah Morten und Elif abwechselnd mit ernster Miene an.
»Ich will nicht lange um den heißen Brei reden«, sagte er schließlich. »Wenn Sie hier im Ort mit Leuten sprechen, werden sich die meisten nicht gut über Alexander äußern. Wahrscheinlich werden Sie auch kaum jemanden finden, der seinen Tod bedauert. Ich würde nicht so weit gehen zu sagen, dass er Feinde hatte, aber …« Sander brach ab und zuckte mit den Schultern.
»Aber?«
»Er und seine Frau waren sehr unbeliebt in Grömitz.«
»Und weshalb?«, drängte Morten.
»Die beiden stammten nicht aus dem Ort. Die Menschen hier an der Küste betrachten jemanden, der von außerhalb kommt und Dinge verändert, grundsätzlich erst mal kritisch. Und wenn derjenige dann auch noch erfolgreich ist und immer mehr Dinge auf den Kopf stellen will, gibt es irgendwann Gegenwind. Zumal Alexander kein Mensch war, der behutsam vorging und Interesse daran hatte, die Leute mitzunehmen.«
»Was genau meinen Sie damit, dass er Dinge verändern wollte?«, hakte Elif nach. »Ich dachte, er handelte mit Immobilien.«
»Das stimmt, aber es waren nicht nur Wohnimmobilien, sondern auch Geschäftshäuser und Freizeiteinrichtungen, die Alexander aufgekauft und aufwendig saniert oder umgestaltet hat.«
Wieder schien sich Sanders Antwort erschöpft zu haben, doch er setzte noch einmal an. »Er hat dem Ort in den letzten Jahren ein anderes Gesicht gegeben. Wenn Sie mich fragen, wurde Grömitz dadurch massiv aufgewertet. Das sieht aber nicht jeder so. Und zweifellos sind die Preise hier vor allem durch diese Investitionen deutlich gestiegen. Alexander hat auch keinen Hehl daraus gemacht, was er für die Zukunft plante.«
»Was meinen Sie?«
»Sein Ziel war es, Grömitz Stück für Stück in eine Art Luxusresort zu verwandeln. Weg vom familienfreundlichen Urlaubsort hin zu einem Domizil für die Superreichen. Ich glaube, er hat sich in diese Idee ziemlich verrannt. Niemand hier hat seine Pläne unterstützt.«
»Sie denken also, dass das ein mögliches Motiv sein könnte?«, fragte Morten.
»Ich lebe in Timmendorfer Strand und würde mir nicht anmaßen, jemandem von hier zu unterstellen, so kaltblütig zu sein. Ich weiß nur, dass Alexander und Maren in Grömitz alles andere als gern gesehen waren.«
»Gibt es denn jemanden, mit dem er bezüglich seiner Pläne konkret aneinandergeraten ist?«
»Es gab im Frühjahr mal ein paar kleinere Demos im Ort, nachdem durchgesickert war, dass er an mehreren Immobilien an der Promenade interessiert war, um sie abzureißen und dort Luxus-Appartements bauen zu lassen. Wäre noch mal ein schöner Auftrag gewesen, aber der Gegenwind war zu groß.«
»Können Sie uns Namen von diesen Protestlern nennen?«
»Das waren im Wesentlichen die üblichen Personen, die gegen jede Art von Veränderung oder Neuerung sind. Einige von ihnen sitzen in der Gemeindevertretung. Die übrigen sind wahrscheinlich deren Wähler.«
»Aus ökologischen Gründen?«
»Das behaupten sie, aber ich glaube, es ist auch die Angst davor, wie sich Grömitz in Zukunft entwickelt.«
»Wenn ich es richtig verstanden habe, hat Ihr Unternehmen die Pläne von Herrn Clasen nach seinen Vorstellungen umgesetzt.« Morten wechselte das Thema und musterte Sander jetzt ganz genau. Er war gespannt, wie sein Gegenüber auf die nächste Frage reagierte. »Müssten Sie nicht ähnlich unbeliebt bei den Grömitzern sein?«
»Wie meinen Sie das?«
»Na ja, haben Sie denn keine Angst, dass es jemand auch auf Sie abgesehen haben könnte?«
Für einen kurzen Moment erstarrte Sanders Mimik regelrecht. Morten versuchte herauszulesen, ob er verwundert über die Frage war oder tatsächlich darüber nachdachte, ebenfalls in Gefahr zu sein.
»Ich glaube nicht, dass ich Angst haben muss«, sagte er schließlich. »Es wäre mir neu, dass die Menschen mich nicht mögen.«
»Na schön«, sagte Morten. Es gelang ihm nicht, einen kleinen Seufzer zu unterdrücken. »Wir werden bestimmt noch einmal auf Sie zukommen, wenn sich weitere Fragen ergeben. Darum bitte ich Sie, uns Bescheid zu geben, wenn Sie Ihren Wohnort für mehr als eine Nacht verlassen. Haben Sie eine Karte mit Ihren Kontaktdaten?«
»Natürlich.« Sander griff in seine Jackentasche und fingerte eine Visitenkarte hervor. »Sie erreichen mich am besten unter meiner Handynummer. Ich denke, dass ich jetzt nach Hause fahre und mir selbst erst einmal klar darüber werde, was da eigentlich passiert ist und wie es weitergehen soll.«
»Melden Sie sich, falls Ihnen noch etwas einfallen sollte, das wichtig für uns sein könnte.«
»Ich hätte noch eine Frage«, warf Elif plötzlich ein. »Können Sie uns bitte sagen, wo Sie gestern Abend waren und wo Sie die Nacht verbracht haben?«
Sander sah Elif konsterniert an. War er wirklich so unbedarft, dass er nicht mit dieser Frage gerechnet hatte? Oder machte er ihnen die ganze Zeit etwas vor?
»Spielt das irgendeine Rolle?«
»Eine routinemäßige Frage«, sagte Elif ruhig. »Wir tragen so viele Informationen wie möglich zusammen und überprüfen natürlich auch jede Menge Alibis. Also, haben Sie zu Hause geschlafen?«
»Nein, das habe ich nicht«, sagte Sander und wandte sich etwas zur Seite.
»Sondern wo?«
»Nicht weit von hier entfernt bei einer Freundin.«
»Freundin?«, fragte Elif mit hochgezogener Augenbraue.
»Muss ich jetzt etwa mein Privatleben offenlegen?«, reagierte Sander gereizt.
»Sagen Sie uns wenigstens den Namen dieser Frau, damit wir das notfalls überprüfen können.«
»Hören Sie, das ist wirklich nichts, was nach außen dringen darf. Es würde nicht nur mich in Schwierigkeiten bringen, sondern vor allem …« Sander stockte, der Name dieser Frau wollte ihm nicht über die Lippen kommen.
»Nun spucken Sie ihn schon aus, so schlimm wird es doch wohl nicht sein.«
»Schlimmer«, entgegnete Sander. »Ich gehe davon aus, Sie kennen Barbara Wendt?«
Morten nickte. Ja, er wusste, wer sie war. Und sofort wurde ihm klar, weshalb Dirk Sander nicht darüber sprechen wollte. Denn Barbara Wendt war niemand Geringeres als die Bürgermeisterin von Grömitz.