Topmodel
Eigentlich hatte sie ihm im Sommer positive Signale gesendet. Sie mochte ihn, hatte Elif gesagt, und sogar mehr als nur das. Am liebsten wäre Morten ihr damals um den Hals gefallen, aber sie hatte ihm zuvor auch von dem schrecklichen Tod ihres Ehemanns bei einem Verkehrsunfall erzählt. Auf eine seltsame Weise stand jetzt, wo er die Wahrheit über Elifs Vergangenheit kannte, mehr zwischen ihnen als zuvor, als er immer wieder gerätselt hatte, weshalb sie manchmal etwas distanziert wirkte.
Momentan fiel es ihm daher schwer, unbeschwert auf sie zuzugehen. Er wollte sie nicht überrumpeln, ihr die nötige Zeit geben, aber gleichzeitig spürte er, dass es eben nicht diese vorsichtige Art war, die Elif ganz gern mochte. Das hatte dazu geführt, dass sie in den letzten Wochen kaum ein privates Wort miteinander gewechselt hatten. Vergeblich hatte er auf ein Zeichen von ihr gewartet. Dass sie sich einander annäherten, etwas gemeinsam unternahmen oder sie ihm wenigstens mal ein Lächeln schenkte. Aber wahrscheinlich war sie doch längst noch nicht so weit, wie sie im Sommer gesagt hatte.
Auch jetzt liefen sie schweigend nebeneinanderher. Das lag allerdings weniger an der Situation zwischen ihnen, sondern vielmehr an dem Sturm über der Lübecker Bucht, der keinerlei Anstalten machte abzuflauen und ohnehin jedes Wort, das sie redeten, davongeweht hätte.
Nach einem zehnminütigen Fußmarsch, der sich im Kampf gegen die Böen wie ein schwerer Langstreckenlauf anfühlte, erreichten sie das lang gezogene weiße Gebäude mit dem Spitzgiebel. Sie hatten vergeblich versucht, im Rathaus jemanden telefonisch zu erreichen, um anzukündigen, dass sie dringend mit Barbara Wendt sprechen wollten.
Morten war nicht überrascht gewesen, dass niemand ans Telefon gegangen war. Es gab wohl keine Gemeinde entlang der Küste, in der heute Morgen kein Chaos herrschte. Alle Kräfte waren gebunden, um die Schäden in Augenschein zu nehmen, Notfallpläne umzusetzen und die Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Trotzdem wollten sie es nach dem Gespräch mit Dirk Sander erst einmal direkt im Rathaus versuchen.
Dass die Bürgermeisterin und der Geschäftspartner eines der Opfer offenbar eine Affäre hatten, war Grund genug, ihr ein wenig auf den Zahn zu fühlen. Auch wenn die Sache wahrscheinlich nichts zu bedeuten hatte und sie Sander zudem versprochen hatten, nicht zu erwähnen, dass sie von ihrer Liebschaft wussten.
Hinzu kam, dass der Mord an den Clasens und vor allem auch die Art und Weise, wie sie getötet worden waren, in einem Ort wie Grömitz für einigen Aufruhr sorgen würde, sodass es sinnvoll war, sich mit der Bürgermeisterin abzustimmen. Vielleicht würden sie auch mit dem ein oder anderen Gemeindemitarbeiter sprechen können, um mehr über die Clasens in Erfahrung zu bringen.
Ein paar Sekunden später wussten sie, dass daraus fürs Erste wohl nichts werden würde. Die Türen des Rathauses waren verschlossen.
Ein Mann um die vierzig oder etwas älter, der rauchend vor dem Eingang stand, stellte sich ihnen als Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr vor. »Wetterbedingt ist das Gemeindehaus heute nicht besetzt«, sagte er. »Am besten, Sie kommen morgen oder noch besser übermorgen wieder.«
»Wir sind von der Kripo Lübeck«, sagte Morten. »Vielleicht haben Sie gehört, was hier letzte Nacht passiert ist. Und ich meine nicht den Sturm.«
»Natürlich«, sagte der Feuerwehrmann. »Ein paar meiner Kollegen sind zu dem Haus am Kurpark gerufen worden. Ich weiß, dass die Clasens tot sind.«
»Wir würden gerne mit der Bürgermeisterin sprechen. Wissen Sie, wie wir sie erreichen können?«
»Nein, tut mir leid. Ich gehe aber davon aus, dass sie hier irgendwo im Ort im Einsatz ist. Oder zumindest ihr Gesicht in irgendeine Kamera hält. Angeblich sind schon mehrere Fernsehteams hier, die die Sturmschäden filmen. Oder sie versuchen es mal über die sozialen Medien, da ist die Frau Wendt auch sehr aktiv.«
Morten musterte den Mann. Er trug eine Wollmütze und eine dicke lange Jacke, die vielleicht zum Outfit der Feuerwehr gehörte. Es wirkte, als hätte er wenig geschlafen, zumindest hingen seine Augenringe tief ins Gesicht. Und er machte keinen Hehl daraus, was er von Barbara Wendt hielt. In seinen Worten schwang etwas sehr Abschätziges mit.
»Welcher Bürgermeister ist das heutzutage nicht«, entgegnete Elif trocken. »In solchen Ausnahmesituationen ein ganz probates Mittel mit hoher Reichweite.«
»Muss jeder für sich selbst entscheiden, mein Ding ist das nicht. Wäre ich Bürgermeister, würde ich mich persönlich um die Menschen kümmern, anstatt mich die ganze Zeit selbst zu profilieren.«
»Kannten Sie die Clasens?«, wechselte Morten das Thema.
»Nicht persönlich, zum Glück.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ihr Ernst?«, blaffte der Mann Morten barsch an. »Alexander Clasen musste man nicht persönlich kennen, um ihm die Pest an den Hals zu wünschen. Wenn er nicht schon tot wäre, würde ich –«
»Ich glaube, es wäre besser, wenn Sie jetzt nicht weiterreden«, unterbrach Morten ihn. »Andernfalls sind wir gezwungen, Sie für eine offizielle Zeugenaussage mit aufs Polizeipräsidium zu nehmen.«
»Ich sage Ihnen ganz ehrlich, egal, mit wem Sie hier sprechen werden, jeder wird so über Clasen und seine furchtbare Frau reden. Hoffentlich hat dieser Wahnsinn jetzt ein Ende.«
Morten und Elif tauschten einen raschen Blick. Sander hatte sie bereits vorgewarnt, dass die Clasens im Ort alles andere als beliebt gewesen waren. Aber dieser Feuerwehrmann, dazu abgestellt, hier vor dem geschlossenen Rathaus zu wachen, schien Alexander Clasen und dessen Frau regelrecht gehasst zu haben.
»Können Sie bitte etwas konkreter werden?«, ergriff Elif das Wort. »Was genau hat die Grömitzer an den Clasens gestört? Ging es dabei um deren Geschäfte? Soweit wir wissen, hat sich der Ort durch seine Investitionen touristisch durchaus weiterentwickelt und kann jetzt –«
»Investitionen?«, platzte der Mann heraus. »Ihm ging es doch nicht darum, Grömitz zu einem schöneren Ort zu machen. Für ihn war nur die Kohle entscheidend. Und davon hatte er genug.«
»Aber erst nachdem er das Risiko eingegangen war, Immobilien zu kaufen und nach aufwendiger Sanierung wieder zu veräußern, oder?«
»Verteidigen Sie diesen gierigen Aasgeier etwa noch?«
»Uns interessiert einfach, was genau Sie so wütend macht«, entgegnete Elif. Sie ließ sich von dem aufgebrachten Mann nicht aus der Ruhe bringen. »Wie kam es dazu, dass jemand, der so viel Geld in die Sanierung alter Villen und Gebäude steckt, derart unbeliebt bei den Bürgern ist?«
»Er und seine Frau haben sich genommen, was sie wollten. Und was sie nicht wollten, haben sie einfach weggeschmissen wie ein Stück Dreck.« Der Mann presste seine Worte jetzt heraus. Es schien so, als bisse er sich auf die Lippen, um gewissermaßen seine Zunge zu hüten und die Wut hinunterzuschlucken.
Nach einigen Sekunden hatte er sich wieder gefangen und redete weiter. »Wäre es nur bei ein paar alten Villen geblieben, wäre das kein Problem gewesen. Aber ihm gehörte mittlerweile die halbe Promenade. Er wollte auch Geschäfte und Hotels nach seinen Wünschen umgestalten. Alles nur noch hochpreisig und luxuriös. Und vor drei Jahren ist er dann auch in den Wohnungsmarkt eingestiegen. Jeder, der hier lebt, leidet unter den explodierenden Preisen. Wir wollen hier nicht den Weg anderer Badeorte gehen. Aber das alles hat Clasen nicht interessiert. Auch, weil er eine wichtige Fürsprecherin hatte. Seine einzige.«
Morten wartete auf den Namen, dabei konnte er ihn sich bereits denken.
»Wenn man vom Teufel spricht«, sagte der Mann mit leisem Stöhnen und wies mit dem Kopf über Morten und Elif hinweg. Noch ehe sie sich umdrehen konnten, erklang eine klare, sehr bestimmte Frauenstimme. Sie gab Anweisungen und sparte nicht mit deutlicher Kritik hinsichtlich der Verfügbarkeit von Rettungskräften. Dann verabschiedete sie sich unfreundlich von ihrem Gesprächspartner und beendete das Telefonat.
Im nächsten Moment stand sie neben ihnen, Barbara Wendt, die Bürgermeisterin von Grömitz. Sie trug einen langen schwarzen Mantel, darunter einen roten, eng anliegenden Rollkragenpullover und einen kurzen dunklen Rock über einer schwarzen Strumpfhose. Die Länge ihrer Beine wurde zudem durch hohe Stiefel mit Absatz betont. Mehrmals fuhr sie sich mit ihrer rechten Hand durch die brünetten Haare, die sich lang gewellt über den Kragen des Mantels legten.
Morten war bei ihrem Anblick für einen kurzen Augenblick derart irritiert, dass er mit offenem Mund dastand, unfähig, etwas zu sagen. Er kannte zwar ihren Namen, hatte aber keine Vorstellung von ihr gehabt. So genau hatte er die Lokalpolitik von Grömitz dann doch nicht verfolgt. Eine Bürgermeisterin, die aussah wie ein kaum gealtertes Topmodel, hatte er jedenfalls nicht erwartet.
»Frau Bürgermeisterin«, sagte er etwas unbeholfen, nachdem er sich wieder gefangen hatte. »Morten Sandt, Kripo Lübeck, und meine Kollegin Elif Duman.«
»Nicht so förmlich, bitte. Ich heiße Barbara Wendt, die meisten hier nennen mich aber Babs. Ich hatte schließlich auch schon ein Leben vor diesem Amt.« Sie lächelte die beiden mit ihren strahlend weißen Zähnen an.
Etwas verlegen blickte Morten zur Seite, wo in einiger Entfernung der Feuerwehrmann, dessen Namen sie gar nicht abgefragt hatten, stand und ihr Gespräch zu belauschen schien.
»Gut, dass Sie trotz allem noch Humor haben«, ergriff Elif das Wort, verzichtete jedoch darauf, die Frau zu duzen. Sie wollte gar nicht erst zulassen, dass die Bürgermeisterin dachte, sie könne Morten und sie mit einem flapsigen Spruch und einem Lächeln aus dem Konzept bringen, nur weil sie keine ergrauten Kriminalkommissare waren.
»Hier kommt heute ja wirklich alles zusammen«, fuhr Elif fort. »Auch wenn Sie gerade wahrscheinlich ausschließlich damit beschäftigt sind, sich um die Schäden und die Versorgung der Menschen zu kümmern, würden wir Ihnen gerne ein paar Fragen zu dem stellen, was vergangene Nacht hier abseits des Sturms noch passiert ist. Sie sind darüber informiert, dass Alexander Clasen und seine Frau Maren tot in ihrem Haus aufgefunden wurden?«
»Selbstverständlich«, antwortete Barbara Wendt nun deutlich reservierter.
»Sie wissen auch, dass wir davon ausgehen, es mit einem Doppelmord zu tun zu haben?«
»Ja, ich hörte davon. Bislang hatte ich aber kaum Zeit, mich damit zu beschäftigen, wie Sie sicher verstehen können. Ehrlich gesagt bin ich sogar ganz froh darüber.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Elif.
»Ich kannte Alexander sehr gut und würde behaupten, dass wir Freunde waren. Dass Maren und er tot sind, habe ich noch gar nicht wirklich realisiert. Aber neben meiner persönlichen Trauer erschüttert dieses Verbrechen natürlich den ganzen Ort. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, was es noch nach sich ziehen wird. Wahrscheinlich wird das schlimmer als die Folgen dieses Sturms.«
»Ich würde Ihnen diese Sorge gerne nehmen, aber einiges deutet darauf hin, dass die Ermittlungen tatsächlich schwierig werden. Aktuell gehen wir jedenfalls nicht davon aus, dass es sich um einen Raubmord handelt, sondern um eine gezielte Tat.«
»Weshalb sollte das jemand tun?«, fragte Barbara Wendt so überrascht, dass Morten sofort Zweifel daran bekam, ob sie es ernst meinte.
»Das wissen wir nicht, aber vielleicht können Sie uns helfen herauszufinden, was passiert ist.«
»Ich befürchte, dass Ihnen das, was ich dazu sagen kann, nicht wirklich weiterhelfen wird. Aber stellen Sie doch gerne Ihre Fragen.«
»Sie waren mit den Clasens also befreundet?«, fragte Elif unbeeindruckt. »Würden Sie das bitte etwas genauer beschreiben?«
»Was soll denn diese Frage?«, reagierte Barbara Wendt nun deutlich misstrauischer.
»Wir möchten so viel wie möglich über die Clasens in Erfahrung bringen. Dazu gehört auch zu wissen, zu wem die beiden engeren Kontakt hatten.«
»Was bringt es Ihnen denn bitte schön, Details über mein Verhältnis zu Alexander und Maren zu kennen? Ich glaube, Sie sollten besser mal –«
»Beantworten Sie doch bitte einfach unsere Fragen«, unterbrach Elif die Bürgermeisterin. »Umso schneller ist dieses Gespräch vorbei.«
Barbara Wendt wollte gerade erneut ansetzen, um sich zu beschweren, hielt sich aber im letzten Moment zurück und schluckte ihre Worte hinunter.
»Viele Menschen hier sind meine Freunde«, sagte sie schließlich. Ihre kurz aufgeflammte Unbeherrschtheit war wieder verschwunden, das strahlende Lächeln kam zurück. »Alexander und ich sind uns vor etlichen Jahren begegnet, als er gerade sein erstes Projekt umsetzen wollte. Damals war ich noch nicht im Amt.«
»Was haben Sie denn zuvor gemacht?«, fragte Morten interessiert.
»Alles Mögliche für den Ort«, fasste Barbara Wendt sich kurz. »Alexander fiel mir sofort auf. Jemanden wie ihn gab es nicht in Grömitz. Normalerweise investieren Leute wie er nur in Timmendorfer Strand oder Scharbeutz. Ich fand das spannend, so haben wir uns kennengelernt.«
»Also war das mehr eine Freundschaft, die auf dem Geschäftlichen beruhte?«, hakte Morten nach.
»Nein, so kann man das nicht sagen. Wir haben uns natürlich das ein oder andere Mal über seine Pläne ausgetauscht, weil ihm meine Meinung wichtig war, aber das war nicht der Grund dafür, dass wir uns regelmäßig getroffen haben. Wir lagen einfach auf einer Wellenlänge. Das galt auch für Maren.«
»Hat sich Ihr Verhältnis verändert, als Sie Bürgermeisterin wurden?«
»Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen, aber Sie können sich sicher sein, dass meine politischen Entscheidungen in keiner Weise beeinflusst wurden.«
»So etwas würden wir Ihnen natürlich auch niemals unterstellen.« Morten hob entschuldigend die Hände. Auf ein Zwinkern verzichtete er, die Ironie sollte sie wohl auch so verstanden haben.
»Wie würden Sie Alexander Clasen beschreiben?«, wechselte Elif das Thema. »Was für ein Mensch war er?«
»Ich verstehe nicht, was diese Fragerei soll«, sagte Barbara Wendt erneut verständnislos. »Denken Sie wirklich, dass Sie auf diese Weise den Mörder der beiden finden?«
»Wir stehen ganz am Anfang unserer Ermittlungen«, erklärte Elif geduldig. »Da kann jedes kleine Detail hilfreich sein.«
»Dann sage ich es Ihnen, wie es ist. Alexander war ein sehr angenehmer Mensch, ein toller Gesprächspartner, zielstrebig, zuverlässig, voller Ideen, mit einem trockenen Humor und einem großen Herzen.«
Wieder suchte Morten den Blickkontakt zu Elif. Ihr kurzes Nicken bedeutete ihm, dass sie dasselbe dachte wie er. Sie mussten in die Offensive gehen.
»Wir haben anderes gehört«, sagte er ohne Umschweife. Aus den Augenwinkeln sah er den Feuerwehrmann an, der noch immer mit verschränkten Armen ein paar Meter entfernt stand. Er hatte das Gefühl, dass Barbara Wendt dem Mann bereits mehrfach einen missbilligenden Blick zugeworfen hatte.
»Uns wurde zugetragen, dass Alexander Clasen, aber auch seine Frau in Grömitz äußerst unbeliebt war«, fuhr er fort. Mit seinen Investitionen, die die Menschen hier nicht gerne sehen, und vor allem mit der Art, wie er dabei vorgegangen ist.«
»Ja, es war klar, dass so etwas kommt«, entgegnete Barbara Wendt und rümpfte ihre Nase. »Manchmal frage ich mich wirklich, ob ich das hier noch länger machen will. Diese Leute verdienen es doch gar nicht, dass ich tagtäglich vom Aufstehen bis zum Schlafengehen für sie im Einsatz bin. Alles, was neu ist, lehnen sie ab. Jede Veränderung wird verteufelt. Dabei merken sie gar nicht, dass genau diese Denkweise der Grund dafür ist, weshalb die großen Investoren sich lieber andere Seebäder suchen.«
»Uns interessieren weniger die Politik und die Tourismusziele Ihres Ortes als vielmehr die Tatsache, dass es möglicherweise Menschen gibt, die ein Motiv für den Mord an den Clasens haben.«
»Weil Alexander Immobilien aufgekauft und saniert hat? Das ist doch lächerlich.«
»Nennen Sie uns ein anderes Motiv.«
»Also mir reicht es jetzt. Wir befinden uns hier aus nachvollziehbaren Gründen in einer absoluten Ausnahmesituation. Und ich soll Ihnen sagen, wer Alex und Maren umgebracht hat? Ist das Ihr Ernst?«
»Ihre Aussagen stehen nun mal komplett im Widerspruch zu dem, was wir von anderer Seite gehört haben. Wobei Sie ja im Grunde eben bestätigt haben, dass die Leute hier von den Plänen der Clasens nichts halten. Da frage ich mich ehrlich gesagt, wie es um Ihre Beliebtheitswerte steht, aber das soll nicht unser Problem sein.«
»Nein, das muss es nicht. Sie brauchen sich um mich keine Sorgen zu machen. Ich habe hier trotz allem noch viel vor. War’s das jetzt?«
»Für den Moment habe ich keine weiteren Fragen«, sagte Morten nachdenklich. »Nur noch zwei organisatorische Dinge. Wir benötigen so schnell wie möglich eine Liste aller Gemeindevertreter. Können Sie uns die besorgen?«
»Darf ich fragen, wofür Sie die benötigen?«
»Wir werden mit dem ein oder anderen sprechen müssen«, antwortete Morten. »Offenbar gab es ja auch aus gewissen Fraktionen Proteste gegen Clasens Pläne.«
»Sie wissen ja bereits eine ganze Menge«, sagte Barbara Wendt. Auf einmal schien es, als wäre sie auf der Hut.
»Wir gehen akribisch unserer Arbeit nach.«
»Das will ich doch hoffen. Meine Sekretärin wird Ihnen die Liste zukommen lassen.«
»Danke. Wäre es zudem möglich, dass Sie der Kripo im Rathaus einen Raum zur Verfügung stellen, wo wir uns in Ruhe besprechen können?«
»Sollte möglich sein«, antwortete Barbara Wendt knapp und drehte sich zu dem Mann von der Freiwilligen Feuerwehr um. »Fragen Sie doch den da, er schließt Ihnen auf.«
Morten nickte und wollte sich gerade schon von der Bürgermeisterin abwenden, als Elif sich räusperte.
»Ich habe noch eine letzte Frage«, warf sie ein. »Ich würde gerne wissen, ob Ihnen der Name Dirk Sander etwas sagt.«
Morten zuckte zusammen. Sie hatten Sander versprochen, nicht zu erwähnen, dass er die vergangene Nacht bei der Bürgermeisterin von Grömitz verbracht hatte. Andererseits waren sie diesem Mann auch nichts schuldig, schon gar nicht, wenn es darum ging, einen Doppelmörder zu finden.
Trotz seiner Verwunderung über Elif war ihm nicht entgangen, dass Barbara Wendt für einige Sekunden wie versteinert gewirkt hatte. Als sie sich wieder fing, kam ihr künstliches Lächeln zurück. Sie kämpfte mit allen Mitteln dagegen an, die Contenance zu verlieren.
»Natürlich kenne ich Herrn Sander«, sagte sie schließlich. »Ohne sein Unternehmen sähe es hier vielleicht noch immer so aus wie vor zwanzig Jahren.«
»Clasen und Sander waren ein eingespieltes Team, richtig?«
»Ein Glücksfall für Grömitz.«
»Wussten Sie, dass die beiden zuletzt Differenzen hatten?«
»Alexander und Dirk?«, fragte Barbara Wendt so prompt, dass Morten das Gefühl hatte, sie wollte nur Zeit gewinnen, um nach unverfänglichen Worten zu suchen.
»Dirk Sander hat es uns selbst gesagt«, half Elif der Bürgermeisterin auf die Sprünge.
»Das wusste ich nicht«, sagte sie schließlich.
Eine bessere Antwort war ihr also nicht eingefallen. Morten spürte allerdings, dass Elif sich damit nicht zufriedengeben wollte.
»Sander sah sich finanziell benachteiligt, er wollte die Konditionen der Zusammenarbeit ändern«, fuhr sie fort. »Könnte das nicht ein Motiv sein? Vielleicht sind die beiden darüber in Streit geraten.«
»Halte ich für ausgeschlossen«, antwortete Barbara Wendt knapp.
»Und weshalb?«
»Weil ich weiß, dass …« Sie stockte und schüttelte den Kopf. »Nein, Sie haben recht. Ich kann es nicht mit Sicherheit ausschließen.«