Unmenschlich
Wenn er zurück an die Zeit dachte, in der sein Leben zerstört worden war, wurde ihm auch heute noch schwarz vor Augen. Nur für den Bruchteil einer Sekunde. Ein ganz kurzes Flackern. Als würde der Gedankenfilm reißen. Oder eine Sequenz ankündigen, die noch düsterer war als der Rest. Vielleicht eine unterbewusste Warnung, an dieser Stelle der Reise in die Vergangenheit besser anzuhalten.
Es gelang ihm nur selten. Meistens kamen die Bilder mit derart geballter Wucht zurück, dass die Wut ungehemmt die Gewalt über seinen Verstand einnahm.
Jahrelang hatte er sich regelrecht gewünscht, Wut zu fühlen. Doch jetzt, wo sie regelmäßig hochkam, empfand er diese Momente, in denen sein Kopf explodierte und er keine Kontrolle mehr über seinen Körper hatte, einfach nur als schrecklich und qualvoll.
Er hatte gehofft, nach den ersten beiden Morden ein Gefühl der Genugtuung zu empfinden. Dass der Hass langsam verschwand. Aber das Gegenteil war der Fall. Es hatte ihn derart getriggert, dass er es wieder tun musste. Diejenigen töten, die Meilensteine in seinem verkorksten Leben waren.
Die ursprüngliche Liste war lang gewesen. Er hatte schnell gemerkt, dass er sie nicht ganz abarbeiten konnte. Stattdessen hatte er sich frühzeitig auf diejenigen konzentriert, die auf jeden Fall dran glauben mussten. Die es nicht verdient hatten, weiterzuleben. Andere waren nur Mitläufer gewesen. Wenn ihm die Zeit bliebe, würde er sich auch um sie kümmern. Doch wichtiger waren erst mal die Hauptschuldigen.
Fast zwei Jahre waren inzwischen vergangen, seit das Unvorstellbare passiert war. Dass er ihm begegnet war, diesem Jungen von damals, von dem er am Ende selbst nicht mehr gewusst hatte, ob es ihn gegeben hatte oder er ihn sich nur einbildete. Mitten in Lübeck war er ihm über den Weg gelaufen. Für einen kurzen Moment war er so perplex gewesen, dass er ihn um ein Haar wieder aus den Augen verloren hätte. Aber dann war er ihm gefolgt. An diesem Tag. Und auch am nächsten und übernächsten. So lange, bis er sich sicher gewesen war. Bis er alles über ihn wusste.
Da war kein Hass, wenn er ihn sah. Noch immer war er etwas ganz Besonderes in seinem Leben. Und dennoch ertrug er es nicht, dass diese Person offenbar ein ganz normales Leben führte, während er selbst am Abgrund stand.
Er wusste noch immer nicht, was er mit ihm machen sollte, obwohl ihm die Zeit davonlief. Ihn zu töten konnte er sich nicht vorstellen. Doch stand er auf seiner Liste fast ganz oben. Aber seit Wochen verdrängte er den Gedanken an die Konfrontation mit ihm.
Über ihm gab es nur eine weitere Person, die noch bedeutsamer für ihn war. Ganz am Ende würde er sich um den Menschen kümmern, der für all sein Leid verantwortlich war. Die Person, die er bis heute nicht kannte und auf eine gewisse Weise doch schon immer.
Vielleicht hätte er nur sie zur Rechenschaft ziehen sollen. Darüber hatte er so oft nachgedacht, dass er Zweifel bekam, ob es richtig war, was er tat. Aber zum Glück hatte seine Vernunft bislang immer gesiegt. Sie war zwar die Person, die ihn vom ersten Tag seines Lebens an im Stich gelassen hatte, allerdings gab es da draußen weitere bösartige Menschen, die ihn schlecht behandelt hatten.
Schlecht behandelt. Er musste schmunzeln bei dieser Wortwahl. Ein Schmunzeln, das so bitter war, dass sich sofort Tränen in seinen Augen bildeten. Sie hatten ihn nicht nur schlecht behandelt. Es gab gar keine Worte für das, was sie ihm angetan hatten. Es war schlichtweg unmenschlich gewesen.
Jetzt ging es um die nächste dieser Personen. Vielleicht konnte sie sich gar nicht mehr an ihn erinnern, weil er nur einer von vielen gewesen war, dessen Leben sie zerstört hatte. Aber er würde ihr auf die Sprünge helfen, und dann sollte sie verstehen, dass nach so vielen Jahren der Zeitpunkt der Rache gekommen war. Für all die grauenhaften Momente, die sie ihm zugefügt hatte. Oder wenn sie einfach nur weggesehen und geschwiegen hatte.
Sie war definitiv jemand, der sterben musste. Und spüren sollte, wie sich der Schmerz und die Qualen anfühlten. Wenn von einer Sekunde auf die andere die Welt um einen herum zusammenbrach. Es würde natürlich nicht ansatzweise der gleiche Schmerz sein, der ihn jahrelang zerstört hatte, aber die Hoffnung auf ein wenig Genugtuung war immer noch da. Denn niemals würde er das, was er damals erlebt hatte, vergessen können. Dieser Gedanke stand über allem.
Aus seiner Jackentasche zog er ein kleines Stemmeisen. Er hatte das Haus in Travemünde wochenlang beobachtet. Tatsächlich war es hier schwieriger, unbehelligt einzusteigen, als in die Villa in Grömitz. Aber er war sich sicher, mit dem Seitenfenster links am Haus die Schwachstelle gefunden zu haben. Und es war mitten in der Nacht, sodass ihn hoffentlich niemand sah.
Er atmete tief durch und blickte dabei an sich herunter. Die dicke Winterjacke, die schwarze Jeans und die schweren Schuhe. All das trug er schon seit Jahren, viel mehr an Kleidung besaß er gar nicht.
Das war sein Leben. Es fühlte sich heruntergekommen und nutzlos an. Den Anblick im Spiegel vermied er schon seit Langem. Er konnte es kaum ertragen, dieses Elend mit eigenen Augen zu sehen.
Wenn das alles vorbei und er noch am Leben wäre, würde er sich vielleicht auch wieder um sein Äußeres bemühen. Aber zuerst musste er sich um seine inneren Wunden kümmern.