Windstärke 11
Dirk Sander sah anders aus als gestern. Er machte einen selbstbewussten Eindruck, von Trauer über den Tod von Alexander Clasen war nichts mehr zu erkennen.
Er stand vor dem bodentiefen Fenster seines Hauses in Timmendorfer Strand und blickte auf die noch immer aufgewühlte Ostsee. Eine eindrucksvolle Aussicht, zu jeder Jahreszeit.
In seiner rechten Hand schwenkte Sander einen Drink. Möglicherweise nicht sein erster heute, so locker wie er Morten eben begrüßt hatte. Andererseits war es gerade mal halb elf. Welchen Anlass sollte er haben, bereits jetzt angetrunken zu sein? Vielleicht nahm ihn der Tod seines Geschäftspartners doch stärker mit, sodass er Trost im Alkohol suchte. Oder musste er sich etwa mit Hochprozentigem beruhigen, weil er erst jetzt realisierte, was er mit den Clasens gemacht hatte?
Morten fixierte Sander und schüttelte den Kopf. Es war unmöglich, dass er der Mann war, den Westphal im Kurpark beobachtet hatte. Er war mindestens eins fünfundachtzig groß, und seine Kleidung passte überhaupt nicht zu der Beschreibung. Außerdem war er gepflegt und geschätzt doppelt so alt wie der Unbekannte, der das Haus der Clasens observiert hatte.
Es fiel Morten schwer, sich zu konzentrieren. Dass er überhaupt hier war, war eine Kurzschlussentscheidung gewesen, nachdem er es in seinem Büro im Präsidium nicht mehr ausgehalten hatte. Er glaubte ohnehin nicht mehr so richtig an die Theorie, dass der Mord mit Clasens Geschäften zu tun hatte, aber er hatte keinen anderen Anhaltspunkt, dem er nachgehen konnte. Außerdem musste er seinen Kopf freikriegen, weshalb er sich nach seiner Ankunft erst einmal eine Weile am Strand gegen den Wind gestemmt hatte.
Er hatte mit allem gerechnet, was Elifs Reaktion auf den gestrigen Abend anging. Vom besten Fall, dass es der Anfang von viel mehr zwischen ihnen sein könnte, bis zu völliger Ablehnung, weil sie sich bewusst geworden war, dass das alles ein riesiger Fehler gewesen war, weil sie noch immer nicht bereit war, jemand anderen in ihr Leben zu lassen.
Aber es war ganz anders gekommen. Die Worte, die sie ihm geschrieben hatte, hatten ihn vollkommen unvorbereitet getroffen. Eine Ohrfeige, so heftig, dass sie ihm auf gewisse Weise körperliche Schmerzen zugefügt hatte:
Guten Morgen, Morten. Ich bereue nicht, was gestern Abend passiert ist, aber wir müssen es vergessen. Es war nicht richtig. Ich bin seit einem Monat in einer festen Beziehung. Es wäre gut, wenn wir uns in nächster Zeit aus dem Weg gehen. Tut mir leid.
Was zum Teufel? Sie hatte ihm gesagt, wie schwer es ihr falle, sich wieder neu zu verlieben. Obwohl der Tod ihres Mannes schon vier Jahre zurücklag, meinte sie, sie brauche noch Zeit. Er hatte es ihr abgenommen, dass sie noch nicht so weit war, aber gleichzeitig auch gehofft, dass eine realistische Chance für sie beide bestand. Und dann war es gestern Abend, nach einigen Monaten, endlich so weit gewesen, dass sie sich nähergekommen waren. Sie hatten sich geküsst. Innig.
Und sie hatte es genauso genossen wie er, war Morten sich sicher. Obwohl sie ein wenig geheimnisvoll geblieben war und nach dem Kuss kein zweiter folgte, waren sie zärtlich zueinander gewesen. Er war sich nicht sicher gewesen, ob sie dazu bereit war, aber es hatte auch rein gar nichts darauf hingedeutet, dass es jemand anderen gab.
Wie konnte es sein, dass Elif so mit seinen Gefühlen spielte? Jemand, der selbst einen tragischen Verlust hatte hinnehmen müssen. Der so viel Schmerz erfahren hatte. Von dem er niemals erwartet hätte, auf diese Weise ausgenutzt zu werden. Oder wie man es auch bezeichnen wollte.
Morten war so wütend gewesen, dass er wie in einem kitschigen Film ein leeres Weinglas, das noch auf dem Tisch stand, an die Wand geworfen hatte. Gefolgt von einigen Flüchen und einem Faustschlag auf den Sitzsack, den er sich gekauft, aber bislang kaum genutzt hatte, weil er ungemütlich und viel zu weich war.
Gerade als er sich etwas beruhigt hatte, hatte sein Handy erneut vibriert. Elif hatte noch einmal geschrieben.
Mir geht es nicht gut. Ich werde mich krankschreiben lassen. Irgendwann werde ich dir das alles erklären.
Kein Bedarf, war es ihm sofort durch den Kopf gefahren. Vollkommen egal, welche Erklärung sie liefern würde, er wollte sie nicht hören. Er ließ sich doch nicht von ihr am Nasenring durch die Manege ziehen.
Das Problem war nur, dass er emotional einfach viel zu aufgewühlt war. Auch jetzt noch, vier Stunden nach ihrer ersten Textnachricht. Morten konnte an nichts anderes denken als an diese Worte auf seinem Handy. Und er brauchte sich auch gar nichts vorzumachen, es hatte ihn nämlich schon vor einigen Monaten erwischt. Im Grunde schon kurz nachdem sie zu ihnen ins Team gestoßen war und sie sich näher kennengelernt hatten. Morten war ihr gegenüber anfangs ziemlich schüchtern gewesen, und erst als Elif vorsichtige Zeichen gegeben hatte, dass sie sich auch mehr vorstellen könnte, war in ihm die Hoffnung gewachsen, die heute Morgen dann mit voller Wucht geplatzt war.
Der Strandspaziergang bei Windstärke 11 war keine allzu gute Idee gewesen. Mit Sand in den Augen hatte er sein Unterfangen nach schon wenigen Minuten abgebrochen und war die paar Meter rüber zu Dirk Sanders imposanter Villa an der Strandallee gestapft. Sie sah sehr modern aus und erinnerte ihn an Bauhaus-Architektur. Ganz anders als das Haus der Clasens in Grömitz, aber nicht weniger eindrucksvoll.
Nun stand er hier in der oberen Etage, die wie eine Penthouse-Wohnung anmutete, und versuchte sich darauf zu konzentrieren, das Gespräch mit dem engsten Geschäftspartner von Alexander Clasen ins Laufen zu bringen. In seiner Verfassung eine fast unlösbare Aufgabe.
»Lassen Sie uns ganz offen reden«, sagte er schließlich. »Sie kannten Alexander Clasen sehr gut. Was denken Sie, warum wurden er und seine Frau ermordet?«
»Ich habe noch immer keine Ahnung«, antwortete Sander. »Aber ich habe noch einmal über unser Gespräch gestern nachgedacht. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie wegen Alexanders Plänen für weitere Investitionen in Grömitz sterben mussten. Wenn er vorher bedroht worden wäre, hätte er mir das gesagt.«
»Ich wiederhole noch einmal meine Frage von gestern, auf die ich keine Antwort bekommen habe«, entgegnete Morten. »Sie haben den Tatort selbst gesehen. Was ging Ihnen beim Anblick der beiden durch den Kopf?«
»Ich weiß nicht.« Sander zuckte mit den Schultern. »Ich musste im ersten Moment an irgendwelche Thriller-Serien denken. Irgendein kranker Spinner, der durchgedreht ist und Menschen auf grausame Weise umbringt. Später kam mir der lose Gedanke, es könne sich um eine Art Abrechnung gehandelt haben.«
»Eine Abrechnung?«, fragte Morten interessiert.
»Vielleicht jemand, der sich an den beiden rächen wollte. Keine Ahnung, ich kannte Alexander zwar ganz gut, aber er hatte natürlich auch ein Leben, bevor ich ihn kennengelernt habe.«
»Wie darf ich denn das verstehen?«
»Ich weiß nicht viel darüber, aber er war früher wohl kein unbeschriebenes Blatt. Das liegt aber alles lange zurück.«
»Wovon reden wir hier? War er als junger Mann ein wilder Draufgänger? Das dürfte doch wohl kein Grund dafür sein, dass sich Jahre später jemand auf diese Weise rächt.«
»Draufgänger ist das falsche Wort«, sagte Sander. »Wie gesagt, ich kenne keine Details, mich hat das nie interessiert, aber er hat ein paarmal erzählt, dass er einige Jahre auf die schiefe Bahn geraten ist. Da muss einiges in seinem Leben ziemlich aus dem Ruder gelaufen sein.«
»War er kriminell? Hat er Drogen genommen? Oder –«
»Ich habe ihn nie danach gefragt«, ging Sander dazwischen. »Jeder hat seine eigene Lebensgeschichte, auch bei mir lief nicht immer alles glatt. Ich akzeptiere die Menschen so, wie sie sind. Und Alexander hat sich mir gegenüber immer korrekt verhalten.«
»Nur was das Geld anging, nicht unbedingt«, warf Morten ein.
»Wir hatten eine geschäftliche Meinungsverschiedenheit, das sagte ich bereits mehrfach. Ich kann kein schlechtes Wort über ihn sagen.«
»Wissen Sie irgendetwas über seine Familie?«, wechselte Morten das Thema. »Soweit wir wissen, sind seine Eltern tot, Geschwister hat er keine.«
»Dass er keine Geschwister hat, kann ich bestätigen«, antwortete Sander. »Über seine Eltern weiß ich allerdings nichts. Er hat nie von ihnen erzählt. Ich vermute, er hatte nicht das beste Verhältnis zu ihnen.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Wenn man in jungen Jahren kriminell wird, hat das oft auch damit zu tun, dass im Elternhaus etwas nicht stimmt.«
Morten nickte. Er wollte nicht weiter nachfragen, vermutete aber, dass es bei Sander ähnlich gewesen war.
Tatsächlich hatte das Gespräch bislang mehr gebracht als erhofft. Die Hinweise auf Clasens Vergangenheit waren definitiv ein Ansatzpunkt, dem sie nachgehen mussten. Morten brannte aber noch etwas anderes unter den Nägeln. Als er das Haus betreten hatte, war ihm sofort aufgefallen, dass Sander sich anders verhielt als gestern.
»Trinken Sie oft schon zu so früher Tageszeit?«
»Spielt das irgendeine Rolle für Ihre Ermittlungen?«
»Nein, es wundert mich nur. Gestern wirkten Sie noch sehr betroffen, davon ist heute nicht mehr viel zu spüren.«
»Glauben Sie mir, Alexanders Tod setzt mir mehr zu, als Sie sich vorstellen können. Ohne seine Ideen und den Mut, den er hatte, manche Dinge einfach gegen jeden Widerstand durchzuziehen, wird sich auch für mich einiges ändern. Meine Firma wird weiterhin wachsen und gutes Geld verdienen, aber für die Highlights, diese ganz besonderen Immobilien, werde ich mir entweder einen neuen Partner suchen oder zukünftig darauf verzichten müssen.«
Morten musterte den Mann. So richtig schlau wurde er aus ihm auch heute nicht. Zeit, mehr in die Offensive zu gehen. Ein Alibi hatte er ihnen zwar geliefert, nur hatten sie es noch nicht bestätigt bekommen.
»Ich würde gerne noch einmal über die Tatnacht sprechen«, sagte er. »Sie waren also bei Barbara Wendt, der Bürgermeisterin von Grömitz?«
»Sie haben ihr doch wohl nicht gesagt, dass Sie das wissen?«
»Nein, das haben wir nicht. Von sich aus hat sie auch nichts davon erwähnt.«
»Würde sie auch niemals tun.«
»Weshalb nicht? Soweit ich weiß, ist sie nicht verheiratet.«
»Das nicht, aber sie lebt offiziell in einer festen Beziehung.«
»Und inoffiziell?«, fragte Morten argwöhnisch.
»Jedenfalls nicht mit mir, falls Sie das vermuten«, antwortete Sander. »Wir sind nur gut miteinander befreundet. Aber mehr möchte ich jetzt wirklich nicht dazu sagen. Das Ganze ist nicht meine Angelegenheit und hat auch nichts mit dem zu tun, weshalb Sie hier sind.«
Morten runzelte die Stirn und versuchte, die Informationen in seinem Kopf zu ordnen. Gerade als er noch einmal nachhaken wollte, klingelte sein Handy. Reflexartig griff er in die Jackentasche und zog es hervor. Es war Ida-Marie.
»Bist du etwa auch krank, oder wo steckst du?«, rief sie in den Hörer, nachdem er sich gemeldet hatte.
»Nein, ich bin in Timmendorfer Strand und spreche gerade mit –«
»Dann kannst du ja in zehn Minuten in Travemünde sein«, unterbrach sie ihn unmissverständlich. »Ole ist schon da, und ich bin auf dem Weg.«
»Und verrätst du mir noch, was passiert ist?«
»Zwei weitere Tote. Beeil dich also.«
Ida-Marie legte auf, ohne sich zu verabschieden. Morten stand einige Sekunden reglos da, dann ließ er sein Handy zurück in die Tasche gleiten. Langsam trat er vor und blieb dann neben Sander stehen.
Er versuchte, seinen Blick irgendwo am Horizont auf etwas zu fixieren. Aber da war nichts. Keine Fähre, kein Segelboot und schon gar keine Sonne. Denn draußen herrschte einfach einer der schlimmsten Stürme seit Jahren. Aber spätestens seit dem Anruf von Ida-Marie war ihm klar, dass der andere Sturm, mit dem sie es zu tun hatten, noch viel schlimmer war.