Quietschende Reifen

»Das ergibt keinen Sinn.« Birger ging in Ida-Maries Büro auf und ab und wiederholte immer wieder dieselben Worte. Er versuchte noch immer zu verstehen, was sein Sohn gerade gesagt hatte.

Schon bevor sie nach Travemünde gerufen worden waren, hatte Ole sich die Finanzen von Alexander Clasen vorgenommen. In der letzten Stunde hatte er offenbar einige lose Fäden zusammenfügen können.

Der angeblich so erfolgreiche Unternehmer aus Grömitz war hoch verschuldet gewesen. Aus dem Mailverkehr, auf den sie mittlerweile Zugriff hatten, war herauszulesen, dass ihm seine Bank kein weiteres Darlehen mehr geben wollte. Clasen schien sich mit mehreren Immobilien übernommen zu haben und hatte vor einem halben Jahr kurz vor der Zahlungsunfähigkeit gestanden. Dann war jedoch etwas Merkwürdiges passiert. Er hatte ohne weiteren Kredit von seiner Hausbank ein weiteres Objekt gekauft und dafür einen niedrigen Millionenbetrag bezahlt. Es war völlig unklar, woher das Geld dafür kam. Ein weiteres Konto besaß er jedenfalls ganz offenbar nicht.

Ole vermutete, Clasen habe sich das Geld auf andere Weise geliehen. Und hier war seiner Meinung nach die Parallele zu Onno Steffens. Auch er hatte große Geldprobleme gehabt, wie Ole recherchiert hatte. Wenn auch auf ganz andere Weise. Auf seinem Handy, das Seelhoffs Leute in der Küche gefunden hatten, gab es Chatverläufe, aus denen hervorging, dass Onno einer Person, die er unter dem Namen Rute eingespeichert hatte, mindestens zwanzigtausend Euro schuldete.

»Es ist die Verbindung, nach der wir gesucht haben«, wiederholte Ole noch einmal. »Wir müssen nur herausfinden, was genau dahintersteckt.«

»Glaubst du ernsthaft, dass dieser Rute auch Alexander Clasen Geld geliehen hat? Wenn die Zahlen stimmen, die du eben genannt hast, reden wir von über einer Million.«

»Es ist immerhin unklar, von wem Clasen die Kohle bekommen hat«, antwortete Ole. »Jedenfalls nicht auf legalem Weg. Zwei Menschen, die für ihre jeweiligen Verhältnisse hohe Schulden hatten und ermordet wurden. Was, wenn derjenige, der ihnen das Geld gegeben hat, darauf bestand, es zurückzubekommen? Vielleicht ist Rute jemand, der kurzen Prozess macht. Oder Rute steht nicht für eine einzelne Person, sondern eher für …« Er suchte nach dem richtigen Wort.

»Meinst du etwa, wir haben es mit der Mafia zu tun? Skrupellosen Typen, die jedem, der seine Schulden nicht bezahlen kann, einen Plastikbeutel über den Kopf ziehen und ihn erdrosseln? Und dabei nicht mal Halt machen vor den wahrscheinlich ahnungslosen Angehörigen?«

»Klingt das so unwahrscheinlich?«

»Es klingt komplett absurd«, sagte Ida-Marie plötzlich. »Aber ich habe hier in den letzten Jahren zu viel erlebt, um solch ein Szenario einfach auszuschließen. Selbstverständlich gibt es auch in Schleswig-Holstein mafiöse Strukturen, wir haben es zudem trotz aller Bemühungen, das Ganze zu zerschlagen, mit Clans und Rockern zu tun, die, wie wir selbst leidlich erfahren mussten, nicht zimperlich sind. Dass diese Gruppierungen Geld über jeden erdenklichen Weg generieren, wissen wir längst. Auch Kreditgeschäfte zu Wucherzinsen sind eine bekannte Praktik. Ob sich nun allerdings Alexander Clasen auf diese unseriöse und gefährliche Weise Geld beschafft hat, erscheint mir auf den ersten Blick unwahrscheinlich.«

»Bei Onno Steffens kannst du es dir dagegen vorstellen?«, fragte Ole mit leicht provokantem Unterton.

»Was du vorhin über ihn berichtet hast, spricht auf jeden Fall eher dafür, dass er sich in diesem Milieu bewegt hat.«

»Ich weiß nicht«, sagte Birger. »Waren wir uns nicht eben noch sicher, dass der Täter Rache an den Opfern nehmen wollte? Und dass er ihnen besonderen Schmerz zufügen wollte, indem er vor ihren Augen zuerst den ihnen am nächsten stehenden Menschen tötet? Warum hast du vorhin in der Besprechung nichts von den finanziellen Problemen von Clasen erzählt?«

»Weil mir die Verbindung fehlte und ich noch ein paar Details gegenchecken musste«, antwortete Ole und klang dabei genervt. »Ich habe nicht gesagt, dass die Schulden der beiden in jedem Fall unser Schlüssel sind, aber es ist ein Ansatz. Und so wie ich das aktuell sehe, unser einziger.«

»Ole hat recht«, sagte Ida-Marie. »Es ist eine Spur, und wir haben immerhin einen Namen. Oder besser gesagt die Telefonnummer von jemandem, der Rute genannt wird. Ich schlage vor, wir melden uns bei ihm.«

Eine Stunde später parkte Birger Andresen seinen Volvo an der Einfahrt zum Fischereihafen in Travemünde, während Ole neben ihm das Handy von Onno Steffens in der Hand hielt und die Nummer von Rute wählte. Sie hatten keine Ahnung, wie Onno geklungen hatte, aber beide waren sich schnell einig gewesen, dass Ole versuchen sollte, so zu tun, als wäre er es. Auch auf die Gefahr hin, dass die Person am anderen Ende der Leitung der Mörder von Onno war. Dann wäre er über einen Anruf von dessen Handy im besten Fall komplett irritiert. Im schlechtesten würde er den Anruf ignorieren und wäre sogar gewarnt.

Ole hatte sein Handy mit der Freisprechanlage gekoppelt. Nach dem dritten Klingeln nahm jemand ab, ohne jedoch etwas zu sagen.

»Wo bist du gerade?«, fragte er mit einer leicht schnarrenden Stimme, die ihm zu Onno Steffens zu passen schien.

»Was soll der Scheiß?«, kam es mit rauer Stimme zurück. »Wer bist du?«

»Wir müssen reden. Von Auge zu Auge.«

»Wer immer du bist, worüber sollen wir reden? Bist du etwa ein Bulle?«

»Weißt du etwa nicht, wer ich bin?« Ole verzichtete jetzt darauf, anders zu klingen. »Verdammt, Rute. Was ist los mit dir? Kannst du dir nicht denken, weshalb ich dich anrufe?«

»Leck mich!«

»Warte, leg nicht auf. Onno hat mich gebeten, dich anzurufen.«

»Ach ja, und wann soll das gewesen sein?«

»Eben gerade, er sitzt neben mir.«

»Ach ja, und wo? Im Leichenschauhaus, oder was? Brauchst mich nicht zu verarschen, ich weiß Bescheid. Und jetzt ist Schluss!«

Rute hatte offenbar aufgelegt. Ole sah seinen Vater konsterniert an.

»Das heißt noch nichts.« Birger versuchte abzuwiegeln, obwohl auch sein Pulsschlag stieg. »Dass die Steffens tot sind, dürfte sich hier ziemlich schnell herumgesprochen haben.«

»Drückst du so auf die Bremse, weil ich uns auf diese Spur geführt habe?«, fragte Ole argwöhnisch.

»Wieso denkst du das?«

»Ich versuche nur zu verstehen, weshalb du so zurückhaltend bist, obwohl dieser Typ, mit dem ich gerade telefoniert habe, eine verdammt heiße Spur ist. Warst du früher auch so zögerlich?«

»Ich habe immer versucht, meinen Verstand nicht durch ein Bauchgefühl verklären zu lassen. Das ist nicht immer leicht, und manchmal ist es auch die Kombination aus beidem, die einen ans Ziel bringt. Hier in diesem Fall bin ich aber einfach noch nicht –«

Das Klingeln von Oles Handy unterbrach ihn. Aus den Augenwinkeln erkannte er auf dem Display, dass es Nils aus der IT war, den sie vorhin um einen Gefallen gebeten hatten.

Ole schaltete den Lautsprecher ein. »Hast du das Handy geortet?«, kam er direkt zur Sache.

»Ohne richterlichen Beschluss mache ich so etwas eigentlich nicht«, antwortete der Kollege, der gefühlt schon seit Jahrzehnten bei der Kripo arbeitete. Birger konnte sich trotzdem nicht erinnern, jemals mehr als zwei Sätze mit ihm gewechselt zu haben.

»Wir ermitteln in einem Mordfall, und die Nummer gehört dem Hauptverdächtigen«, sagte er mit so empörter Stimme in die Freisprechanlage, dass Ole neben ihm grinsen musste. »Ein Problem bekommen wir nur dann, wenn wir jetzt nichts unternehmen. Also, wo finden wir ihn? Ist er hier in Travemünde im Fischereihafen?«

»In Travemünde schon«, antwortete Nils. »Aber die Ortung zeigt an, dass sich die Person am Brodtener Steilufer aufhält. Der Punkt wanderte von der Hermannshöhe bis zum Strand und gerade eben in die Ostsee.«

»Verdammt, das bedeutet wohl, dass er das Handy nach unserem Telefonat ins Meer geworfen hat.« Ole ärgerte sich und machte sich mit einem kleinen Ellbogenschlag gegen die Beifahrertür Luft.

»Hast du schon herausgefunden, wem die Nummer gehört?«, fragte Birger.

»Nein, ich dachte, dass die Ortung erst einmal wichtiger ist.«

»War sie auch, aber jetzt brauchen wir einen Namen.«

»Ich kümmere mich darum und melde mich.«

»Danke.«

»Fahr los!«, sagte Ole, nachdem er aufgelegt hatte.

»Wohin?«

»Zur Hermannshöhe. Wenn wir mit Blaulicht fahren, können wir in fünf Minuten dort sein. Vielleicht ist er noch da.«

Birger wollte gerade erwidern, dass er nicht die geringste Hoffnung hatte, dass Rute noch vor Ort war, doch er biss sich auf die Zunge. Er wollte nicht länger bremsen. Ole machte einen guten Job. Und brauchte Anerkennung dafür. Das brauchte jeder, aber er ganz besonders. Und vor allem von ihm, seinem Vater. »In Ordnung, wir machen es so, wie du sagst. Greif mal nach hinten in den Fußraum, da liegt das Blaulicht.«

Ole nickte verhalten. Es schien, als zweifelte er noch daran, dass Birger es wirklich ernst meinte. Erst als er den Motor startete, den Wagen wendete und mit quietschenden Reifen losfuhr, huschte ein kurzes Lächeln über seine Lippen.

Sechs Minuten später bogen sie in den schmaler werdenden Weg, der zur Hermannshöhe, dem Erlebniscafé am Brodtener Steilufer mit dem traumhaften Blick über die Lübecker Bucht, führte.

Je näher sie kamen, desto stärker stiegen in Birger die Gefühle hoch. Dieser Ort war aus vielerlei Gründen so eng mit Wiebke, seiner langjährigen Freundin und Mutter seiner Tochter, verbunden, dass er die leicht kurvige Straße wie in einem Tunnel fuhr. Diese schreckliche Erfahrung, als sie damals Teil einer Ermittlung gewesen und hierher in eine kleine Hütte entführt worden war. Sie hatte körperliche Schäden erlitten, aber schlimmer waren die seelischen Schmerzen gewesen. Und trotzdem hatten sie Jahre später hier ein Haus gekauft.

Aus den Augenwinkeln beobachtete er Ole. Auch er war damals mit hierhergezogen. Sie hatten wieder unter ein und demselben Dach gewohnt und waren sich in dieser Zeit dennoch so fremd wie nie zuvor gewesen. Damals war sein Leben völlig aus dem Ruder gelaufen. Und schließlich als Folge dessen auch das von Wiebke. Er wollte nicht mehr an diese Jahre denken, aber jetzt, wo er wieder hier war, kamen die Bilder unweigerlich zurück.

»Vorsicht!«, rief Ole plötzlich.

Birger riss reflexartig das Lenkrad zur Seite, um dem entgegenkommenden Wagen auszuweichen. Ein großer SUV, der viel zu schnell fuhr. Um ein Haar wären sie von der Straße abgekommen und im Graben gelandet, aber es gelang Birger gerade noch, seinen Volvo unter Kontrolle zu bringen. Im nächsten Moment rauschte der schwarze Wagen an ihnen vorbei.

»Das kann doch nicht sein«, rief Ole auf einmal. »Hast du gesehen, wer da am Steuer saß?«

»Wie denn?«, entgegnete Birger genervt.

»Ich habe bislang nur ein Foto von ihm gesehen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass das gerade Dirk Sander war.«