Heiße Spuren

Birger war weitergefahren bis zu dem Parkplatz mit der Schranke. Sie hatten kurz überlegt, sofort zu wenden und Sander hinterherzufahren, aber schnell waren sie sich einig gewesen, dass es sinnvoller war, die geringe Chance zu ergreifen, Rute auf der Hermannshöhe oder irgendwo am Strand zu finden.

Die Hoffnung hatte sich allerdings nach wenigen Minuten zerschlagen. Vor dem Gebäude war bei diesem Wetter niemand zu sehen, und das Erlebniscafé hatte geschlossen. Als sie bis zur Abbruchkante vorgegangen waren, die sich immer bedrohlicher ins Landesinnere weiterfraß, war ihnen angesichts des heftigen Sturms, gegen den sie sich stemmen mussten, sofort klar geworden, dass er sich hier nicht mehr aufhielt. Noch einmal hatten sie den Kollegen in der IT angerufen, der ihnen bestätigt hatte, dass er Rutes Handy noch immer, wenn auch schwach, irgendwo im Uferbereich orten konnte. Sie waren sich ziemlich sicher, dass er das Telefon nach ihrem Gespräch ins Meer geworfen hatte.

In Sanders schwarzem SUV hatte niemand auf dem Beifahrersitz gesessen, war sich Ole sicher. Die hinteren Scheiben waren verdunkelt gewesen, sodass sie nicht ausschließen konnten, dass noch jemand im Wagen gewesen war. Vielleicht der Mann, dem Onno Steffens zwanzigtausend Euro schuldete?

Rechts von ihnen tobte noch immer das Meer, während Birger seinen Wagen durch Niendorf steuerte und immer wieder hart gegenlenken musste, um nicht von einer Böe erwischt zu werden und von der Straße abzukommen. Mittlerweile kam auch noch ein starker Regen dazu, der ihnen waagerecht entgegenschlug und die Scheibenwischer zur Höchstleistung trieb. Diese Naturgewalten waren faszinierend und angsteinflößend zugleich. Die Schäden, die die meterhohen Wellen an der Küste anrichteten, würden mit Sicherheit beträchtlich sein. Und angesichts dessen war leider damit zu rechnen, dass der Sturm auch Menschenleben kostete.

Der Audi, der ihnen bei der Hermannshöhe entgegengekommen war, stand hinter dem großen Eisentor des Hauses in Timmendorfer Strand auf einem akkurat gepflasterten Parkplatz, auf dem mindestens drei Fahrzeuge Platz fanden. Dennoch zog Birger es vor, seinen Wagen am Rand der Strandallee abzustellen.

Über die Gegensprechanlage am Tor meldete sich eine männliche Stimme, kurz nachdem sie geklingelt hatten.

»Kripo Lübeck«, erklärte Birger in alter Gewohnheit und merkte zu spät, dass er Ole den Vorrang hätte lassen sollen. »Wir möchten Ihnen gerne ein paar Fragen stellen.«

»Schon wieder?«, raunzte Sander genervt.

Erst jetzt fiel Birger wieder ein, dass Morten heute Morgen bereits hier gewesen war. Und gestern hatten Elif und er sich auch schon lange mit Sander unterhalten. Dass sie ihn dort hatten wegfahren sehen, wo sich laut Ortung Rute aufhielt, war dennoch Grund genug, ihm erneut ein paar Fragen zu stellen. Und wenn sie Glück hatten, würden sie hier sogar auf diesen Rute treffen.

»Heute Morgen war ein Kollege von uns bei Ihnen, das stimmt natürlich. Es haben sich im Tagesverlauf aber noch ein paar neue Fragen aufgetan, die wir Ihnen stellen möchten.«

»Ich kann mir schon denken, worum es geht«, sagte Sander.

»Ach ja?«

»Als Ihr Kollege hier war, bekam er einen Anruf, dass erneut zwei Menschen umgebracht worden sind.«

»Das hat er Ihnen erzählt?«, fragte Birger überrascht.

»Woher sollte ich es denn sonst wissen?« Sanders Worte kamen etwas zögerlich, aber er klang weiterhin vor allem schlecht gelaunt.

»Dürfen wir denn hineinkommen?«, versuchte Birger es erneut. »Es wird sicherlich auch nicht lange dauern.«

»Um ehrlich zu sein, passt es mir gerade gar nicht«, antwortete Sander. »Ich bin eben erst nach Hause gekommen und muss mich um einiges kümmern, das liegen geblieben ist. Sie können sich sicherlich vorstellen, dass Alexanders Tod auch mein Unternehmen vor einige Herausforderungen stellt.«

»Zehn Minuten?«, warf Ole jetzt ein. »Wir benötigen Ihre Einschätzung. Sie sind eine der wichtigsten Personen im Rahmen unserer Ermittlungen. Und ich denke, es ist auch in Ihrem Interesse, wenn wir –«

»Schon gut«, fuhr Sander dazwischen. »Ich komme kurz runter ans Tor.«

»Aber wir würden gerne …« Ole redete nicht weiter, als er merkte, dass die Verbindung unterbrochen war.

»Er will uns nicht reinlassen«, sagte Birger.

»Weil Rute hier ist?«

»Das müssen wir herausfinden. Jedenfalls wird dieses Haus ab jetzt observiert, darum müssen wir uns gleich kümmern.«

»Wie gehen wir jetzt vor?«, fragte Ole.

»Ich schlage vor, du stellst die Fragen. Ich halte mich zurück. Aber du kannst ihn ruhig etwas härter angehen.«

Kaum hatte Birger seinen Satz beendet, erschien Dirk Sander und kam ihnen raschen Schrittes entgegen. Offenbar hatte er seine große moderne Villa mit Meerblick durch einen Seiteneingang verlassen.

Birger sah ihn zum ersten Mal und war überrascht von dem Anblick. Er hatte einen burschikosen, kräftigen Mann mit stapfendem Schritt und einem Pitbull-Blick erwartet, aber Sander war genau das Gegenteil. Nicht viel größer als eins achtzig und schmal, dazu volles blondes Haar, das in diesem Moment vom Wind durchgewirbelt wurde. Er machte eher den Eindruck eines Philosophieprofessors denn eines Bauunternehmers.

Birger wartete darauf, dass Sander das Tor öffnete und sie hineinließ, aber er machte keinerlei Anstalten. Stattdessen stellte er sich direkt an die Eisenstreben, legte seine Hände an die Stäbe und blickte sie mit einer seltsamen Mischung aus Herausforderung und Erschöpfung an. »Also, was wollen Sie wissen?«

»Danke, dass Sie sich die Zeit nehmen«, sagte Ole und versuchte, freundlich zu klingen, was ihm aber nur schwerlich gelang. »Ole Andresen, Kriminalpolizei Lübeck. Und mein Kollege Birger –«

»Kann ich mir gerade ohnehin nicht merken«, unterbrach Sander ihn. »Kommen Sie zur Sache.«

Während Birger noch darüber nachdachte, wie seltsam es sich anfühlte, dass er gemeinsam mit seinem Sohn ermittelte und als Kollege vorgestellt wurde, erkannte er aus den Augenwinkeln einen Schatten am Fenster in der oberen Etage des Hauses.

»Was sagen Ihnen die Namen Anke und Onno Steffens?«, fragte Ole.

»Wer soll das sein?«

»Sie haben die Namen also noch nie gehört?«

»Nein, nicht dass ich wüsste. Sind das etwa die beiden anderen Toten?«

»Möglicherweise«, antwortete Ole ausweichend. »Können Sie sich vorstellen, dass Alexander Clasen die beiden gekannt hat?«

»Wie soll ich denn das wissen? Travemünde war ein weißer Fleck auf seiner Karte.«

»Weißer Fleck?«, hakte Ole nach.

»Er hat immer wieder versucht, dort Immobilien aufzukaufen und zu sanieren, aber ohne Erfolg.«

»Woher wissen Sie eigentlich, dass die Steffens in Travemünde gelebt haben?«, warf Birger ein.

Sander zuckte zurück. Für den Bruchteil einer Sekunde entgleisten seine Gesichtszüge, ehe er sich wieder fing. »Muss wohl auch Ihr Kollege heute Morgen erwähnt haben«, sagte er schmallippig.

»Da werde ich wohl mal ein ernstes Wörtchen mit ihm reden müssen«, sagte Birger flapsig, als würde er Sander glauben.

»Wenn er sich überhaupt noch daran erinnert«, schob Sander hinterher. »Er wirkte ziemlich durcheinander, erst recht nach dem Anruf.«

»Schönes Auto.« Ole nickte bewundernd und zeigte auf den Audi Q7 vor dem Haus. »Aber auch ganz schön groß und auffällig.«

»Was …?« Sander brach ab, verstand offenbar, worauf Ole hinauswollte.

»Wir haben Sie vorhin gesehen, als Sie vom Brodtener Steilufer wegfuhren. Was haben Sie dort gemacht?«

»Was geht Sie das denn bitte schön an? Mir reicht es jetzt. Ich habe Ihnen gestern und heute alle Ihre Fragen beantwortet, und jetzt gehen Sie mich an, als hätte ich irgendetwas mit diesen Morden zu tun.«

»Wer ist Rute?«

»Wie bitte?«

»Ein Mann, dessen Spitzname offenbar Rute ist«, erklärte Ole in ruhigem, aber bestimmtem Tonfall. »Wir glauben, dass Sie ihn am Brodtener Steilufer getroffen haben.«

»Wovon zum Teufel reden Sie da? Ich kenne niemanden, der so heißt.«

»Nennen Sie ihn etwa nicht so?«

»Ich habe weder Lust noch Zeit, mir das hier noch länger anzuhören. Einen schönen Tag noch.« Dirk Sander schüttelte den Kopf als Zeichen des Unverständnisses für ihre Fragen und wandte sich von ihnen ab.

»Saß er in Ihrem Auto, als wir Sie gesehen haben?«, rief Birger ihm hinterher. »Ich spreche von Rute oder wie auch immer Sie ihn nennen.«

Sander blieb stehen, ohne sich umzudrehen.

»Wir wissen, dass es zwischen ihm und Onno Steffens Probleme gab. Es ging wohl um Geld. Was wissen Sie darüber?«

Sander sagte nichts.

»Alexander Clasen hatte große Geldprobleme«, redete Ole jetzt weiter. »Wieso haben Sie das nicht erzählt?«

Keine Antwort.

»Jemand hat ihm einen größeren Geldbetrag geliehen, um ihm aus der Patsche zu helfen. Hat er Ihnen nichts davon erzählt?«

»Das war ich.«

Birger und Ole tauschten einen kurzen Blick. Beide dachten dasselbe. Weshalb gab Sander das zu? Weil er wusste, dass sie es ohnehin herausfinden würden?

»Er schuldete Ihnen also einen Millionenbetrag?«, bohrte Ole weiter nach.

»Schulden würde ich das nicht nennen.« Jetzt drehte sich Sander doch wieder zu ihnen um. »Ich habe ihm notwendiges Kapital geliehen, seine Liquidität für ein paar Monate abgesichert. Ich wusste ja, dass ich das Geld zurückbekomme.«

»Haben Sie es zurückbekommen?«

Zum ersten Mal lächelte Sander. Ein Lächeln, als ob er damit sagen wollte, dass es sie rein gar nichts anging, was er geschäftlich tat.

»Wenn Clasen bei Ihnen mit so einem Betrag in der Kreide stand, könnte das bedeuten, dass –«

»Glauben Sie ernsthaft, ich hätte Alexander und Maren deshalb ermordet?«, fiel Sander Ole ins Wort. »Das ist doch vollkommen lächerlich.«

»Sind Sie allein zu Hause?«, versuchte es Birger noch einmal.

»Ich lebe allein hier.«

»Das war nicht meine Frage.«

»Weil sie keine Rolle für Ihre Ermittlungen spielt«, sagte Sander. »Und jetzt entschuldigen Sie mich, ich muss mich um meine Geschäfte kümmern.«

Er ließ sie stehen und verschwand über den seitlichen Hauseingang, aus dem er auch gekommen war.

»Reicht das nicht für einen Durchsuchungsbeschluss?« Ole seufzte und fuhr sich mit der rechten Hand über den Kopf. »Ich meine, es ist doch offensichtlich, dass er nicht die Wahrheit sagt.«

»Lass mich kurz noch etwas klären, danach können wir der Staatsanwaltschaft Bescheid geben.«

»Morten?«, fragte Ole.

Birger nickte und zog sein Handy aus der Jackentasche. »Ich hoffe wirklich sehr, dass Sander uns angelogen hat und Morten keine Details über die Morde an Anke und Onno Steffens verraten hat. Denn dann wissen wir nicht nur, dass Sander lügt, sondern dass er Informationen besitzt, die nur jemand kennen kann, der in die ganze Sache involviert ist.«

Er wählte Mortens Nummer und wartete. Nach dem dritten Klingeln nahm der Kollege ab. Seine Stimme klang reserviert und angespannt zugleich.

»Wir haben eine heiße Spur«, kam Birger direkt zur Sache.

»Ich auch.«