Gleiche Voraussetzungen
Vielleicht hatte er das alles falsch eingeschätzt. Ja, natürlich hatte er das. Die Aufmerksamkeit, die er erzeugte, hätte er vorhersehen müssen. In seinen Planungen war er davon ausgegangen, dass die Sache in den ersten Tagen noch keine hohen Wellen schlagen würde. Dass es bestenfalls nicht einmal auffiele. Aber stattdessen waren ihm dieser Bauunternehmer und nun offenbar auch noch ein übereifriger Briefträger dazwischengekommen. Sie waren dafür verantwortlich, dass die Todesfälle innerhalb weniger Stunden nach der Tat bereits an die Öffentlichkeit geraten waren.
Das war ganz und gar nicht das, was er wollte. Er hatte alles dafür getan, dass es möglichst lange dauerte, bis jemand die Leichen fand. Hatte sogar die Wettervorhersage verfolgt und den angekündigten Sturm als idealen Zeitraum angesehen, in dem niemand so schnell bemerken würde, dass vier Menschen tot waren.
Aber durch ziemlich unglückliche Umstände, die er nicht für möglich gehalten hatte, war es anders gekommen. Mit dem Ergebnis, dass er bereits jetzt die wahrscheinlich meistgesuchte Person in diesem Land war.
Auch wenn er sich sicher war, dass niemand nur den Hauch einer Ahnung hatte, wer wirklich hinter den Taten steckte, hatte er längst eingreifen müssen. Er hatte das im Vorfeld zwar miteingeplant, aber eigentlich vermeiden wollen. Er hatte sie auf die falsche Spur gelockt und sich dadurch einen kleinen Vorsprung verschafft, so viel stand fest.
Aber es war nicht ungefährlich, und ein bisschen zu übermütig war er auch gewesen. Doch spätestens heute Morgen war ihm klar geworden, dass er endgültig keine Zeit mehr zu verlieren hatte. Wenn er seinen Plan erfolgreich umsetzen wollte, musste er sich beeilen und sich schneller als gedacht um die beiden wichtigsten Menschen auf seiner Liste kümmern. Auf sie kam es an, andernfalls wäre alles, was er in den letzten Monaten in unzähligen schlaflosen Nächten durchdacht und vorbereitet hatte, umsonst gewesen.
Es galt jetzt, sich zu fokussieren. Und einen kühlen Kopf zu bewahren. Neu zu denken und gleichzeitig den Plan nicht aus den Augen zu verlieren.
Sein Verstand hatte ihm gesagt, dass es besser wäre, sich für einige Tage zurückzuziehen. Vielleicht zu schlafen, was er schon seit einer knappen Woche kaum mehr getan hatte. Er war müde. Etwas Kraft tanken, um körperlich und emotional für die letzten beiden Schritte gewappnet zu sein, wäre sicherlich vernünftig gewesen.
Wenn da nicht sein Bauchgefühl wäre, das eine innere Unruhe in ihm auslöste, auf die er gern verzichtet hätte. Was, wenn sie schon eine Verbindung zu damals hergestellt hatten? Dann würde es vielleicht auch nicht mehr lange dauern, bis sein Name auf der Liste derer auftauchte, mit denen sie sprechen mussten. Zumal sie ihm ohnehin schon gefährlich nahe gekommen waren.
Er wusste, dass in diesem Fall alles vorbei wäre. Er war ein verdammt guter Lügner und hatte vielen Menschen immer wieder etwas vorgemacht. Hatte ein nach außen hin halbwegs normales Leben geführt, in dem er eine Rolle gespielt hatte, die ihn zwar etwas sonderbar, aber letztlich unverdächtig erscheinen ließ. Und selbst in den vergangenen zwei Tagen hatte er noch dafür gesorgt, dass die Polizei hoffentlich in die falsche Richtung ermittelte, weil die Umstände ihn dazu gezwungen hatten.
Aber wenn es konkret um seine Vergangenheit ginge, darum, was er damals erlebt hatte, war er angreifbar. Sie mussten nur ein paar gezielte Fragen stellen, und das ganze Kartenhaus würde einstürzen. Sie würden sofort verstehen, wer er war, was er erlebt hatte, weshalb er das alles tat und vor allem, auf wen er es noch abgesehen hatte.
Als Nächstes würde er sich um die Person kümmern, von der er sofort gewusst hatte, dass sie Seelenverwandte waren. Die Gedanken an ihn hatten ihm all die Jahre keine Ruhe gelassen. Ohne die Gewissheit, ob es ihn überhaupt gab, weil er zwischenzeitlich den Verstand verloren zu haben glaubte.
Noch immer kam es ihm unwirklich vor, dass er ihn so plötzlich und zufällig wiederentdeckt hatte. Und ihm mittlerweile ganz nahestand, obwohl er sich ihm noch nicht zu erkennen gegeben hatte.
Seine Gefühle für ihn waren wie die eines Bruders. Als wären sie Blutsverwandte. Sie hatten die dunkelsten Zeiten damals gemeinsam überstanden und sich gegenseitig Halt gegeben. Aber er konnte nicht leugnen, dass da auch etwas von diesem Hass war, den er auf so viele Menschen verspürte. Dass sein Freund damals einfach verschwunden war, hatte er ihm verziehen. Er hatte eine neue Familie gefunden, die es vielleicht gut mit ihm gemeint hatte. Aber hatte er je etwas unternommen, um ihn zu finden? Er bezweifelte das. Und das war es, was ihn beschäftigte.
Natürlich wusste er nicht, wie es ihm nach ihrer gemeinsamen Zeit ergangen war. Vielleicht hatte auch er schlechte Phasen in seinem Leben durchlitten. Aber in den letzten Monaten hatte er ihn sehr genau beobachtet. Er wusste, dass dieser Mann ein glückliches Leben führte. Mit einer Frau an seiner Seite, einem guten Job und einem eigenen Haus in einer der besten Wohnlagen Lübecks.
Er besaß all das, was er selbst nicht hatte. Und nichts deutete darauf hin, dass ihm seine Vergangenheit noch zu schaffen machte. Ihre gemeinsame Vergangenheit, korrigierte er sich. Wie konnte es sein, dass sich dessen Leben ganz normal entwickelt hatte und sein eigenes in Trümmern lag?
Niemand konnte ihm diese Frage jemals beantworten, nur dieser Mensch selbst. Und genau deswegen wollte er es aus seinem Mund hören. Und dann würde er ihn an den Punkt bringen, an dem er begriff, welchen glücklichen Verlauf sein Leben genommen hatte. Dass es nicht selbstverständlich war, wie gut es ihm ergangen war. Und wie sehr er selbst dagegen hatte leiden müssen. Wie enttäuscht er war, dass ihm das offenbar egal gewesen war.
Er würde ihn am Leben lassen, so viel stand fest. Ihn zu töten, würde bedeuten, die einzige Person, die ihm jemals wichtig gewesen war, zu verlieren. Die Hoffnung, dass sie eines Tages wieder so eng sein würden wie damals, einfach zu zerstören, wollte er auf alle Fälle vermeiden.
Aber was er sich für ihn vorstellte, würde ihn dennoch tief treffen. So sehr, dass es für ihr zukünftiges Verhältnis wahrscheinlich nicht gerade förderlich war. Aber es gab keine Alternative. Der einstige Freund musste einsehen, einen Fehler gemacht zu haben, als er sich dazu entschieden hatte, seine Vergangenheit auszublenden. Sie zu leugnen. Und ihn zu vergessen.
Er würde die Ausgangsposition ändern. Zurück zu dem Punkt, an dem sie die gleichen Voraussetzungen hatten. Und dann gemeinsam neu starten. Dazu mussten einige Zöpfe abgeschnitten, Ballast über Bord geworfen werden. Es würde jemand sterben müssen, der dieser Person sehr wichtig war.
Er atmete tief durch und blickte nach hinten auf die Rückbank des Autos, hinter dessen Steuer er seit einigen Minuten saß. Dass er keinen Führerschein besaß, hatte ihn noch nie gestört. Außerdem schien dieses Auto die wenigen Meter, die er zurücklegen musste, ohnehin von allein zu fahren.
Nachdem er beschlossen hatte, seinen Zeitplan anzupassen, hatte er sich heute in den Zug nach Lübeck gesetzt und war am Nachmittag ein wenig durch die Stadt gelaufen, ehe er sich mit hereinbrechender Dunkelheit in Richtung seines Ziels aufgemacht und schließlich auf die Lauer gelegt hatte.
Die Entscheidung, seine Freundin zu überwältigen, hatte er spontan treffen müssen, als sie plötzlich das Haus verlassen hatte und in das teure amerikanische E-Auto gestiegen war, das ein Stück entfernt am Seitenrand parkte.
Er hatte sie abgefangen, als sie gerade in eine Seitenstraße abbiegen wollte, indem er vor ihren Tesla gesprungen war. Sie war sofort ausgestiegen und hatte sich besorgt gezeigt. Im nächsten Moment hatte er sein kleines Taschenmesser gezückt und es ihr an den Hals gehalten. Sie hatte getan, was er ihr sagte, und sich bäuchlings auf die Rückbank gelegt. Dann hatte er sich ans Steuer gesetzt, um zurück zu dem Haus zu fahren, in dem sie gemeinsam mit seinem Bruder im Geiste lebte.
Es war so weit. Er stieg aus dem Wagen und sah sich um. In der Dunkelheit waren Straße und Bürgersteige nicht gut einsehbar, aber die Situation schien dennoch einigermaßen sicher zu sein. Anders die Fenster der umliegenden Häuser. Er konnte nur hoffen, dass ihn niemand beobachtete und Verdacht schöpfte.
Rasch öffnete er die hintere Tür und befahl ihr, so unauffällig wie möglich auszusteigen und langsam vor ihm herzugehen. Sie wehrte sich nicht und tat, was er sagte. Das war gut, denn so würde er ihr problemlos die Plastiktüte über den Kopf ziehen können.