Giftschrank

Morten glaubte im ersten Moment, sich verhört zu haben. Sander behauptete allen Ernstes, er hätte ihm gegenüber erwähnt, dass es zu zwei weiteren Morden in Travemünde gekommen war?

Nach dem Anruf von Ida-Marie heute Morgen war sein Blick eine Weile in den Wellen der Ostsee versunken, bevor er sich schließlich von Sander verabschiedet hatte und nach Travemünde gefahren war. Mit keinem Wort hatte er erwähnt, was passiert war.

Er hatte das Gefühl, dass Birger ihm glaubte, aber was bedeutete das in Bezug auf Sander? Waren ihm die Worte herausgerutscht, weil er wusste, dass Anke und Onno Steffens tot waren? Nur woher hatte er diese Information? Laut Birger hatte Ida-Marie den Medien gegenüber keine Einzelheiten verraten und aus kriminaltaktischen Gründen auch fürs Erste vermieden, den Bezug zu der Tat in Grömitz herzustellen.

Und wie passte der Mann, dem Onno Steffens eine ordentliche Stange Geld geschuldet hatte, ins Bild?

Morten hatte Birger von seinem Gespräch mit Petersen, dem Nachbarn, berichtet. Dass jemand ins Haus der Steffens einsteigen wollte, der ähnlich aussah wie der Unbekannte aus dem Kurpark in Grömitz, allerdings größer und schlaksig. Ob es dieser Rute gewesen war, den Onno Steffens in seinem Handy namentlich abgespeichert hatte?

Er würde vielleicht ein weiteres Mal Westphal anrufen müssen, um zu fragen, ob der sich absolut sicher war, dass der Mann im Park wirklich so klein gewesen war.

Und auch hier gab es also wieder eine Verbindung zu Dirk Sander. Weshalb hatte der sich mit Rute getroffen und ihn, wie Birger vermutete, sogar zu sich nach Hause mitgenommen?

Als Westphal ihm von Clasens und Sanders Plänen erzählt hatte, das ehemalige Kinder- und Jugendheim Ostseeblick von der Gemeinde zu kaufen, um an der Stelle vielleicht eines ihrer Projekte umzusetzen, hatte er zum ersten Mal das Gefühl gehabt, Sanders Weste wäre womöglich nicht so rein, wie er ihnen vormachte. Wenn er jetzt auch noch Kontakt zu jemandem hatte, der in irgendwelche finanziellen Geschäfte mit Onno Steffens verwickelt gewesen war, machte ihn das nicht unverdächtiger.

Birger hatte ihm auch noch von dem hohen Geldbetrag erzählt, den Sander Clasen angeblich geliehen hatte, und wollte schließlich wissen, welche heiße Spur Morten denn nun verfolge. Er hatte sich herausgeredet – die Aussage von Petersen sei doch allemal eine verfolgungswürdige Spur. Von seinem Telefonat mit Westphal erwähnte er nichts, aber er spürte die Skepsis am anderen Ende der Leitung.

Es war schon weit nach vier, als Morten das Rathaus in Grömitz erreichte. Er hatte sich telefonisch angekündigt und mit der Sekretärin vereinbart, dass seine Befragung nicht länger als zwanzig Minuten dauern würde. Mehr Zeit könne die Bürgermeisterin trotz der Wichtigkeit der Ermittlungen auf keinen Fall aufbringen, hatte sie gesagt. Schließlich seien alle Gemeindevertreter rund um die Uhr mit den Auswirkungen des Sturms beschäftigt.

Offenbar waren noch immer Teile des Orts ohne Strom und die Schäden an der Promenade und im Yachthafen so beträchtlich, dass auch Feuerwehren benachbarter Gemeinden halfen und koordiniert werden mussten. Soldaten der Bundeswehr waren ebenfalls angefordert worden, um die Grundversorgung für die Bevölkerung sicherzustellen.

Morten wurde ins Büro von Barbara Wendt gebracht und vertröstet. Die Bürgermeisterin müsse gerade noch ein wichtiges Telefonat führen und er sich noch ein paar Minuten gedulden. Heute gab es allerdings keinen Kaffee, nur ein Glas Wasser.

Als die Sekretärin den Raum verließ und die Tür hinter ihr zufiel, nutzte Morten die Chance, sich ein wenig umzusehen. Das Büro sah auf eine gewisse Weise so aus wie die Frau, die von hier aus die Geschicke von Grömitz lenkte. Schreibtisch und Regale waren aus Glas, mit bronzefarbenen Füßen und Verstrebungen. An der Decke hing ein moderner Kronleuchter in derselben Farbe. Zwei opulente farbenprächtige Gemälde an den Wänden waren ein weiterer Hingucker im Raum. Genau wie der mannshohe Zitronenbaum, an dem zahlreiche gelbe Früchte hingen. Morten war sich unsicher, ob es sich um eine echte oder künstliche Pflanze handelte. Alles in diesem Raum kam ihm übertrieben groß oder extravagant vor. Für sich allein betrachtet passte hier eigentlich nichts, aber das Gesamtbild war dennoch stimmig.

Sein Blick wanderte weiter durch den Raum und blieb an einigen Bilderrahmen in einem der Glasregale hängen. Schwarz-Weiß-Fotos. Künstlerisch arrangiert, mit Sicherheit von einem Profi angefertigt.

Morten ging ein Stück näher heran, bis er die Personen auf den Fotos besser sehen konnte. Sie stammten offenbar aus verschiedenen Sessions. Eine am Strand, eine andere vor einem Schloss, wenn er es richtig erkannte, dem Glücksburger Wasserschloss, und eine dritte irgendwo in luftiger Höhe mit einem weiten schleswig-holsteinischen Panorama im Hintergrund. Auf allen Fotos waren dieselben zwei Personen abgebildet. Barbara Wendt und eine Frau, die er nicht kannte, obwohl er bei einigen der Schnappschüsse das Gefühl hatte, sie schon einmal gesehen zu haben.

Im nächsten Moment öffnete sich die große Holztür, und Morten fuhr herum. Die Bürgermeisterin betrat den Raum. Unter ihren eleganten High Heels knarzte das aufpolierte Fischgrätparkett.

»Heute ganz allein?«, fragte sie und streckte ihm ihre Hand entgegen. Sofort spürte er wieder diese seltsame Anspannung in ihrer Gegenwart. Ein Kribbeln im Bauch, als wäre er ein aufgeregter Teenager. Irgendetwas löste diese Frau, die bestimmt fünfzehn Jahre älter war als er, in ihm aus, das ihm selbst peinlich war.

Meine Hand ist bestimmt schwitzig, dachte er, während er ihre berührte. Was hatte sie gerade gefragt? Ob er allein hier sei? Wie ein Faustschlag kamen die Gedanken an Elif zurück. Die letzten zwei Stunden hatte er sie erfolgreich verdrängen können, aber jetzt waren sie wieder da.

»Wir teilen uns bestmöglich auf. Wie Sie sich vorstellen können, haben wir jede Menge zu tun.«

»Wem sagen Sie das.« Barbara Wendt lachte etwas gekünstelt auf. »Also kommen wir bitte direkt zu Ihrem Anliegen. In zehn Minuten habe ich ein Telefonat mit dem Innenminister.«

»Das ist ganz in meinem Interesse«, sagte Morten. »Ich möchte mit Ihnen noch einmal über Alexander Clasens und Dirk Sanders geschäftliche Verbindungen sprechen. Wir haben gehört, dass die beiden an einer Immobilie namens Ostseeblick interessiert waren. Was können Sie dazu sagen?«

Ihr Lächeln verschwand von einer Sekunde auf die andere. Er hatte ein Thema angesprochen, das in Grömitz zweifellos Zündstoff besaß.

»Dazu gibt es jede Menge zu sagen, aber angesichts der knappen Zeit würde mich interessieren, was dieses Thema mit Ihren Ermittlungen zu tun hat.«

»Vielleicht haben Sie bereits gehört, was in Travemünde passiert ist?«

Barbara Wendt schüttelte den Kopf. Die plötzlichen Falten auf ihrer Stirn ließen sie jetzt fast so alt wirken, wie sie war.

»Es gab einen weiteren Doppelmord«, erklärte Morten. »Eine ältere Frau und ihr Sohn. Wir müssen davon ausgehen, dass er im Zusammenhang mit dem Mord an den Clasens steht.«

»Wie denn das?« Barbara Wendt klang ernsthaft überrascht.

»Das wissen wir noch nicht, aber eine Spur führt uns zum Ostseeblick.«

»Wie gesagt, das ist kein Thema, das wir hier auf die Schnelle besprechen können.«

»Sturm hin oder her, wir müssen darüber reden, was Clasen und Sander vorgehabt haben.«

»Wir als Gemeinde waren mit den beiden in Verhandlungen, das ist richtig. Es gibt aber auch noch andere Interessenten. Am Ende müssen wir abwägen, was für Grömitz in dieser exponierten Lage am sinnvollsten ist. Natürlich unter Berücksichtigung aller Planvorgaben.«

»Was wollten die beiden dort bauen?«

»Ihr ursprüngliches Ziel war ein Luxushotel«, antwortete Barbara Wendt schmallippig. »Eine tolle Idee, aber leider hier nicht umsetzbar. Wir haben dann versucht, die Pläne in eine familienfreundliche Richtung zu verändern.«

»Wir?«

»Ich habe Dirk mehrfach gebeten, Einfluss auf Alexander zu nehmen, damit wir weiterkommen.«

»Und?«

»Es war schwierig, Dirk ist pragmatisch, er wollte einfach bauen. Aber Alexander hatte sich etwas in den Kopf gesetzt, von dem er nicht abweichen wollte.«

»Weshalb haben Sie sich dann nicht für einen anderen Investor entschieden?«

»Wir stehen kurz davor«, antwortete Barbara Wendt achselzuckend. »Auch wenn das nicht meine präferierte Lösung ist.«

»Sie erinnern sich daran, dass wir gestern über die Differenzen zwischen Clasen und Sander sprachen?«

An ihrer Reaktion merkte Morten, dass sie offenbar nicht ganz sicher war, wovon er redete.

»Kann es sein, dass die Sache mit dem Ostseeblick der Grund dafür war?«

»Ich habe noch immer keine Ahnung, wovon Sie sprechen«, antwortete sie und klang mit einem Mal wieder so unbeherrscht wie gestern. »Ich weiß nichts von einem Streit der beiden.«

»Dann lassen Sie uns noch über etwas anderes reden«, sagte Morten.

»Aber bitte schnell, ich habe wirklich keine Zeit mehr.«

»Was wissen Sie über das ehemalige Kinder- und Jugendheim Ostseeblick?«

»Was soll denn diese Frage jetzt?«, fragte Barbara Wendt sichtlich irritiert.

»Stimmt es, dass es damals geschlossen wurde, weil die Zustände unhaltbar waren?«

»Ich verstehe nicht, was –«

»Beantworten Sie doch bitte meine Frage«, fuhr Morten dazwischen. »Mir wurde gesagt, Sie können mir da vielleicht am besten helfen.«

»Das Heim war in die Jahre gekommen und nicht mehr für die Unterbringung von Kindern und Jugendlichen geeignet. Das hat nicht jedem gefallen, war aber unumgänglich.«

»Die Kinder dort sollen sehr gelitten haben«, bohrte Morten weiter.

»Darf ich fragen, woher Sie diese Informationen haben?«

»Fragen dürfen Sie, aber ich kann Ihnen darauf leider keine Antwort geben.«

»In den letzten Jahren bevor das Heim geschlossen wurde, wurden immer mehr Vorwürfe laut. Dabei ging es um angeblich schlechte hygienische Verhältnisse, veraltete Erziehungsmethoden und in ein paar Fällen auch um Missbrauch und Gewalt.«

Es war nicht so, dass Morten das nach Westphals Andeutungen nicht bereits in Erwägung gezogen hatte, es nun aber von Barbara Wendt bestätigt zu bekommen, machte es noch schauriger, obwohl es schon so lange zurücklag.

»Wurde das damals denn aufgeklärt?«

»Nein, allen Beteiligten ist es tatsächlich gelungen, das Ganze unter den Teppich zu kehren. Sie haben alles abgestritten und einfach Gras über die Sache wachsen lassen. Damals war es oftmals noch so, dass Kindern nicht geglaubt wurde, wenn sie solche Vorwürfe erhoben. Heute ist man da zum Glück sensibler, was den Opferschutz betrifft.«

»Wissen Sie, was mit den Kindern und den Angestellten passiert ist? Gibt es andere Heime, auf die sie verteilt wurden?«

»Einige kamen nach Neustadt, ein paar auch nach Dahme. Sowohl Kinder als auch Personal. Aber das ist mehr als zwanzig Jahre her, so genau kann ich mich auch nicht mehr erinnern.«

»Was sagt Ihnen der Name Anke Steffens?«

Barbara Wendt hatte während ihres Gesprächs einige Dokumente auf dem Schreibtisch gestapelt. Und demonstrativ an ihren langen Nägeln oder den goldenen Creolen gespielt. Doch in diesem Moment erstarrte sie regelrecht und fixierte Morten. »Warum fragen Sie mich das, wenn Sie den Bezug offenbar schon hergestellt haben?«, fragte sie schließlich.

»Wie meinen Sie das?« Morten spürte wieder ein Kribbeln im Bauch, doch diesmal hatte es nichts mit der Person Barbara Wendt zu tun, sondern mit dem, was sie gerade gesagt hatte.

»Sie war eine von drei Personen, denen vorgeworfen wurde, Kinder systematisch gequält und missbraucht zu haben. Eine seltsame Person. Ich habe sie damals auch kennengelernt. Sie war nicht greifbar, verwies sämtliche Vorwürfe ins Reich der Fabel. Sie bezeichnete das alles wortwörtlich als Rache dieser kleinen Plagegeister für ihr erbärmliches Leben. Ob jemand wirklich diesen Rotzlöffeln Glauben schenken wolle, statt zu honorieren, was das Personal leiste.«

»Ihnen war also klar, dass sie lügt?«

»Ich war damals Ende zwanzig und habe im Fachbereich Liegenschaften gearbeitet, es war gar nicht meine Aufgabe, mir darüber Gedanken zu machen. Aber ja, natürlich hatte ich das Gefühl, dass an den Vorwürfen etwas dran sein könnte.«

»Ich gehe davon aus, dass so einige Leute weggeguckt haben«, sagte Morten. »Wer wusste denn davon, was im Ostseeblick vor sich ging?«

»Wollen Sie jetzt ernsthaft eine so alte Sache aus dem Giftschrank holen und Menschen zur Verantwortung ziehen, anstatt diese Mordfälle aufzuklären? Ich verstehe überhaupt nicht, worauf Sie eigentlich hinauswollen.«

»Anke Steffens ist tot«, antwortete Morten. »Genau wie ihr Sohn. Beide wurden auf dieselbe Weise getötet wie Alexander und Maren Clasen. Ich denke, das sollte erklären, warum ich Ihnen all diese Fragen stelle.«

Es schien, als müsste Barbara Wendt seine Worte erst einmal sacken lassen. Einige Male vor ihrem inneren Auge abspulen, um schließlich die Konsequenz daraus abzuleiten. Morten erkannte jedoch sofort, dass aus ihrem Blick plötzlich etwas sprach, das er bislang noch nicht bei ihr gesehen hatte. Hatte sie etwa Angst?