Stimmungskanone
Auf den ersten Blick war alles wie immer. Das Buthmanns, die urige Bierstube am oberen Ende der Glockengießerstraße, war gut besucht, und der Lautstärkepegel entsprechend hoch. Auf der Theke stand ein großes Glas Soleier, und die Frau dahinter zapfte Bier.
Birger und Ole setzten sich an einen kleinen Tisch hinten links in der Ecke. Mit Kalle Hansen hatte er früher oft vorn am Tresen oder an einem der Tische direkt gegenüber gesessen. Bei einem seiner letzten Besuche hier hatte Kalle am Zapfhahn gestanden und selbst Bier ausgeschenkt. Er hatte nach seiner Krebserkrankung und der langwierigen Genesung die Seiten gewechselt, um sich ein paar Euro dazuzuverdienen.
Birger ließ seinen Blick durch die Kneipe schweifen und stellte fest, dass er niemanden kannte. Die Gäste waren jünger geworden. Nicht jung im eigentlichen Sinne, aber jünger als er. Aber sonst hatte sich kaum etwas verändert, obwohl er eine Weile nicht hier gewesen war. Von den Fotos an den Wänden sahen und lachten ihn noch immer altbekannte Lübecker Gesichter an, von Günther Grass über Schauspieler bis hin zu verschiedenen Politikern aller Couleur.
Es war gerade mal sechs Uhr, aber Vater und Sohn waren sich einig gewesen, dass sie dringend ein Glas Bier brauchten, um die festgefahrenen Gedanken neu zu ordnen.
Die Hoffnung, noch heute Abend einen Durchsuchungsbeschluss für das Haus von Dirk Sander in Timmendorfer Strand zu erlangen, hatte sich relativ schnell erledigt. Nicht nur, dass der zuständige Richter nicht erreichbar war, die Staatsanwaltschaft sah keinen ausreichenden Anfangsverdacht, der einen solchen Einsatz gerechtfertigt hätte. Die Anschuldigungen gegen Sander beruhten nur auf vagen Beobachtungen und konstruierten Zusammenhängen, so die Begründung.
Birger war so wütend gewesen, dass er zuerst Ida-Marie und anschließend Solveig angerufen hatte, die ihm schließlich versprochen hatte, die Sache so schnell wie möglich zu klären, aber auf jeden Fall dafür zu sorgen, dass eine Streife abgestellt wurde, um Sanders Haus zu observieren und insbesondere darauf zu achten, wer es verließ.
Die Bedienung, die Birger noch von früher kannte, brachte zwei dunkle Biere, die Ole beim Hereinkommen direkt bestellt hatte, und lächelte, als wäre sie froh, ihn wiederzusehen.
»Siehst gut aus«, sagte die Frau mit der blonden Kurzhaarfrisur und dem auffälligen Nasenpiercing. »Besser als früher, als du häufiger hier warst. Also noch besser«, schob sie hinterher und lachte jetzt laut.
Auch Birger und Ole mussten jetzt grinsen.
»Sag mal, arbeitet Kalle Hansen eigentlich noch hier?«, fragte Birger, als sich die Frau schon fast wieder abgewendet hatte.
»Kalle? Nein, bestimmt schon seit einem halben Jahr nicht mehr. Warum fragst du?«
»Nur so.«
»Ich glaube, er hat gemerkt, dass das nichts für ihn ist. Irgendwann meinte er zu mir, er wolle wieder das machen, was er am besten könne.«
Birger nickte und dachte darüber nach, was das für ihre Arbeit, aber auch für Ida-Marie bedeuten würde, wenn Simon Winter, der Vater ihres Sohnes, als Privatermittler gemeinsame Sache mit Kalle Hansen machte.
»Lass uns anstoßen«, unterbrach Ole seine Gedanken.
Die Gläser stießen aneinander, und beide nahmen einen großen Schluck. Ole war der Erste, der absetzte, weil er offenbar etwas sagen wollte.
»Glaubst du Morten, dass er Sander gegenüber nichts von den Ermittlungen in Travemünde erwähnt hat?«, fragte er schließlich.
»Es gibt keinen Grund, ihm nicht zu glauben«, antwortete Birger. »Zumal Sander derjenige ist, der in Bezug auf Rute nicht die Wahrheit gesagt hat.«
»Aber findest du nicht, dass Morten sich seltsam verhält?«
»Inwiefern?«
»Ich hatte das Gefühl, dass er uns nicht alles gesagt hat, was er weiß, als wir heute Nachmittag mit ihm telefoniert haben.«
»Dein Misstrauen scheint mir allmählich nicht mehr gesund zu sein«, sagte Birger streng. »Selbst wenn Morten uns nicht alles erzählt hat, sehe ich darin kein Problem. Zumindest solange es nicht unsere Ermittlungen sabotiert oder verzögert. Alles Weitere werden wir dann morgen früh bei unserer nächsten Besprechung von ihm erfahren.«
»Wir werden sehen«, sagte Ole. »Wenn du mich fragst, stimmt da zwischen ihm und Elif auch irgendetwas nicht. Er hat seltsam reagiert, als Ida-Marie ihn gebeten hat, sich bei ihr nach ihrem Zustand zu erkundigen.«
Diesmal konnte Birger seinem Sohn nicht widersprechen. Auch ihm war aufgefallen, dass zwischen den beiden irgendetwas in der Luft lag. Ob ihre Krankmeldung auch damit zu tun hatte, konnte er allerdings nur mutmaßen.
Aus den Augenwinkeln erkannte er, dass mehrere Personen das Buthmanns betraten. Eine Gruppe Frauen, ziemlich laut. Zum Teil verkleidet. »Ein Junggesellinnenabschied«, seufzte er.
»Ja, aber sieh mal, wer dabei ist.«
Birger schärfte seinen Blick und ging die Gesichter der sieben Frauen durch, bis seine Augen an einem besonders stark geschminkten hängen blieben. Es war zweifellos Danuta Kapustka, die extrovertierte Leiterin der Rechtsmedizin.
Er hatte sie lange nicht gesehen. Der auffälligste Unterschied zum letzten Mal war wieder einmal die Farbe ihrer Haare. Statt orangeblond schimmerten sie heute schwarz glänzend. Auch waren sie deutlich gewachsen, aus dem Kurzhaarschnitt war eine Bobfrisur geworden. »Woher kennst du sie?«, fragte er.
»Während der Ausbildung waren wir einige Male am Rechtsmedizinischen Institut, da hatte ich das Vergnügen, sie kennenzulernen.« Ole lächelte über den Rand seines Bierglases hinweg.
Während Birger noch überlegte, sich abzuwenden, um nicht von ihr erkannt zu werden, hörte er im nächsten Moment bereits ihren unverkennbaren polnischen Akzent durch die Kneipe hallen. »Mein Lieblingskommissar und sein attraktiver Sohnemann«, rief sie so laut, dass alle anderen Gäste es mitbekamen. »Was für eine schöne Überraschung.«
Birger wäre am liebsten im Boden versunken, aber dafür war es längst zu spät. Im nächsten Moment stand Danuta vor ihnen, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. »Was macht ihr denn hier? Habt ihr nicht genug mit den Ermittlungen zu tun?«
»Wir können auch bei einem Glas Bier arbeiten, manchmal kommen uns dabei sogar die besten Ideen. Aber wie sieht’s denn bei dir aus? Du hast vier Leichen auf dem Tisch liegen, und wir warten auf deinen Bericht.«
»Keine Sorge, mein Lieber«, sagte Danuta und tätschelte Birgers Schulter. »Der Bericht liegt morgen früh um acht Uhr auf deinem Schreibtisch. Erst die Arbeit, und jetzt das Vergnügen.«
»Können wir vor dem Vergnügen schnell über die Ergebnisse der Obduktionen sprechen?«
»Schau dir meine wunderbaren Freundinnen an. Alles süße Mädels aus Polen. Die warten auf mich.«
»Damit willst du aber doch wohl nicht sagen, dass das hier dein Junggesellinnenabschied ist, oder?«, wurde Birger hellhörig.
»Um Himmels willen, ich doch nicht.« Danuta lachte laut auf. »Ich bin nur die Stimmungskanone. Aber Ewa glaubt, sie tut das Richtige. Darum geben wir heute noch mal alles, schließlich könnte es für sie das letzte Mal der Fall sein.«
Birger blickte sie irritiert an, bis er schließlich schmunzeln musste. An ihren etwas sonderbaren Humor musste er sich erst einmal wieder gewöhnen.
»Ich bin mir sicher, dass es ein wilder Abend wird«, sagte er. Um ein Haar hätte er ihr noch den Rat, es nicht zu übertreiben, mit auf den Weg gegeben, aber er schluckte seine Worte hinunter. Immer öfter erwischte er sich dabei, seinen Mitmenschen väterliche Ratschläge zu erteilen, was ihm allerdings selbst unangenehm war. »Für Ole und mich wäre es dennoch wichtig, wenn du uns kurz verrätst, ob du irgendetwas Auffälliges gefunden hast, was für uns besonders wichtig sein könnte.«
»Danuta, komm zu uns«, rief plötzlich eine tiefe Frauenstimme mit polnischem Akzent. »Wir wollen anstoßen!«
»Bin gleich bei euch.«
»Ohne dich kann die Party offenbar wirklich nicht starten«, sagte Birger lächelnd.
»So wie immer, also lass uns schnell machen und zur Sache kommen. Es gibt da tatsächlich etwas, das spannend für euch sein dürfte. Wir können zwar nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, dass wir richtigliegen, aber ich würde meine Silikonkissen darauf verwetten.«
Birger schüttelte den Kopf und versuchte dem Reflex zu widerstehen, auf ihr pralles Dekolleté zu starren. Erfolglos.
»Also, was wissen Sie?«, fragte jetzt Ole in dem Versuch, das Gespräch in eine ernstere Bahn zu lenken.
»So kenne ich dich«, antwortete sie. »Immer zielstrebig, voll fokussiert, aber leider auch jemand, der zum Lachen in den Keller geht.«
»Es reicht jetzt«, sagte Birger. »Bist du schon betrunken, oder was ist mit dir los?«
»Ihr seid mir so zwei Andresens«, sagte Danuta. »Immerzu korrekt und verbissen. Habt ihr denn niemals Spaß im Leben?«
»Erst die Arbeit, dann das Vergnügen«, sagte Birger. »Wir haben im Gegensatz zu dir aber noch einen Haufen Arbeit vor uns.«
»Obwohl es nicht einfach ist, das zeitlich zu bestimmen, sind wir uns sicher, dass der Täter zuerst Maren Clasen und Onno Steffens ermordet hat«, sagte Danuta und klang von einer auf die andere Sekunde wieder ganz normal. »Aber das eigentlich Spannende ist noch etwas ganz anderes. Es könnte einen Hinweis auf den Täter liefern.«
»Was meinst du?«
»Die Opfer wurden gleichzeitig erstickt, da sie unter den Kunststofftüten keine Luft mehr bekamen, und stranguliert. Mit einer Kordel, die an den Tüten regulär befestigt war. Aber das wisst ihr ja bestimmt.«
Birger und Ole nickten.
»Anhand der Hämatome am Hals haben wir versucht, die Taten zu rekonstruieren. Alle Opfer wurden sitzend getötet, während der Täter hinter ihnen stand und die Kordeln der Tüten offenbar sehr langsam festgezogen hat, worauf die blaulila angelaufenen Gesichter der Toten hindeuten. Es müssen wirklich sehr qualvolle Tode gewesen sein.«
»Das sind noch keine Neuigkeiten«, sagte Ole. »Die Kollegen der Kriminaltechnik haben sich ähnlich geäußert.«
»Du bist ja genauso ungeduldig wie dein Vater«, sagte Danuta und sah ihn dabei scharf an. »Vielleicht wartest du einfach mal ab, bis ich ausgeredet habe.«
Birger bedeutete Ole mit einem Blick, sich besser zurückzuhalten und ihr Verhalten einfach über sich ergehen zu lassen. In der Hoffnung, dass sie noch etwas Wichtiges zu verkünden hatte.
Im nächsten Augenblick schnappte sie sich Birgers Bierglas und trank es mit zwei kräftigen Schlucken aus. Sie sah ihn provokant an, aber er blieb ganz ruhig.
»Also?«, fragte er stattdessen.
»Die Hämatome an den Hälsen der Opfer weisen einen auffällig schrägen Winkel auf. Steht jemand direkt hinter einer anderen stehenden Person und würgt diese, verlaufen die Strangulationsspuren gerade von vorne nach hinten. Da die Opfer in unseren Fällen allerdings saßen, sind die schräg verlaufenden nicht weiter verwunderlich. Trotzdem haben wir das mal unter Berücksichtigung der entsprechenden Sitzhöhen nachgestellt und abgemessen. Und das Ergebnis war etwas anders als das, was Harald mir heute Nachmittag am Telefon sagte. Klein ist der Täter mit Sicherheit nicht. Im Gegenteil, ich würde schätzen, dass er mindestens eins fünfundachtzig oder auch mehr misst.«
Birger fasste sich an die Schläfen. Aus den Augenwinkeln sah er, dass Ole ebenfalls angestrengt nachdachte.
War dieser klein gewachsene Mann, den ein Zeuge im Kurpark vor der Villa der Clasens gesehen hatte, also nicht die Person, die sie suchten? Und was hatte Morten vorhin noch mal am Telefon über diesen Unbekannten gesagt, den ein Nachbar dabei beobachtet hatte, wie er in das Hause der Steffens einbrechen wollte? Vielleicht die Person, dessen Spitzname Rute war. Derjenige, mit dem sich Dirk Sander vermutlich am Brodtener Steilufer getroffen und ihn anschließend mit zu sich nach Hause genommen hatte.
Ziemlich groß und schlaksig sei der Mann gewesen. Das hatte Morten gesagt.