Madame Tussauds

Morten war die Treppen des Polizeihochhauses hinuntergestürzt und hatte währenddessen Birger angerufen. Das Fluchen am anderen Ende der Leitung als Reaktion darauf, dass der Täter erneut zugeschlagen hatte, war trotz der lauten Hintergrundgeräusche aus dem Buthmanns unüberhörbar gewesen.

Er war froh, als Birger sagte, dass Ole und er sich ein Taxi nehmen würden. Das war Morten durchaus recht, denn so richtig Lust auf eine gemeinsame Autofahrt mit den beiden Andresens hatte er ohnehin nicht gehabt. Außerdem lag die Kneipe auf der Altstadtinsel überhaupt nicht auf dem Weg.

Die Nachrichten, die Elif geschickt hatte, waren von einem auf den anderen Moment fast unbedeutend gewesen. Erst wenn dieser Fall aufgeklärt und der Täter gefasst wäre, würde er sich gedanklich wieder mit ihr beschäftigen. Und dann würde er ihr klipp und klar sagen, dass sie zukünftig professionell miteinander arbeiten könnten, aber er kein einziges privates Wort mehr mit ihr wechseln wollte.

Als er nach wenigen Minuten vor dem Haus in der Stresemannstraße ankam, war er offenbar einer der Ersten. Ein paar Streifenwagen und ein RTW versperrten den Weg, aber von den Kollegen der Kriminaltechnik war noch nichts zu sehen. Weil am Straßenrand kein Parkplatz mehr frei war, stellte Morten seinen Wagen einfach in einer Einfahrt ab.

Er nickte den Ordnungspolizisten zu, die gerade dabei waren, den Zugang zu dem Haus, in dem die Tat offenbar geschehen war, mit rot-weißem Flatterband abzusperren. Er kannte sie, sodass sie ihn kommentarlos durchließen. Direkt vor der Haustür stand eine Beamtin, die lautstark Anweisungen in ihr Funkgerät gab. Als sie fertig war, trat Morten auf sie zu.

»Seelhoff und seine Leute noch nicht da?«

»Nur Jannik, der Neue. Er wohnt hier gleich um die Ecke.«

»Kann ich reingehen?«, fragte Morten.

»Klar, aber er spricht kein Wort.«

»Wer?«

»Na, der Mann, der hier wohnt. Hauke Kröger.«

»Er lebt?«, fragte Morten perplex. Er glaubte, sich verhört zu haben.

»Ja, hat man dir das nicht gesagt?«

»Nein, ich dachte, wir haben es mit zwei Opfern zu tun.«

»Gewissermaßen stimmt das auch, aber er hat das Ganze überlebt.«

»Wie schwer ist er verletzt?«

»Körperlich scheint er einigermaßen in Ordnung zu sein, zumindest macht er nicht den Eindruck, als wäre er so stark gewürgt worden, dass er das Bewusstsein verloren hätte«, antwortete die Polizistin. »Aber er hat einen schweren Schock erlitten, jedenfalls redet er nicht.«

Morten versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Was hatte das zu bedeuten? Weshalb hatte der Mörder diesen Mann am Leben gelassen? War etwas schiefgegangen? Hatte sich Hauke Kröger gewehrt?

Was ihn am meisten beschäftigte, war allerdings die Tatsache, dass sie jetzt einen Zeugen hatten. Jemanden, der wusste, wer für all die Morde der letzten zwei Tage verantwortlich war. Egal, wie tief der Schock bei diesem Mann saß, sie mussten ihn zum Reden bringen.

»Was ist mit dem anderen Opfer?«, fragte er.

»Franziska Noack, Krögers Lebensgefährtin. Sie ist tot.«

»Auf die gleiche Weise wie bei den Morden in Grömitz und Travemünde?« Obwohl die Kollegin wahrscheinlich nicht bei den anderen Einsätzen dabei gewesen war, ging Morten davon aus, dass sie wusste, was er meinte.

»Daran dürfte es keinen Zweifel geben, denke ich.«

»Wer hat den Mord eigentlich gemeldet? Weißt du das?«

»Wenn ich es richtig verstanden habe, war es ein anonymer Anrufer. Die Haustür stand offen, als wir ankamen. Vielleicht ist das jemandem aufgefallen, und der hat dann entdeckt, was oben passiert ist.«

Morten runzelte die Stirn. Die Erklärung klang merkwürdig, sie mussten auf jeden Fall noch einmal überprüfen, wer dieser Anrufer gewesen war.

Er überlegte, ob er auf Birger und Ole warten oder schon einmal einen Blick ins Haus werfen sollte. Ihm war klar, dass sie spätestens jetzt so eng wie möglich zusammenarbeiten mussten. Für Alleingänge war nicht mehr der richtige Moment, sie mussten alle Kräfte bündeln, damit sie diesen Wahnsinnigen endlich stoppten.

In seiner Jackentasche befühlte Morten die Überzieher, die er aus dem Handschuhfach seines Peugeots mitgenommen hatte. Kurzerhand zog er sie heraus und stülpte sie über seine braunen Lederboots, die er in den kalten Monaten am liebsten trug, und betrat das Haus. Sie durften schließlich keine Zeit mehr verlieren, und da konnte es nicht schaden, wenn er sich ein wenig umsah, bevor hier in ein paar Minuten das große Aufgebot aufkreuzte und das Durcheinander ausbrach.

»Du findest sie oben in der Küche«, sagte die Polizistin und deutete auf die große geschwungene Holztreppe im Innern. Dann wandte sie sich wieder ihrem Funkgerät zu.

Während er langsam hinaufging, ließ er seinen Blick schweifen. Das Treppenhaus und der Flurbereich machten den Eindruck, als lebten hier wohlhabende Menschen. Das Zusammenspiel zwischen dem anthrazitfarbenen Steinboden und den hellen Holzmöbeln gefiel ihm. Nicht protzig und dennoch sehr geschmackvoll.

Als er oben ankam, erstreckte sich vor ihm ein großer Raum, offenbar Wohn- und Esszimmer in einem. Gemütlich und stilvoll eingerichtet. Er erwischte sich bei der Vorstellung, wie er in diesem Haus leben würde. Mit jemandem, der für immer an seiner Seite bleiben sollte.

Noch schneller als die Bilder gekommen waren, verdrängte er sie wieder. Er musste sich darauf konzentrieren, was hier vorgefallen war. Ganz am Ende des Raums erkannte er einen weiteren Kollegen der Schutzpolizei. Er hatte ein Funkgerät in der Hand, schien Bescheid zu wissen und winkte ihn herbei.

Morten ging langsam durch den Raum. Der Anblick der Opfer war nichts, was ihn antrieb. Aber die Tatsache, dass zum ersten Mal jemand überlebt hatte und Hauke Kröger der beste Zeuge war, den es geben konnte, ließ seine Bewegungen gefühlt roboterhaft ablaufen.

Die Küche ging rechts ab, aber im Grunde war alles ein einziger großer Bereich. Fast ein wenig wie bei den Clasens in Grömitz, dachte er. Bei den letzten Schritten hatte er ein mulmiges Gefühl. Er war inzwischen darauf vorbereitet, auf tote Menschen mit Plastiktüten über dem Kopf zu treffen, aber jemand, der lebte und mit leerem Blick an die gegenüberliegende Wand starrte, war in diesem Fall etwas Neues, das ihn genauso herausforderte.

Hauke Kröger sah aus wie eine Figur aus Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett. Er war am Leben und gleichzeitig auch nicht.

Morten versuchte, seinen Blick nur auf ihn zu konzentrieren. Nicht auf die andere Person im Raum, die ein Stück weiter auf einem Stuhl saß und genauso leblos wirkte wie Kröger, aber im Gegensatz zu ihm tatsächlich tot war.

Er bewegte sich vorsichtig vorwärts und beobachtete den Mann. Es schien so, als nähme er ihn gar nicht wahr. Als säße er da wie eine Hülle seines eigenen Ichs.

»Sie sind der Schlüssel zu allem«, sagte er schließlich und blieb direkt vor ihm stehen. »Was geschehen ist, tut mir sehr leid. Aber Sie müssen wissen, dass Sie die einzige Person sind, die weiß, wer für diesen und andere Morde verantwortlich ist.«

Kröger reagierte nicht. Die einzige Bewegung war das unregelmäßige Blinzeln seiner Augenlider.

Hauke Kröger war groß gewachsen und hatte kurzes dunkles Haar. Er schätzte ihn Anfang bis Mitte vierzig. Gut gekleidet, aber auch etwas langweilig. Dunkelblaue Jeans, darüber ein weinroter Pullover, unter dem ein Hemdkragen hervorlugte. Irgendetwas an ihm kam Morten bekannt vor, obwohl er sich gleichzeitig sicher war, den Mann noch nie gesehen zu haben.

»Wir brauchen Ihre Hilfe«, versuchte er es noch einmal. »Wer ist dieser Mann, der Ihnen das angetan hat? Kennen Sie ihn?«

Keine Antwort.

»Hat er mit Ihnen geredet?«

Nichts.

»Wenn Sie nicht sprechen können, dann nicken Sie doch einfach oder schütteln den Kopf. Verstehen Sie mich?«

Es schien, als schaute Hauke Kröger durch ihn hindurch. Mit komplett leerem Blick. Nicht nur, dass er Morten wahrscheinlich nicht hörte. Er sah ihn offenbar auch gar nicht.

»Fünf Menschen mussten bereits sterben. Nur Sie haben überlebt. Haben Sie eine Erklärung dafür, dass er Sie nicht getötet hat?«

Für den Bruchteil einer Sekunde war sich Morten sicher, dass Hauke Kröger zusammenzuckte. Aber im nächsten Augenblick war alles wieder wie zuvor. War das der Punkt, an dem sie ihn knacken konnten? Die Frage, weshalb er verschont geblieben war?

»Sie wissen, wer er ist, richtig?« Morten trat näher an ihn heran und beugte sich leicht zu ihm nach unten. »Weshalb sagen Sie mir nicht seinen Namen?«, fragte er so eindringlich, dass es ihm fast unangenehm war. Immerhin hatte dieser Mann mitansehen müssen, wie seine Freundin getötet worden war. Trotzdem redete er weiter. »Wenn Sie schweigen, schützen Sie ihn. Und vielleicht wird es dann weitere Tote geben.«

Plötzlich hob Kröger seinen Kopf. Ihre Blicke trafen sich für einen kurzen Moment, ehe er ihn wieder sinken ließ. War da Angst in seinem Gesicht? Oder Wut? Zumindest hatte er reagiert, zum ersten Mal seit Morten hier war.

Er wollte weiter auf Kröger einreden, in der Hoffnung, ihn aus seiner Apathie herauszuholen, als er aus dem Hintergrund Stimmengewirr hörte. Eine letzte Frage würde er noch stellen, bevor die anderen kamen. »War der Mann klein oder eher groß gewachsen, so wie Sie?«

Auf einmal verkrampfte Hauke Kröger. Arme und Beine zuckten, sein Mund verzog sich, und er riss die Augen weit auf.

»Was ist mit Ihnen?«, fragte Morten und merkte, dass er nervös wurde. Hoffentlich bekam der Mann keinen epileptischen Anfall.

Im nächsten Moment verdrehte Kröger die Augen. Sie flackerten noch kurz, ehe sie zufielen. Dann kippte er zur Seite.

»Wir brauchen hier Sanitäter!«, rief Morten, während er versuchte, Kröger zu stabilisieren. Er sah sich um, aber niemand war zu sehen. Bis die Stimmen plötzlich lauter wurden.

»Hier hinten in der Küche. Schnell!«

Im nächsten Moment kamen die Kollegen der Streife und zwei Sanitäter angerannt.

»Was ist passiert?«, fragte der Ältere von ihnen.

»Plötzlich hatte er eine Art Krampfanfall und ist einfach umgefallen«, sagte Morten. Bereitwillig ließ er von Kröger ab und trat zur Seite. »Aber er hat noch Puls«, schob er hinterher.

Jetzt erkannte er auch Birger und Ole, die den Raum betreten hatten. Sie sahen ihn irritiert an. Langsam ging er auf die beiden zu.

»Das ist nicht meine Schuld«, wiegelte er sofort ab. »Ich habe nur versucht, ihn zum Reden zu bringen. Leider ohne Erfolg. Erst als ich ihn gefragt habe, ob der Mörder groß ist, hat er reagiert. Das Ergebnis seht ihr ja.«

»Hättest du nicht auf uns warten können?«, fragte Birger streng. »Er ist der einzige Zeuge, den wir haben. Da sollten wir vorsichtig und abgestimmt vorgehen.«

»Ich war völlig perplex, als ich hier ankam und hörte, dass dieser Hauke Kröger noch am Leben ist«, erklärte sich Morten. Er wusste natürlich, dass er so tun musste, als wäre es ein Fehler gewesen, was er getan hatte. Aber es herrschte Ausnahmezustand, da musste schließlich schnell gehandelt werden.

»So hilft er uns aber auch nicht weiter.«

»Er hat den Täter gesehen und, ich glaube, auch reden gehört«, ging Morten nun in die Offensive. Es war an der Zeit, dass er sein Wissen teilte. Und deutlich machte, wie weit er ihnen voraus war. »Ich bin mir sicher, er kennt den Täter. Und es gibt einen Grund, weshalb derjenige Kröger verschont hat.«

»Der da wäre?«

»Er hat Alexander Clasen und Anke Steffens so sehr gehasst, dass er sie und die ihnen nahestehenden Menschen eiskalt umgebracht hat. Franziska Noack, die Lebensgefährtin von Kröger, war nicht sein Ziel. Er hat sie aber getötet, um ihm so etwas wie einen Denkzettel zu verpassen. Ganz genau weiß ich noch nicht, was sein Antrieb gewesen ist, doch es geht hier eindeutig um Rache. Hauke Kröger sollte leiden, aber im Gegensatz zu den anderen nicht sterben.«

»Falls du dich erinnerst, wir haben bei der Staatsanwaltschaft einen Antrag auf Durchsuchung von Dirk Sanders Haus beantragt, weil wir glauben, dass sich dort jemand aufhält, der etwas mit den Morden zu tun«, sagte Birger. »Wie passt das mit dem zusammen, was du erzählst?«

»Ich befürchte, gar nicht«, sagte Morten. »Sander und dieser Rute haben sicherlich Dreck am Stecken, aber mit den Morden haben sie nichts zu tun.«

Er atmete tief durch und sah die beiden erwartungsvoll an. Das hatte er doch jetzt wirklich in aller Klarheit schlüssig zusammengefasst und die logischen Schlussfolgerungen daraus abgeleitet. Oder etwa nicht?

»Weshalb werde ich eigentlich die ganze Zeit das Gefühl nicht los, dass nur du zu wissen meinst, um was es hier geht?«, sagte Ole. »Dabei ist alles, was du sagst, reine Spekulation. Woher nimmst du deine Gewissheit, dass es sich so abgespielt hat, wenn dieser Kröger kein Wort mit dir geredet hat?«

»Weil es noch mehr gibt, das ihr wissen müsst.«

»Noch mehr Theorien, meinst du?«, fragte Birger argwöhnisch.

»Nein, konkrete Hinweise, die ich heute Nachmittag erfahren habe. Ich wollte nicht am Telefon darüber sprechen.«

»Sondern wann?«

»Nach meinen Gesprächen bin ich vorhin noch einmal ins Präsidium gefahren, weil ich ein paar Aussagen und Fakten überprüfen wollte. Anschließend hätte ich euch selbstverständlich alles gesagt.«

»Genauso wie du die Zeugenaussage zu dem Mann im Kurpark weitergegeben hast?«

Ole machte keinen Hehl daraus, dass er genervt von ihm war. Aber Morten ignorierte ihn und wandte sich stattdessen Birger zu.

»Gehen wir runter und reden irgendwo in Ruhe?«, fragte er. »Ich bin mir sehr sicher, dass ich etwas herausgefunden habe, das uns hilft, der Lösung des Falls näherzukommen.«