Düsternbrook

Jetzt, wo er Hauke gegenübergestanden und ihm alles gesagt hatte, was ihm wichtig war, spürte er zum ersten Mal seit Monaten eine gewisse Erleichterung.

Es war kein leichter Moment gewesen, aber am Ende hatte er das Gefühl gehabt, dass Hauke ihn verstand. Dass er das Richtige tat. Und dass all das notwendig war, um ein für alle Mal mit allem abschließen zu können und endlich Frieden zu finden. Obwohl ihnen beiden klar war, dass sie diese Last wohl niemals ganz loswerden und sie am Ende mit in ihr Grab nehmen würden.

Er hatte Hauke unmissverständlich klargemacht, dass er unter keinerlei Umständen darüber sprechen durfte, was passiert war. Wer er war und warum er das alles hatte tun müssen, das durfte niemand jemals erfahren.

Hauke hatte nichts dazu gesagt und mit versteinerter Miene weiter geschwiegen. Natürlich musste er erst einmal damit klarkommen, dass die Frau an seiner Seite nicht mehr am Leben war, aber er würde auch verstehen, dass er sich nicht korrekt verhalten hatte. Einfach so zu tun, als hätte es die Jahre im Heim gar nicht gegeben, hatte ihn verletzt.

Bei allem Erfolg in seinem späteren Leben konnte Hauke doch die Vergangenheit nicht einfach ausblenden! Warum war es ihm niemals wichtig gewesen zu erfahren, wie es ihm ergangen war? Er hatte ihm diese Frage gestellt, immer und immer wieder, aber keine Antwort erhalten.

Das hatte ihn regelrecht wütend gemacht, sodass er auch ihm kurzerhand eine Tüte über den Kopf gezogen hatte. Ob er sich jetzt wieder erinnere, hatte er ihn gefragt. An die Kartoffelsäcke, die man ihnen übergestülpt hatte, ehe die Qualen begannen.

Hauke hatte sich aber entschieden, einfach weiter zu schweigen. Er hatte es ihm verziehen, die Situation war sicherlich nicht leicht für ihn gewesen. Außerdem war Schweigsamkeit eine Eigenschaft, die er in Zukunft ohnehin perfektionieren müsste.

Aber wenn das alles vorbei und er selbst noch am Leben wäre, würden sie sich wieder annähern, da war er sich sicher. Egal, wie lange es dauern würde.

Schließlich war er ganz nahe an Hauke herangetreten und hatte seine Hand auf dessen Schulter gelegt. Hauke hatte kurz gezuckt, als hätte er Angst vor ihm. Aber die brauchte er natürlich nicht zu haben. Er würde ihm niemals etwas antun können, das hatte er ihm versprochen. Als Bestätigung hatte er seine Arme um ihn gelegt und ihn ganz fest an sich gedrückt. Hauke hatte sich nicht gewehrt, wahrscheinlich hatte auch er gespürt, wie sehr sie sich brauchten.

Zum Abschied hatte er ihn wieder von der Tüte befreit und ihm ins Ohr geflüstert, dass er sich auf sein Schweigen verlasse, andernfalls könne er sein Versprechen natürlich auch nicht halten. Ob er das verstehe, hatte er ihn eindringlich gefragt, aber Hauke hatte weiterhin nichts gesagt und bloß durch ihn hindurchgestarrt.

»Na schön, du weißt, was auf dem Spiel steht«, hatte er schließlich gesagt. »Nichts weniger als dein Leben. Jetzt muss ich aber los, um das Ganze zu Ende zu bringen. Ich bin mir aber sicher, dass wir uns schon bald wiedersehen werden. Und dann stehen wir uns so nahe wie damals.« Dann war er gegangen.

Sein Körper fühlte sich mittlerweile erschöpft an, aber im Kopf war er so klar wie nie zuvor. Natürlich hatte er gehofft, mehr Zeit zur Verfügung zu haben. Dass er seinen gesamten Plan nun innerhalb von achtundvierzig Stunden umsetzen musste, verlangte ihm alles ab. Und erforderte kreative Lösungen.

So hatte er sich, statt den Zug Richtung Kiel zu nehmen, einfach wieder in den Tesla gesetzt und war losgefahren. Bis die Polizei dahinterkäme, dass er sich den Wagen geliehen hatte, wäre er längst am Ziel und zurück in seinen vier Wänden, wo er sich sicher fühlte. Dann könnte er endlich abschalten und den Schlaf nachholen, der ihm seit Wochen so sehr fehlte.

Er wusste nicht, was passieren würde, wenn es wirklich so weit war. Ob sich plötzlich alles anders anfühlen, sich der dunkle Nebel in seinem Kopf einfach auflösen würde. Er hoffte es, aber eine gewisse Skepsis konnte er einfach nicht abschütteln. Die Vorstellung, ein normales Leben zu führen, kam ihm beinahe absurd vor. Und eigentlich war es ihm auch niemals darum gegangen, sein Leben zu reparieren. Eben weil es ihm schwerfiel zu glauben, dass dies überhaupt möglich war. Ihm ging es einzig und allein um Rache.

Hauke wiederzusehen und ihn zu bestrafen, war emotional schwierig für ihn gewesen. Er hatte hart bleiben wollen, und das war ihm gelungen, doch der schwierigste Schritt stand ihm jetzt bevor.

Es hatte ihn mehrere Jahre gekostet herauszufinden, wer die Person war, die für all das verantwortlich war, was ihm in seinem Leben widerfahren war. Ihm wäre nicht nur eine herzlose Pflegefamilie, die es nur wenige Jahre mit ihm ausgehalten hatte, erspart geblieben. Vor allem hätte er nicht den jahrelangen Horror im Ostseeblick erfahren müssen. Mit den unzähligen Misshandlungen und seelischen Verbrechen, die ihm angetan worden waren, und der schwierigen Zeit danach, als er nicht auf die Beine gekommen und immer weiter abgestürzt war.

Seine Mutter.

So nannte er sie nicht. Und empfand natürlich auch nicht so. Sie war zufälligerweise der Mensch, der ihn geboren hatte. Jemand, der sich selbst auch nicht als Mutter bezeichnen durfte. Jemand, der sich nicht einmal Mensch nennen sollte.

Sie war ein Monster. Definitiv. Wie anders konnte er sie denn sonst bezeichnen? Eine Frau, die ihr frisch geborenes Baby an einem kalten Spätherbstmorgen vor dem Feuerwehrgebäude ihres Wohnorts abstellt und darauf hofft, dass es jemand rechtzeitig findet, bevor es erfriert oder verhungert. Welches menschliche Wesen konnte dazu fähig sein?

Als er vor einigen Jahren mehr durch Zufall dahintergekommen war, wer sie war, hatte das alles angefangen. In ihm war dieser Plan gereift. Dem Rachefeldzug hatte er nach und nach weitere Gesichter hinzugefügt. Das immer noch für ihn unfassbare Glück, eines Tages Hauke über den Weg gelaufen zu sein, hatte allerdings erst dafür gesorgt, dass sich seine Liste vollständig anfühlte.

In dem Moment, als er ihren Namen erfahren hatte, war er allerdings wie erstarrt gewesen.

Julia Stöver.

War das wirklich möglich?, war es ihm durch den Kopf geschossen. Die Frau, die ihn zur Welt gebracht und kurz danach einfach ausgesetzt oder, wie er es formulierte, wie Dreck weggeschmissen hatte, war eine der bekanntesten Personen Schleswig-Holsteins? Ernsthaft?

Wie zynisch war diese Frau bloß, ausgerechnet solch ein Amt zu bekleiden nach dem, was sie getan hatte? Es machte die Sache nur noch unbegreiflicher für ihn. Und schwieriger. Aus diesem Grund hatte er seinen langfristigen Plan noch sorgfältiger vorbereitet.

Er hatte sie verstehen wollen, sie beobachtet, war ihr gefolgt. Im realen Leben genauso wie in den sozialen Netzwerken oder in den klassischen Nachrichten. Aber sie war kaum greifbar und ihm vollkommen fremd geblieben.

Obwohl sie so sehr in der Öffentlichkeit stand, war es ihm bis heute einfach nicht gelungen, sich ein klares Bild von ihr zu machen. Über ihr Privatleben wusste er kaum etwas. Sie war weder verheiratet, noch schien sie einen Partner zu haben. Sie lebte für ihre Arbeit und war eine allgemein respektierte und beliebte Person. In einer anderen Welt hätte er sie vielleicht sogar sympathisch gefunden. Sie bewundert für das, was sie tat. Für wen sie sich engagierte und einsetzte. Aber in dieser Welt, in seiner Realität, hasste er sie dafür nur umso mehr. Wie konnte sie für so viele Menschen da sein, während sie ihr eigenes Kind nicht hatte haben wollen?

Es war nicht zu entschuldigen. Das Einzige, was ihn noch interessierte, war eine Erklärung. Er wollte wissen, weshalb ihr das Leben ihres offenbar einzigen Kindes egal gewesen war. Vielleicht würde er eine Antwort bekommen, aber er hatte nur wenig Hoffnung, dass sie ihm irgendetwas brachte. Seine Entscheidung war ohnehin gefallen: Sie musste sterben.

Langsam ließ er den Tesla ausrollen und parkte ihn im Niemannsweg am Seitenrand. Hier im Kieler Stadtteil Düsternbrook fiel er zwischen all den anderen teuren Wagen gar nicht auf. Die letzten Meter bis in die Bartelsallee, wo Julia Stöver in einer stattlichen Villa lebte, lief er zu Fuß.

So wie er es immer tat, ging er jetzt erst einmal in einiger Entfernung in Deckung, um die Lage zu checken. Er wollte sichergehen, dass er den richtigen Moment abpasste und niemand ihn dabei beobachtete, wie er sich Zutritt zum Haus verschaffte. Er wusste, dass ihr Haus besonders gut gesichert war, was es komplizierter und zeitaufwendiger machte.

Er duckte sich hinter einen parkenden Wagen, weil Scheinwerferlicht plötzlich die im Dunkeln daliegende Straße erhellte. Im nächsten Moment fuhr ein weißer BMW Z4 an ihm vorbei und bog in die Einfahrt von Julia Stövers Haus ein.

Was hatte das zu bedeuten? Angestrengt dachte er nach. Der weiße BMW, warum war er hier? Er kannte ihn. Jeder kannte ihn, zumindest in Grömitz. Nur was zum Teufel hatte er hier zu suchen? Bei der Frau, die nicht seine Mutter gewesen war.