Das Fragezeichen
»Um es noch einmal zusammenzufassen«, kam Morten zum Ende, »die Verbindung zu Anke Steffens könnte also auf der Hand liegen, der Ostseeblick muss im Fokus unserer Ermittlungen stehen. Dieses Heim ist der Schlüssel, der uns zum Täter führt. Jemand, dem Anke Steffens damals diese Dinge angetan hat, die man ihr vorwirft, rächt sich an ihr. Bei Alexander Clasen könnte man vermuten, dass das Motiv in seinen und Dirks Sanders geschäftlichen Beziehungen liegt. Auch hier spielt der Ostseeblick eine wichtige Rolle. Aber die Art und Weise, wie der Täter tötet, deutet aus meiner Sicht ganz klar darauf hin, dass es sich um einen Racheakt handelt. Woraus ich schlussfolgere, dass auch Alexander Clasen und Hauke Kröger einen Bezug zu diesem Heim haben müssen.«
»Außer dass Clasen in Grömitz gelebt hat, haben wir keinen einzigen Hinweis, der darauf hindeutet«, sagte Birger. »Ich gebe dir recht, dass die Taten eher auf einen persönlichen Hintergrund schließen lassen als auf kaltblütige Morde wegen nicht zurückgezahlter Schulden, aber bitte bedenke, dass die Vorwürfe aus diesem Heim mehr als zwanzig Jahre zurückliegen. Und wie du selbst gesagt hast, sind die anderen Beschuldigten gar nicht mehr am Leben.«
»Es muss etwas geben, da bin ich mir sicher«, blieb Morten beharrlich. »Als ich Barbara Wendt darüber informierte, dass Anke Steffens tot ist, habe ich die Verunsicherung in ihrem Blick gesehen. Sie weiß mehr, als sie mir verraten wollte. Oder zumindest ahnt sie etwas.«
»Du glaubst also, dass das hier noch nicht das Ende gewesen ist?«, fragte Birger. »Obwohl der Täter ein Zeichen gesetzt hat, indem er Kröger am Leben gelassen hat? Es könnte auch darauf hindeuten, dass er fertig ist. Oder denkst du, hier ist irgendetwas für ihn Unvorhergesehenes vorgefallen?«
»Weshalb er ihn verschont hat, weiß ich nicht. Aber wenn er gewollt hätte, wäre Kröger tot. Ob es noch weitere Opfer geben wird, kann nur er selbst beantworten. Ich würde es allerdings nicht ausschließen. Wer weiß schon, an wem er sich noch rächen will.«
»Angenommen, es wäre so«, sagte Birger, »dann müssten wir uns jeden einzelnen Namen vornehmen, um irgendeine Verbindung zu finden. Und wie du selbst vorhin gesagt hast, gibt es keine Liste mit Namen.«
»Ich habe viel von dir gelernt«, sagte Morten. »Allerdings nicht, den Kopf in den Sand zu stecken. Natürlich müssen wir alles überprüfen, und zwar so schnell wie möglich. Aber vielleicht müssen wir noch einmal durchgehen, was wir bislang wissen.« Er nahm einen Block aus einem Regalfach, riss einige Zettel ab und verteilte sie auf dem großen Glasschreibtisch.
Nachdem Hauke Kröger stabilisiert und ins Uniklinikum gebracht worden war, hatten sich Birger und Morten im Erdgeschoss in einen Raum, der offenbar das Arbeitszimmer war, zurückgezogen. Im Rest des Hauses hatten Seelhoff und seine Leute das Kommando übernommen. Ole wollte ein paar Telefonate führen und später zu ihnen stoßen. Es war Morten ganz recht, aber das ließ er sich nicht anmerken.
Mit einem dicken Stift, den er ebenfalls in dem modernen Designregal gefunden hatte, begann er Namen auf die Zettel zu schreiben. Sechs Opfer, von denen eines noch am Leben war. Außerdem Dirk Sander und der Unbekannte, den sie Rute nannten. Dazu ein großer, schlanker Mann – dieses Blatt legte er halb über das von Rute – und schließlich noch die Person, von der Frank Westphal ihm erzählt hatte. Er überlegte einen Moment, dann schrieb er auch den Namen Barbara Wendt auf.
»Fehlt noch jemand?«, fragte er.
»Der Mörder.«
»Richtig.« Er nahm einen weiteren Zettel und malte ein großes Fragezeichen auf. Dann schob er ihn in die Mitte des Tisches und begann, alle anderen um den Täter herum zu verteilen.
»So funktioniert das nicht«, sagte Birger plötzlich. »Wenn es so ist, wie du vermutest, kannst du diese beiden Namen herausnehmen.« Er tippte auf Dirk Sander und Rute. »Was auch immer die beiden zu verbergen haben, es hätte dann nichts mit den Morden zu tun. Du hast es eben ja selbst gesagt, im Fokus steht dieses Heim. Es gehört hier also in die Mitte.«
Morten nickte. So hatte er es gewollt. Birger sollte das Gefühl haben, dass er ihn brauchte. Für wichtige Schlussfolgerungen oder zumindest, um ihn auf Fehler aufmerksam zu machen.
Er nahm Sander und Rute vom Tisch, schrieb stattdessen Ostseeblick auf ein leeres Blatt und tauschte es schließlich mit dem Fragezeichen aus.
»Ich weiß nicht, ob uns diese Anordnung weiterbringt«, sagte Birger nachdenklich.
»Das Fragezeichen gehört doch im Grunde in eine Reihe mit den Opfern«, sagte Morten, als wäre es ihm gerade erst eingefallen. »Es besteht bei den Toten ein Bezug zum Ostseeblick, das ist unsere These. Anke Steffens hat dort gearbeitet, das wissen wir. Wenn unsere Vermutung also stimmt, dass sich eines der mutmaßlichen Missbrauchsopfer an ihr gerächt hat, dann reden wir von einem heute vielleicht dreißig- bis vierzigjährigen Mann. Bei Clasen und Hauke Kröger fehlt uns noch die Verbindung, aber aufgrund des Alters können wir eigentlich ausschließen, dass sie ebenfalls dort gearbeitet haben. Clasen war damals gerade mal volljährig und Kröger ein Jugendlicher.«
»Ein Jugendlicher«, wiederholte Birger leise. »Genau wie der Täter?«
»Das wäre für mich die schlüssigste Erklärung«, sagte Morten. »Wir müssen dringend herausfinden, wer damals in diesem Heim –«
»Hauke Kröger hat als Kind mehrere Jahre im Ostseeblick verbracht. Du hattest also recht.«
Morten fuhr herum. Vor ihnen stand Ole, der sie mit ernster Miene ansah.
»Ich habe mit seiner Mutter telefoniert«, erklärte Ole weiter. »Besser gesagt mit seiner Adoptivmutter. Hauke Becker, wie er eigentlich hieß, wurde von dem kinderlosen Ehepaar Kröger 1997 aufgenommen und adoptiert. Er war insgesamt vier Jahre in dem Heim.«
»Die zweite Verbindung«, sagte Morten. »Es stimmt also wirklich.«
»Frau Kröger ist schon über achtzig und lebt in einem Pflegeheim in Ratzeburg. Aber sie ist noch sehr klar im Kopf, wenn auch sehr schockiert darüber, was passiert ist. Sie hat erzählt, dass die Zeit für Hauke im Ostseeblick wohl noch weitaus traumatisierender gewesen sei als die ersten Lebensjahre in seiner richtigen Familie. Er wurde wie andere Kinder dort auch sexuell missbraucht und musste körperliche und seelische Gewalt erleiden. Dass sie ihn dort herausgeholt hätten, wäre für ihn, aber auch für sie das größte Glück auf Erden gewesen. Hauke wäre ein wunderbarer Mensch.«
»Hast du ihr gesagt, dass seine Freundin tot ist?«, fragte Birger.
»Nein, das sollte sie nicht am Telefon erfahren. Eine Streife ist auf dem Weg zu ihr.«
»Welche anderen Kinder?« Morten griff noch einmal Oles Worte auf. Er spürte, dass sich sein Pulsschlag langsam erhöhte. Sie kamen dem Namen des Mörders immer näher. »Hat sie Namen genannt?«
»Ich habe sie gefragt, ob sie sich an Kinder erinnern kann, die Hauke erwähnt hat. Vielleicht welche, die ihn gemobbt haben, oder auch Freunde. Aber sie meinte, er hätte wenig erzählt, und wenn, dann nur über die Mitarbeiter. Der Name Anke Steffens rief die stärksten Emotionen bei ihr hervor. Jahrelang hätten sie alles versucht, diesen abscheulichen Skandal ans Licht und diese Menschen vor Gericht zu bringen. Aber immer wieder habe es Kräfte gegeben, die das verhindert hätten.«
»Was denn für Kräfte?«, fragte Birger argwöhnisch.
»Sie war sich sicher, dass jemand schützend seine Hand über die Beschuldigten gelegt haben muss und nicht wollte, dass aufgeklärt wird, was damals im Ostseeblick tatsächlich geschehen ist. Mehr konnte sie dazu allerdings nicht sagen.«
»Wir müssen Kröger zum Reden bringen«, sagte Morten. »Vielleicht sollten wir ihn mit den Namen der anderen Opfer konfrontieren. Anke Steffens dürfte auch bei ihm Reaktionen hervorrufen.«
»Willst du, dass er noch einmal so einen Anfall erleidet?«, fragte Ole.
Morten versuchte, seinen Blick zu fangen, aber er wich aus. Vielleicht war es schwer für Ole, dass er mit seinen Informationen aus dem Telefonat nur Mortens eigene Theorie bestätigte. Verständlich, dass seine Laune nicht gut war.
»Ich will in erster Linie verhindern, dass es zu einem weiteren Mord kommt«, antwortete er ruhig. Er trat wieder zum Schreibtisch, von dem sie sich ein Stück entfernt hatten, und tippte auf den Zettel, auf den er »Hauke Kröger« geschrieben hatte.
»Eigentlich gehört ab jetzt dieser Name in die Mitte. Er weiß nicht nur, was damals geschehen ist. Er kennt als Einziger auch den Namen des Täters. Ich finde es problematisch, ihn jetzt mit Samthandschuhen anzufassen, wenn wir dadurch weitere Menschenleben riskieren.«
»Und sein Leben zählt nichts?«, fragte Ole. »Du hast doch selbst aus nächster Nähe gesehen, wie sehr ihm die Konfrontation mit seiner Vergangenheit zugesetzt hat. Wie stellst du dir denn vor, ihn zum Reden zu bringen? Oder wenden wir neuerdings auch –«
Morten wollte Ole ins Wort fallen und ihm noch einmal eindringlich erklären, wie wichtig Kröger für sie war, um weitere Taten zu verhindern, als er das Vibrieren seines Handys in der Jackentasche hörte. Wie oft er dieses Gerät heute bereits verflucht hatte, konnte er gar nicht mehr sagen, aber er rief sich vor Augen, dass jeder Anruf und jede Textnachricht in diesen Minuten eine besondere Wichtigkeit hatte. Darum zögerte er auch nicht und zog das Telefon hervor.
Er erschrak augenblicklich, als er sah, dass Elif ihn anrief. Unmöglich konnte er das Telefonat hier vor allen annehmen. Er drückte den Anruf kurzerhand weg, entschuldigte sich dann bei den beiden Andresens und verließ den Raum.
Morten ging raus an die frische Luft und wählte ihre Nummer. Sein Herz schlug bis zum Hals. Die Anspannung, die der Fall mit sich brachte, war das eine. Aber ihre Stimme zu hören nach dem, was in den vergangenen fast vierundzwanzig Stunden geschehen war, machte ihn zugleich unbändig wütend.
»Danke, dass du sofort zurückrufst«, kam sie gleich zur Sache. »Ich habe keine Ruhe gefunden und den ganzen Tag über den Fall nachgedacht. Da war etwas, was mir gestern in Grömitz bei einem unserer Gespräche hängen geblieben ist.«
Sie wollte es also auf die professionelle Weise lösen. Keine Erklärungen. Kein Wort zu dem, was zwischen ihnen geschehen war und heute Morgen ein unrühmliches Ende gefunden hatte.
»Erinnerst du dich noch an unser Gespräch mit diesem Feuerwehrmann?«
»Natürlich«, antwortete Morten.
»Er erwähnte etwas, das mir sofort seltsam vorkam. Aber irgendwie habe ich nicht weiter nachgehakt, weil dann kurz darauf die Bürgermeisterin erschien.«
»Was meinst du?«
»Er redete davon, dass Clasen und seine Frau sich genommen hätten, was sie wollten. Ich habe das so verstanden, als bezöge er sich auf die Immobilien.«
»Ja, ich auch.«
»Anschließend hat er dann aber noch etwas gesagt, was dazu nicht so richtig passte. Er meinte, wenn sie etwas nicht wollten, würden sie es einfach wegschmeißen wie ein Stück Dreck. Ich denke schon die ganze Zeit darüber nach, was er damit gemeint haben könnte, aber ich verstehe es nicht. Hast du eine Ahnung?«
Morten stand mitten auf der Stresemannstraße. Um ihn herum zuckten die blauen Blitze zahlreicher Einsatzwagen und spiegelten sich in den Fensterscheiben der anliegenden Wohnhäuser. Der Sturm war heute Abend zu einem lauen Lüftchen abgeflaut, dafür war es kälter geworden. Doch der kalte Schauer, der ihm über den Rücken fuhr, hatte nichts mit den Temperaturen zu tun.
Hatten die Clasens etwa selbst einmal ein Kind weggegeben? Vielleicht nachdem sie es aus dem Ostseeblick aufgenommen hatten und es nicht ihren Erwartungen entsprochen hatte? Morten verspürte augenblicklich ein unangenehmes Gefühl in der Magengegend. Und Wut. War das also die Verbindung? Nur woher wusste Westphal davon?
Seine Gedanken waren plötzlich ganz klar, und doch fühlte sich alles in ihm so leer an wie nie zuvor.
Er hätte selbst darauf kommen können, vielleicht sogar müssen. Aber ihm war nicht einmal aufgefallen, was Westphal da gestern gesagt hatte. Auf einmal ergab alles einen Sinn. Sein Hass auf Clasen, den er offen gezeigt hatte. Sein Anruf, als ihm eingefallen war, dass er jemanden im Kurpark gesehen hatte, der ihm verdächtig vorkam. Nur ein Ablenkungsmanöver. Der Hinweis auf das Kinderheim und die Pläne von Clasen und Sander, einzig mit dem Ziel, eine weitere Spur zu legen, weil er wusste, dass sie ohnehin dahinterkämen, dass Anke Steffens im Ostseeblick gearbeitet hatte.
Westphal hatte mit ihnen Spielchen gespielt, während er Rache genommen und fünf Menschen brutal getötet hatte. Nein, korrigierte sich Morten. Er selbst hatte sich von ihm an der Nase herumführen lassen. Er ganz allein. Statt zu erkennen, mit wem er es zu tun hatte, war er davon überzeugt gewesen, in ihm eine glaubhafte Quelle zu haben. Sein Bauchgefühl, seine Menschenkenntnis, das kriminalistische Gespür, von dem er eigentlich überzeugt war, all das hatte versagt.
»Bist du noch dran?«
Morten hörte Elifs Worte, aber sie klangen, als wäre sie plötzlich ganz weit weg. Wie vom anderen Ende der Welt. Als hätte er sich Watte in die Ohren gestopft.
»Ja«, brachte er schließlich hervor. »Danke, dass du angerufen hast. Du hast uns sehr geholfen. Ich wünschte, das zwischen uns wäre nie passiert.«
Morten legte auf. Den letzten Satz hätte er sich sparen sollen, schoss es ihm sofort durch den Kopf. Andererseits konnte er einfach nicht so tun, als wäre nichts zwischen ihnen vorgefallen. Die Verletzungen, die sie ihm zugefügt hatte, saßen zu tief.
Hektisch tippte er auf seinem Handy herum und suchte nach einer Nummer. Als er sie gefunden hatte, wählte er sie sofort an. Es war, wie er befürchtet hatte. Der Anschluss, den er anrief, war tot.
Er steckte das Telefon wieder in seine Jackentasche und ging schnellen Schrittes zurück ins Haus. Als er im Arbeitszimmer ankam, sah er, dass die beiden Andresens über den Schreibtisch gebeugt standen und seine Zettel wahllos hin und her schoben. Schweigend stellte er sich neben sie.
»Wir brauchen die Namen nicht länger wenden und neu legen.« Morten nahm das Blatt mit dem Fragezeichen, drehte es um und griff dann nach dem Stift. Dann schrieb er in großen Buchstaben »Frank Westphal« auf und legte den Zettel zurück auf den Tisch.
»Ich befürchte, ich bin euch eine Erklärung schuldig.«