Euch
Er stand auf dem Treppenabsatz und wartete, dass sie auf sein Klingeln die Tür öffnete. Seinen Plan, unbemerkt in das Haus einzusteigen, hatte er kurzerhand verworfen. Warum sollte er die Sache verkomplizieren? Genauso gut konnte er es auch zu Ende bringen, indem er sie direkt an der Haustür konfrontierte und dann rasch überwältigte. So hatte es heute schließlich schon einmal funktioniert.
Dass ihm im Eingangsbereich zwei angebrachte Kameras folgten, hatte er registriert. Er würde sie einfach zerstören und die aufgezeichneten Sequenzen löschen, wenn er hier fertig war.
Warum bloß war er eigentlich so gefasst? Weshalb schlug sein Herz nicht heftiger? So wie am frühen Abend, als er vor Haukes Tür gestanden hatte. Aber zu seiner eigenen Überraschung war er vollkommen ruhig. Der Augenblick war endlich gekommen, und er fühlte sich nicht überfordert, er empfand gerade einfach gar nichts. Selbst die Wut, die ihn jahrelang angetrieben hatte, schien komplett verschwunden.
Die Tür bewegte sich. Es war also so weit. Doch sein Puls reagierte noch immer nicht. Kein Zittern, kein Pochen in den Schläfen, auch keine Angst davor, im entscheidenden Moment zu versagen. Etwas, das ihn sehr beschäftigt hatte. Würde er Skrupel haben, seine Mutter, die sie nicht war, zu töten? Doch seine Befürchtung war offenbar völlig unbegründet gewesen. Ob sich seine Gefühle ändern würden, wenn sie sich in die Augen sahen?
Noch konnte er die Frage nicht beantworten, denn vor ihm stand jemand anders. Die Frau mit dem weißen BMW Z4. Die Person, die er hier nun überhaupt nicht erwartet hatte.
Barbara Wendt schrak zurück, als sie ihn sah. Ihre Gesichtszüge entglitten. Wenn er überrascht gewesen war, als sie mit ihrem Wagen vorfuhr, dann war sie jetzt regelrecht schockiert.
»Was wollen Sie denn hier?«, brachte sie zögerlich über ihre Lippen, nachdem sie sich wieder etwas gefangen hatte. Von ihrem selbstbewussten und über alles erhabenem Auftreten, das sie sonst an den Tag legte, war nichts mehr übrig. Ahnte sie etwa, weswegen er hier war? Eigentlich war das unmöglich.
»Ich würde gerne mit Frau Stöver sprechen.«
»Und weshalb?«
»Wir müssen etwas Persönliches klären.« Er warf einen Blick über seine Schulter. In der Dunkelheit war niemand zu sehen. Kein Fußgänger und auch kein Auto.
»Woher kennen Sie sie denn bitte schön?«
»Das geht Sie nichts an«, antwortete er gereizt. »Ich würde gerne von Angesicht zu Angesicht mit ihr reden.«
»Ich habe keine Ahnung, was Sie hier zu suchen haben und weshalb Sie mit Julia sprechen wollen, aber ich glaube nicht, dass das heute Abend noch eine gute Idee ist.«
Hatte sie gerade Julia gesagt? Sie kannten sich also gut. Nur woher? Eine Verbindung zwischen ihnen hatte er überhaupt nicht auf dem Schirm gehabt. Aber wundern täte es ihn nicht, wenn die beiden miteinander befreundet wären.
»Ich bin nicht hierhergekommen, um mich von Ihnen abspeisen zu lassen«, sagte er schließlich, merkte aber, dass seine Worte schwach klangen.
»Denken Sie etwa, ich weiß nicht, wer Sie sind?«, fragte Barbara Wendt plötzlich mit scharfer Stimme. »Jeder in Grömitz erzählt diese Geschichten über Sie.«
»Was meinen Sie damit?« Er fühlte sich vollkommen überrumpelt von ihrem Vorstoß. Mit einem Mal spürte er doch etwas. Es war nicht das, was er erwartet hatte. Etwas ganz anderes machte sich in ihm breit, nämlich Verunsicherung. Was wusste diese Frau über ihn? Und welche Geschichten meinte sie?
»Sie machen den Menschen Angst«, redete sie weiter und trat wieder einen Schritt vor. »Ich werde immer wieder auf Sie angesprochen, weil die Leute glauben, Sie stellen ihnen nach. Selbst die Kollegen aus der Feuerwehr haben sich bei mir beschwert. Ich kenne Ihre Vergangenheit. Deshalb habe ich mich immer vor Sie gestellt, aber wenn Sie bei einer Ministerin unseres Landes am späten Abend vor der Haustür stehen und ein Gespräch mit ihr verlangen, frage ich mich, ob ich nicht viel früher hätte eingreifen müssen.«
»Eingreifen?« Er lächelte nervös.
»Was ist denn hier los?« Plötzlich vernahm er eine laute Stimme aus dem Hintergrund. Er erkannte sie sofort. Immerhin hatte er sich zahllose Videos im Internet angesehen, in denen sie als Politikerin in Interviews oder Vorträgen zu sehen gewesen war. Zumindest ihre Stimme war ihm mehr als vertraut.
»Nur jemand, der etwas verkaufen möchte«, sagte Barbara Wendt mit ruhiger Stimme. »Ich habe ihn abgewimmelt.« Sie sah ihn jetzt aus eisigen Augen an und bedeutete ihm unmissverständlich zu gehen.
Er war ganz klar im Kopf gewesen und hätte das Gespräch noch eine Weile weiterführen können, aber innerhalb weniger Sekunden verstand er, dass sich die Situation hier nicht gut entwickelte. Er musste etwas tun, bevor er die Kontrolle verlor.
Angestrengt versuchte er, sich in den Modus der vergangenen achtundvierzig Stunden zu versetzen. Er war komplett fokussiert gewesen. Hatte sich durch nichts und niemanden aus der Ruhe bringen lassen. Hatte sogar noch die Kripo mit Informationen versorgt, die ihm mehr Zeit brachten. Es durfte nicht sein, dass er jetzt, kurz vor dem Ziel, schwach wurde.
Er nickte, trat einen Schritt zurück, als wendete er sich ab. Doch stattdessen zog er eine Tüte aus seiner Jackentasche und stürzte nach vorn. Seitlich mit dem Unterarm versetzte er Barbara Wendt einen heftigen Schlag ins Gesicht. Noch während sie zu Boden ging, stülpte er ihr die Tüte über den Kopf und zog die Kordel fest.
Als er wieder hochblickte, stand sie plötzlich vor ihm. Die Frau, die ihn nicht haben wollte. Obwohl er ihr Fleisch und Blut war. Zum ersten Mal seit vierzig Jahren sah sie ihrem Sohn wieder in die Augen, schien allerdings gar nicht zu verstehen, wer er war.
Sie war vollkommen entsetzt, keine Frage. Aber nicht, weil sie ihn erkannte, sondern weil zu seinen Füßen Barbara Wendt verzweifelt um Luft rang und sie selbst offenbar Todesangst verspürte. Im nächsten Moment drehte sie sich um und rannte die Treppe hinauf ins obere Stockwerk.
Er warf die Haustür hinter sich zu und schleifte die Bürgermeisterin an ihrem rechten Arm weiter ins Haus. Bislang waren alle seine Opfer vor Schock wie erstarrt gewesen. Niemand hatte sich zur Wehr gesetzt oder versucht davonzulaufen. Er musste jetzt einen kühlen Kopf bewahren, aber wahrscheinlich hatte sie sich in irgendeinem Zimmer eingeschlossen, um den Notruf zu wählen, was wiederum bedeutete, dass er kaum Zeit hatte für das, was er tun musste.
Hektisch half er Barbara Wendt auf die Beine, was angesichts ihrer Größe schwerer als gedacht war, und riss ihr die Tüte wieder vom Kopf. Augenblicklich japste sie nach Luft, ehe sie husten musste. Dafür war jetzt keine Zeit. Unsanft schob er sie die Treppe hinauf.
»Rufen Sie sie, los!«, zischte er, als sie fast oben angelangt waren. »Und sagen Sie ihr, sie soll sofort herauskommen, andernfalls sehen Sie beide sich nie wieder.«
»Nicht, bevor Sie gesagt haben, was Sie von ihr wollen.« Barbara Wendt blieb stehen und sah ihn herausfordernd an.
Er spürte, dass die Wut in ihm immer mehr hochkochte. Was erlaubte sich diese Frau, hier die Regeln zu bestimmen? Er packte sie an den Haaren und versuchte, sie die letzten Stufen hochzuziehen. Aber sie wehrte sich, wand ihren Körper und stieß immer wieder lauthals Flüche aus.
»Hören Sie auf!«, schrie er sie an.
Aber das Gegenteil war der Fall. Mit aller Kraft versuchte sie sich von ihm loszureißen. Er spürte, dass er ihre Haare nicht länger greifen konnte. Sie glitten ihm aus der Hand. Augenblicklich verlor Barbara Wendt den Halt. Unter lautem Poltern rutschte sie die Treppe hinunter und schlug mehrfach mit dem Kopf auf die Holzstufen auf. Auf dem Fliesenboden des unteren Stockwerks blieb sie regungslos liegen.
Auf einmal war alles ganz ruhig im Haus. Einige Sekunden vergingen, in denen er überlegte, wieder hinunterzugehen und nach ihr zu sehen, doch dann entschied er sich dagegen. Es war ihm schlichtweg egal, was mit ihr passierte. Er musste sich einzig und allein um sich selbst und die Frau, die sich hinter einer der Türen auf diesem Flur befand, kümmern.
Langsam ging er über den Gang und horchte, ob er irgendein Geräusch wahrnahm, aber es war mucksmäuschenstill. Die meisten Türen standen weit offen oder waren zumindest nur angelehnt. Aber die ganz hinten war geschlossen. So wie die Räume angeordnet waren, schätzte er, dass es sich um das Badezimmer handelte.
Er trat ganz nahe heran und überlegte kurz, sich gegen die Tür zu stemmen, um sie aufzubrechen. Doch stattdessen ging er in die Hocke und setzte sich dann im Schneidersitz auf den Boden. Vielleicht war es besser, ihr nicht in die Augen zu blicken, während er seine Fragen stellte, die ihm noch unter den Nägeln brannten.
»Ich sitze vor der Tür«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Können wir reden?«
Sie antwortete nicht.
»Wahrscheinlich bist du als Ministerin gewohnt, dass dich die Leute siezen, aber ich duze dich«, fuhr er fort. »Ich darf das nämlich.«
Noch immer keine Reaktion.
»Willst du nicht wissen, weshalb ich das darf?« Er wartete kurz, doch es kam keine Antwort.
»Ich schätze, du hast bereits eine Vermutung, aber ich helfe dir gerne auf die Sprünge. Liegt ja auch alles schon vierzig Jahre zurück. Und bestimmt erinnerst du dich nicht gerne daran. Aber du kannst mir glauben, mir geht es nicht anders. Es gibt nur einen klitzekleinen Unterschied zwischen uns. Während du dein Leben weiterführen konntest, als wäre nichts passiert, war meines von dem Tag an, als du mich verstoßen hast, verloren. Zerstört, bevor es überhaupt richtig begonnen hatte. Wie alt war ich? Du weißt es am besten. Eine Woche? Drei Tage? Oder hast du mich direkt am Tag der Geburt ausgesetzt?«
Wieder hielt er kurz inne, in der Hoffnung, sie würde ihm antworten, aber sie schwieg weiterhin. Er malte sich aus, was in ihrem Kopf vor sich ging. Konnte sie vor Schock nicht reden? Oder war sie vorbereitet, weil sie all die Jahre damit gerechnet hatte, dass dieser Tag irgendwann kommen würde?
»Möchtest du wissen, was ich in den letzten vierzig Jahren erlebt habe?«
Stille.
»Eine Mutter sollte das doch interessieren«, sagte er. »Also eine normale Mutter, nicht so ein Monster, wie du es bist. Eine normale Mutter hätte ihr Baby natürlich auch gar nicht erst … Aber lassen wir das, mein Leben war eine einzige Tortur. In diesem Heim, in dem ich groß geworden bin, wurde ich jahrelang missbraucht und geschlagen. Sie haben uns sogar Kartoffelsäcke über den Kopf gezogen, damit sie unsere panischen Augen nicht sehen mussten. Als ich endlich frei war, habe ich auf der Straße gelebt, hatte kein Geld und nie einen richtigen Job. Ich habe zu viel getrunken und Drogen genommen. Bis heute bin ich schwer tablettenabhängig. Klingt alles nicht so schön, oder?«
Er seufzte und schüttelte den Kopf. Warum erzählte er ihr das alles eigentlich? Hätte er ihr je etwas bedeutet, wäre es ein Leichtes für sie gewesen, ihn zu finden. Er könnte sein Martyrium bis ins kleinste Detail erzählen, aber es würde wahrscheinlich gar nicht zu ihr durchdringen.
»Weißt du, wie ich dahintergekommen bin, dass du meine leibliche Mutter bist?«, setzte er dennoch ein weiteres Mal an. »Das war gar nicht so einfach. Ich musste mit Leuten reden, die ich in meinem Leben eigentlich nicht mehr wiedersehen wollte. Und ihnen auch noch ein paar Gefallen tun, damit sie sich überhaupt meinen Fragen stellten. Aber selbst das brachte mich nicht weiter, die entscheidenden Antworten konnten oder wollten sie mir nicht geben. Bis ich eines Abends vor ziemlich genau vier Jahren mal wieder in einer Bar in Grömitz versunken bin und mit einem älteren Mann ins Gespräch kam, der neben mir an der Theke saß. Es stellte sich heraus, dass er früher als Privatdetektiv gearbeitet hat. Ein Wort ergab das andere, und ich erzählte ihm immer mehr von meinem Leben. Es waren seine Fragen, die mich plötzlich stutzig machten. Ich hatte das Gefühl, er würde mich kennen. Oder zumindest meine Geschichte. Irgendwann hat er dann immer mehr preisgegeben, wohl weil er noch besoffener war als ich. Ich habe keinen Schimmer, wie er damals an seine Informationen gekommen ist, aber er wusste einfach alles. Über mich und über dich. Darüber, was du getan hast.«
Er machte eine bedeutungsvolle Pause, redete dann allerdings schnell weiter. »Ich hatte plötzlich deinen Namen schwarz auf weiß. Verstehst du, was das für mich bedeutete? Und als ich dann auch noch herausgefunden habe, wer du bist, konnte ich es gar nicht glauben. Eine der bekanntesten Politikerinnen des Landes? Familien- und Sozialministerin. Verantwortlich für den Schutz von Kindern und Jugendlichen und vielem mehr. Ich dachte wirklich im ersten Moment, man hätte sich einen makabren Scherz mit mir erlaubt, weshalb ich weitere Erkundigungen über dich eingeholt habe. Aber es stimmte tatsächlich, Julia Stöver, die erfolgreiche Ministerin, ist meine leibliche Mutter.«
Er lachte kurz laut auf. Ein wenig hysterisch, aber das, was er gerade gesagt hatte, klang auch für ihn noch immer vollkommen surreal, obwohl er es schon seit einigen Jahren wusste.
»Ich habe nicht erwartet, dass ich irgendeine Erklärung von dir bekomme«, sagte er jetzt wieder ernst. »Und eigentlich würde ich gerne sagen, dass es mir egal ist, weshalb du das getan hast. Als ich dich zum ersten Mal sah, habe ich nichts gespürt. Ich habe befürchtet, dass es mich emotional mitnehmen würde, aber es passierte nichts. Genauso wenig wie jetzt. Mir geht es nur noch darum, mit dieser ganzen Sache abzuschließen. Bevor ich jetzt reinkomme und dich töte, interessiert mich allerdings noch eine Sache: Warum hat mir diese Person vorhin die Tür geöffnet?«
Wieder keine Antwort.
»Na schön, dann werde ich jetzt –«
»Was hast du mit ihr gemacht?«
Er zuckte zusammen. Ihre Stimme zu hören, löste plötzlich doch eine Reaktion in ihm aus. Ein kurzer Schauer fuhr ihm über den Rücken.
»Sie ist die Treppe hinuntergestürzt, war nicht meine Schuld.«
»Wie geht es ihr?«
»Keine Ahnung, nicht so gut, schätze ich.« Die Wut kam wieder zurück. Weshalb war ihr das Schicksal dieser Frau wichtiger als das ihres eigenen Sohnes?
»Bitte sieh nach ihr!«, flehte sie.
»Weshalb sollte ich das tun?«
»Weil ich sie liebe«, antwortete sie mit zittriger Stimme. »Und weil du …« Sie zögerte. »Weil du … trotz allem mein Sohn bist.«
Wieder lachte er. Diesmal aber leise in sich hinein. Sie liebte also eine Frau? Es interessierte ihn nicht. Aber hatte sie ihn gerade ernsthaft als ihren Sohn bezeichnet? Trotz allem? Sie war noch zynischer, als er gedacht hatte.
»Warum?«, fragte er schließlich. Mehr Worte fielen ihm nicht mehr ein.
»Was meinst du?«
»Ich will nur noch diese eine Sache von dir wissen: Warum hast du mich damals weggegeben?«
»Es ist schwer für mich«, antwortete sie noch immer mit brüchiger Stimme.
»Es ist schwer für dich?« Er sprang auf und schrie die Worte laut heraus. Seine Wut war in diesem Moment endgültig übergekocht. Er fasste an den Griff, um die Badezimmertür zu öffnen, doch sie war natürlich verschlossen.
Er hämmerte einige Male dagegen, bevor er ein paar Schritte zurücktrat, um sie mit Anlauf aufzubrechen, als sie plötzlich »Warte!« rief.
»Es gab einen Grund, weshalb ich euch nicht behalten konnte. Ich war siebzehn, als ich vergewaltigt wurde. Von meinem eigenen …«
Er hörte nicht mehr richtig zu und sank wieder zu Boden. Niemals würde er zulassen, so etwas wie Mitleid oder Verständnis für sie zu empfinden.
Euch.
Sie hatte euch gesagt.
Hauke.
Tief im Innern hatte er es immer geahnt. Und plötzlich ergaben auch die seltsamen Anspielungen des Privatdetektivs, die er nie verstanden hatte oder vielleicht nur nie verstehen wollte, einen Sinn.