High Heels und Perlenkette

»Die Tür bewegt sich!«, rief plötzlich einer der Kieler Kollegen aufgeregt und reichte sein Fernglas weiter.

Morten schnappte es sich, während er aus den Augenwinkeln sah, dass der Einsatzleiter des MEK, ebenfalls mit Fernglas ausgestattet, sofort hektische Anweisungen gab. Sie standen am Ende der Straße an der Ecke zur Caprivistraße. Zum Haus von Julia Stöver waren es etwa dreißig Meter. Nah genug, um es im Auge zu haben, und hoffentlich weit genug entfernt, um nicht entdeckt zu werden.

»Was siehst du?«, fragte Birger. Er war unruhig, scharrte förmlich mit den Hufen. Nicht selten hatte er in der Vergangenheit im Alleingang einen Täter überführt. Sich hier mit zahlreichen Kollegen abstimmen zu müssen, war er nicht gewohnt.

»Die Tür steht einen Spalt offen, aber ich kann niemanden erkennen. Vielleicht will Bachmann vorsichtig die Lage checken.«

»Wenn die Zielperson auftaucht, kann der Zugriff erfolgen«, sagte der Leiter des MEK, ein drahtiger Mann um die fünfzig, der offenbar nur einen einzigen, ernsten Gesichtsausdruck kannte. »Ein paar meiner Leute befinden sich bereits in unmittelbarer Nähe des Hauses in geschützter Deckung.«

»Ich kann jetzt jemanden erkennen«, sagte Morten. »Es ist Barbara Wendt, sie schleppt sich auf allen vieren aus dem Haus. Ich glaube, sie ist verletzt.«

»Was genau hat sie denn?«

»Sie blutet am Kopf, und wenn ich das richtig sehe, ist etwas mit ihrem rechten Fuß nicht in Ordnung.«

»Wenn sie es ein paar Körperlängen weit geschafft hat, sollen deine Leute sie da möglichst unauffällig wegholen«, sagte Birger eindringlich in Richtung des MEK-Leiters. »Mit einem Zugriff warten wir noch«, schob er hinterher.

Der Mann nickte kaum sichtbar, ehe er mit ruhiger Stimme in sein Funkgerät sprach.

»Jetzt ist Bachmann allein mit seiner Mutter«, sagte Birger nun wieder Morten zugewandt. »Er wird sie nicht verschonen. Ich bin mir aber sicher, dass es für ihn nicht so einfach wie bei den anderen wird. Und ich könnte mir auch vorstellen, dass er Fragen hat, auf die er Antworten haben will.«

»Was schlägst du vor, wie sollen wir vorgehen?«

»Früher hätte ich gesagt, wir schleichen uns ins Haus und machen das, was nötig ist, aber …«

»Dann tun wir das doch einfach«, sagte Morten entschlossen. »Wir können hier nicht warten, bis er auch sie umgebracht hat. Ich spreche mit den Kollegen und regele das.«

Birger nickte und blickte seinem Kollegen nach, während der sofort das Gespräch mit dem MEK-Leiter und anderen Kieler Beamten suchte. Er war nie der Beste darin gewesen, wenn es darum ging, mit anderen Polizeieinheiten zusammenzuarbeiten. Jedenfalls hatte er in diesem Moment überhaupt kein Problem damit, dass Morten diese Aufgabe übernahm.

Einer der MEK-Leute kam plötzlich aus Richtung des Hauses von Julia Stöver angerannt. Sofort war klar, dass er Informationen von Barbara Wendt mitbrachte.

»Sie ist die Treppe hinuntergefallen«, sagte er. »Wahrscheinlich eine Gehirnerschütterung und ein gebrochener Fuß. Die Zielperson befindet sich im oberen Stockwerk und spricht mit der Bewohnerin des Hauses, die sich wahrscheinlich in einem der Räume eingeschlossen hat.«

»Ist die Person bewaffnet?«, fragte Birger.

»Wir sollten es zumindest nicht ausschließen.«

Morten kam zurück, mit einer Mimik, die Birger nicht deuten konnte. »Wir gehen rein, allerdings nicht alleine. Wir bekommen Begleitschutz.«

»Nicht ganz unvernünftig«, sagte Birger. »Wir sollten versuchen, ihn möglichst lange in ein Gespräch zu verwickeln. Ihr beiden kennt euch, vielleicht hilft uns das.«

»Zumindest hatten wir einen vernünftigen Draht zueinander«, sagte Morten. »Aber um ehrlich zu sein, er hat mich benutzt, um seinen perfiden Plan umzusetzen. Und ich bin darauf reingefallen.«

»Fehler begeht man«, sagte Birger. »Wichtig ist, dass man daraus lernt.«

Morten rümpfte die Nase. Auf solche väterlichen Ratschläge konnte er nun wirklich verzichten. Er verzichtete jedoch auch auf einen Kommentar und raunte Birger stattdessen ein »Gehen wir« zu, als er aus den Augenwinkeln erkannte, dass drei MEK-Beamte und ein Kollege der Kieler Kripo bereitstanden.

Zusammen näherten sie sich Julia Stövers Haus in gebückter Haltung im Schatten einiger Bäume und Hecken. Vor dem Grundstück hielten sie kurz inne, versicherten sich über Funk bei den Kollegen, dass Bachmann nicht an einem der Fenster stand. Als sie das Okay hatten, huschten sie über den Rasen bis vor zur Haustür. Hinter einem Gebüsch traten zwei weitere MEK-Leute vor und gaben ihnen ein Zeichen, ein Stück entfernt in Deckung zu gehen.

Mit ihren halb automatischen Waffen im Anschlag pressten sich die beiden links und rechts vom Eingang mit dem Rücken an die Hauswand. Der Rechte tastete mit seiner Hand nach der Tür und schob sie erst langsam und dann kraftvoll auf. Im nächsten Moment fuhren beide herum und richteten ihre Pistolen in den Raum, der sich vor ihnen öffnete. Morten konnte erkennen, dass sie noch ein paar Schritte vortraten und sich dabei immer wieder im Halbkreis drehten, um alles überblicken zu können.

Nach wenigen Sekunden wandten sich die beiden um und nickten ihnen zu. Die Luft schien rein zu sein, sie konnten das Haus jetzt betreten.

Auch Morten und Birger zückten jetzt ihre Dienstwaffen. Zwischen den Spezialkräften mit ihren Sturmhauben und den schusssicheren Westen fühlten sie sich sicher. Und obwohl Morten in den letzten beiden Tagen immer wieder Kontakt zu Bachmann gehabt hatte, musste er sich vor Augen führen, wozu dieser Mann fähig war. Er hatte fünf Menschen auf brutalste Weise ermordet. Und sein wahrscheinlich finales Opfer befand sich gerade in höchster Gefahr.

Morten blickte sich um. Das Haus machte einen sehr gediegenen, schicken Eindruck. Nichts anderes hatte er erwartet. Möbel, Tapeten und die Fliesen im Flurbereich waren in sehr hellen Tönen gehalten, die Blutspuren am Boden waren der einzige farbliche Kontrast. So wie sie sich verteilten, stammten sie zweifellos von Barbara Wendt.

Am unteren Treppenende blieben sie stehen. Vor ihnen lagen ein Paar High Heels und eine Perlenkette. Mortens Blick wanderte die relativ schmale und steile Treppe hoch. Barbara Wendt hatte Glück gehabt, ihr Sturz hätte ohne Weiteres noch schlimmer ausgehen können.

Er legte den Finger auf seine Lippen und sah Birger an. Sie versuchten, irgendein Geräusch aus dem oberen Stockwerk zu hören, aber es war so still im Haus, dass Morten plötzlich ein ungutes Gefühl überkam. Waren sie etwa zu spät?

Wieder waren es die beiden MEK-Beamten, die vorausgingen und langsam die Treppe hochstiegen. Diesmal warteten Morten und Birger allerdings nicht, sondern folgten ihnen mit einer Körperlänge Abstand.

Das Holz der Treppe knarzte bei jedem Schritt. Spätestens jetzt musste Bachmann mitbekommen haben, dass sie hier waren. Wenige Stufen bevor sie oben anlangten, blieben die Einsatzkräfte vor ihnen stehen, um sich per Handzeichen abzustimmen.

»Wir warten hier erst mal«, flüsterte Birger auf einmal. »Lass sie vorgehen und die Lage checken. Es sieht so aus, als böge ein Flur nach links ab.«

Morten sagte nichts. Eigentlich hatte er vorangehen, sich nicht hinter diesen beiden Kampfmaschinen verstecken wollen. Die Situation war aus seiner Sicht von überschaubarem Risiko. Er ging nicht davon aus, dass Bachmann eine Schusswaffe bei sich trug. Das passte auch nicht zu seinem bisherigen Vorgehen. Sie mussten sich darauf konzentrieren, einen weiteren Mord zu verhindern. Und dabei musste ihm die entscheidende Rolle zukommen, wenn es zum Beispiel zu Verhandlungen mit Bachmann kam. Schließlich war er der Einzige von ihnen, der ihn kannte.

»Zielperson erfasst«, klang es auf einmal aus einem Funkgerät hinter Morten. Die beiden MEK-Beamten vor ihnen waren langsam weitergegangen und konnten jetzt offenbar den ganzen Flur einsehen.

Morten forderte den Uniformierten hinter sich auf, ihm sein Funkgerät zu geben, was dieser eher widerwillig tat. »Was ist zu sehen?«, fragte er hastig. »Ist die Person allein?«

»Ja, die Zielperson sitzt mit dem Kopf zwischen den Beinen an eine Wand gelehnt. Wir könnten sofort zugreifen.«

Morten und Birger tauschten einen kurzen Blick, bevor sie nickten.

»In Ordnung, Zugriff.«

Im nächsten Moment verwandelte sich die fast gespenstische Stille im Haus in ein großes Durcheinander aus Stimmengewirr und sehr lauten, unmissverständlichen Anweisungen.

Morten hielt es nicht länger aus. Er stürzte die letzten Treppenstufen hinauf und erkannte sofort, dass Bachmann von den beiden MEK-Beamten bereits überwältigt worden war. Der kräftige Mann, wie ihn Petersen bezeichnet hatte. Es stimmte, Bachmann hatte einen muskulösen Oberkörper. Sie zogen ihn hoch und pressten ihn gegen die Wand, um ihn abzutasten. Nach wenigen Sekunden war klar, dass er keine Waffen bei sich trug. Er machte auch keinerlei Anstalten, sich zu wehren.

»Zielperson gefasst.«

Morten spürte, wie der Adrenalinspiegel in seinem Körper rasch absackte. Die Anspannung verschwand, von einer Sekunde auf die andere schien ihn sämtliche Energie zu verlassen. Die letzten Schritte auf dem Flur bis hin zu dem Mann, der ihnen in den letzten fast vierzig Stunden alles abverlangt hatte, kamen ihm vor wie eine nicht enden wollende Zielgerade. Obwohl er erleichtert war, fühlte er sich gleichzeitig auch seltsam leer.

Aber kein Vergleich zu Bachmann, der apathisch wirkte und offenbar nicht ansprechbar war. Augenblicklich musste Morten an den Moment denken, als er Hauke Kröger in dessen Haus angetroffen hatte. Jetzt, wo er wusste, dass sie Zwillingsbrüder waren, erkannte er immer mehr Ähnlichkeiten.

Von dem wütenden Feuerwehrmann, mit dem er gestern Morgen vor dem Rathaus in Grömitz gesprochen hatte, war nichts mehr übrig. Nicht einmal der Name stimmte noch. Nein, Bachmann hatte er gar nicht gekannt, korrigierte Morten sich gedanklich. Er hatte lediglich geglaubt, Frank Westphal zu kennen. Eine Person, die gar nicht existierte.

»Wo ist Julia Stöver?« Birger trat neben Morten und baute sich direkt vor Bachmann auf, der noch immer von den beiden MEK-Beamten im Griff gehalten wurde. »Los, reden Sie schon!«

Bachmann schwieg. Und nichts deutete darauf hin, dass Birgers Worte ihn überhaupt erreichen.

»Dann führt ihn ab«, sagte der und wandte sich ab. Nicht ohne dem wie erstarrt wirkenden Morten einen fragenden Blick zuzuwerfen. Dann ging er hastig auf die Tür ganz am Ende des Flurs zu.

»Frau Stöver, sind Sie da drin? Die Polizei ist hier, die Situation ist sicher. Wir haben Ihren …« Birger stockte kurz und korrigierte sich. »Sie können rauskommen.«

»In Ordnung.« Ihre Stimme klang überraschend klar und deutlich.

Im nächsten Moment wurde das Schloss entriegelt, und die Tür öffnete sich. Vor ihm stand die Ministerin und sah ihn aus wässrigen, aber kämpferischen Augen an.

»Wie geht es Barbara?«, fragte sie und trat ein Stück vor auf den Flur der oberen Etage ihres Hauses.

»Sie ist verletzt, aber nicht schwer. Sie hat es allein aus dem Haus geschafft.«

Ein kurzes Lächeln huschte über Julia Stövers Gesicht. Doch im nächsten Moment verdunkelte sich ihr Blick. Laute Stimmen drangen erneut durch den Flur. Birger drehte sich um und sah gerade noch, wie Bachmann an ihm vorbei in Richtung seiner Mutter rannte. Er musste sich losgerissen haben.

In ein paar Metern Entfernung standen die beiden MEK-Beamten und zielten mit ihren Pistolen in Bachmanns Richtung. Aber Birger befand sich direkt in der Schusslinie.

Er wandte sich erneut um und sah gerade noch, wie Bachmann einen Plastikbeutel hervorzog und ihn Julia Stöver über den Kopf stülpte. Dann zog er kräftig an der Kordel, die daran befestigt war.

Birger hatte keine Chance, darüber nachzudenken, ob und wie er eingreifen sollte, um Julia Stövers Leben zu retten. Plötzlich peitschte ein Schuss durch das Haus und traf Bachmann mitten auf der Stirn. Er sank sofort in sich zusammen und blieb regungslos liegen. Birger hatte keinen Zweifel daran, dass er tot war.

Um ihn herum brach Chaos aus. Die MEK-Beamten stürmten an ihm vorbei und kümmerten sich um Julia Stöver, die sich bereits selbst von der Plastiktüte befreit hatte. Der Kollege der Kieler Kripo rief aufgeregt in sein Funkgerät und forderte Rettungskräfte und weiteres Personal an, während er sich über den Körper von Jens Bachmann beugte.

Jemand fehlte.

Birger fuhr langsam herum. Da stand er ein paar Meter entfernt. Morten. Ganz allein. Nur mit seiner Dienstwaffe in der Hand, mit der er gerade einen Menschen getötet hatte.