Glögg und Muzen

Drei Wochen später

Die Schneeflocken fielen so langsam vom Himmel, dass es ihn an einen kitschigen Weihnachtsfilm erinnerte. Eigentlich hätte Morten bei diesem Anblick ein Gefühl der Zufriedenheit und Ausgeglichenheit erwartet. Aber davon war er weit entfernt. Da war nur noch diese seltsame innere Unruhe, die an dem Tag, als er Bachmann erschossen hatte, eingesetzt hatte. Seitdem konnte er nichts dagegen tun.

Sie hatten ihn nach Hause geschickt. Er solle sich erst einmal ausruhen, hatte Birger gesagt. Und dann müsse er das Gespräch mit der Polizeipsychologin suchen.

Hatte er getan. Sogar schon zweimal. Die Frau hatte ihm jede Menge Fragen gestellt. Aber im Kern eigentlich immer dieselben beiden. Nämlich was er in dem Moment, als er abdrückte, empfunden habe. Und wie er sich jetzt, mit etwas Abstand, fühle.

Der Augenblick, in dem er den tödlichen Schuss abgegeben hatte, war ihm noch immer erstaunlich präsent. Die Stunden danach waren dagegen ein einziger verschwommener Brei in seinem Kopf. Er erinnerte sich daran, dass er sich kurz zuvor sehr erschöpft gefühlt hatte. Als sie Bachmann festgenommen hatten, war die ganze Last der Ermittlungen in den Tagen zuvor von ihm abgefallen. Bis sich Jens Bachmann plötzlich aus dem Griff der MEK-Beamten losgerissen hatte. Empfunden hatte Morten gar nichts, als er auf Bachmann zielte. Er hatte diese Sache einzig und allein beenden und gleichzeitig das Leben von Julia Stöver retten wollen.

Die andere Frage war sogar noch einfacher zu beantworten. Morten fühlte sich leer, komplett ausgebrannt. Er konnte nicht lachen, aber auch nicht weinen. Die Erkenntnis, dass er das Leben eines anderen Menschen beendet hatte, setzte ihm viel mehr zu, als er sich jemals vorgestellt hatte.

Es gab keine Blaupause für diesen Moment. Wie sollte er sich schon fühlen? Das einzige Bild, das er permanent vor Augen hatte, war dieses Einschussloch auf der Stirn von Jens Bachmann. Immer wieder lief die Szenerie vor seinem inneren Auge ab. Wie die Kugel in Zeitlupe aus seiner Waffe flog und die Schädeldecke von Bachmann traf.

Morten zweifelte daran, dass er das Erlebte je wieder aus seinem Kopf bekommen würde. Vor nicht allzu langer Zeit hatte er einen Krimi gelesen, in dem ein Kommissar einen Serienmörder erschoss. Irgendwann entwickelte diese Person dann eine Art Psychose und wurde süchtig danach, weitere Menschen zu töten. Eine merkwürdige und ziemlich kranke Vorstellung, dachte Morten. Nichts in ihm wünschte sich, diesen Augenblick, in dem er getötet hatte, noch einmal zu erleben.

Es bestand kein Zweifel daran, dass dieser Moment etwas mit ihm gemacht hatte.

Bereits in ein paar Tagen würde er in den Dienst zurückkehren, so hatte er es Ida-Marie versprochen, es gehe ihm schon viel besser. Die Termine mit der Psychologin hätten ihm sehr geholfen. Und überhaupt, er sei schließlich nicht der erste Polizist, der damit leben musste, im Dienst einen Menschen erschossen zu haben. Er würde sich einfach nichts anmerken lassen, wenn er wieder an seinem Schreibtisch saß.

Es gab auch immer wieder Tage, an denen er an Elif denken musste. An das, was für ein paar Stunden zwischen ihnen gewesen war. Und an die schmerzhafte Enttäuschung am nächsten Morgen. Aber nicht einmal sie schaffte es, ihn aus seiner Emotionslosigkeit herauszuholen. Wenn er wenigstens wieder diese Wut auf sie spüren könnte, dachte er manchmal. Aber die Gedanken an sie lösten einfach nichts in ihm aus.

Morten stand auf und trat an sein Küchenfenster. Der Schnee fiel immer dichter, während es langsam dunkel wurde. Auf dem Kopfsteinpflaster der Engelsgrube hatte sich bereits eine feine weiße Schicht gebildet. Trotzdem strömten mehr Menschen als an anderen Sonntagen die Rippenstraße hoch in Richtung Altstadtmitte. Was ihn nicht verwunderte, war es doch das erste Weihnachtsmarktwochenende in diesem Winter.

In den Fensterscheiben der gegenüberliegenden Häuser spiegelten sich wechselnde Farblichter. Einen Moment lang sah Morten vor seinem inneren Auge Einsatzfahrzeuge der Polizei die Straße hinaufrasen. Bis er verstand, dass die Lichter vom Koberg, dem bekannten Platz vor dem Heiligen-Geist-Hospital, stammten. Das große Riesenrad, das jedes Jahr in der Vorweihnachtszeit hier stand, strahlte über alle Dächer hinweg.

Wann hatte er zuletzt in einer der Gondeln gesessen und seinen Blick über die Stadt mit ihren sieben Türmen schweifen lassen? Das musste bestimmt ziemlich genau zehn Jahre zurückliegen. Ein kalter Winterabend mit Lea. Sie hatten Glögg getrunken, gebrannte Mandeln und Muzen gegessen und waren am Ende in der »Sternschnuppe« gelandet, wo sie Bier und Schnaps bis weit in die Nacht getrunken hatten.

Sie war damals seine beste Freundin gewesen. Zwei Jahre lang hatten sie jede freie Minute miteinander verbracht, ohne dass es zu mehr zwischen ihnen gekommen war. Sie war wie ein Kumpel für ihn gewesen. Und ihr war es wohl nicht anders gegangen, bis sie sich eines Tages in jemanden verliebt hatte. Nach und nach war der Kontakt weniger geworden, und irgendwann hatten sie sich ganz aus den Augen verloren. Aber ihre Telefonnummer, wenn sie denn noch aktuell war, besaß er noch.

Er brauchte nicht lange, um sie in der Kontaktliste auf seinem Handy zu finden, und rief sie ohne zu zögern an. Nach dem dritten Klingeln meldete sich Lea.

»Morten?«, fragte sie perplex.

»Kannst du dich noch an diesen Abend auf dem Weihnachtsmarkt vor zehn Jahren erinnern?«, kam er direkt zur Sache.

»Ich weiß ehrlich gesagt nicht …« Sie stockte. »Dein Anruf kommt ziemlich überraschend.«

»Erinnerst du dich noch?«, fragte er unbeeindruckt weiter.

»Ja, wir sind in der ›Sternschnuppe‹ übel abgestürzt.« Lea klang, als würde sie leise lachen.

»Genau, und wo fing der Abend an?«

»Im Riesenrad?«

»Richtig. Und genau das machen wir heute Abend wieder. Also natürlich nur, wenn du Zeit und Lust hast.«

»Ich hätte wirklich Lust, mal wieder mit dir auf die alten Zeiten anzustoßen«, antwortete Lea. »Aber meine Kleine ist gerade im Tragetuch eingeschlafen. Ich befürchte, heute wird das leider nichts.«

»Deine Kleine?« Morten spürte, dass seine Stimme plötzlich so leer klang, wie er sich fühlte.

»Malia ist erst drei Monate alt.«

»Das wusste ich nicht.«

»Woher auch?«

»Glückwunsch«, sagte Morten beinahe emotionslos.

»Danke. Schön, mal wieder deine Stimme zu hören.«

»Ich will dich jetzt aber auch nicht länger stören. Vielleicht passt es ja ein anderes Mal besser.«

»Ja, ich kann mich bei dir melden, gar kein Problem«, sagte Lea. »Dann gehen wir mal ganz entspannt einen Kaffee trinken.«

»Ich habe zwar viel um die Ohren, aber das bekommen wir bestimmt irgendwie hin. Dann dir noch einen schönen Abend.« Morten legte auf, ohne abzuwarten, ob sie noch etwas zur Verabschiedung sagen wollte.

Was für eine Schnapsidee, fuhr es ihm durch den Kopf. Was sollte Lea bloß von ihm denken? Dass er sie nach so vielen Jahren einfach anrief und so tat, als wären sie noch immer Anfang zwanzig. Als wäre die Zeit nicht weitergelaufen und sie könnten spontan ausgehen.

Er wandte sich vom Fenster ab und ließ sich auf seine Couch fallen. Lustlos schaltete er den Fernseher ein und zappte sich eine Weile durch die Sender. Es gab nichts, an dem er länger als ein paar Sekunden hängen blieb.

Morten spürte, dass er müde wurde. Er schlief seit der Sache unregelmäßig, tagsüber sogar besser als nachts. Nach einer Weile fielen ihm schließlich die Augen zu. Ein leichter Schlaf, in den sich Bilder einer Fahrt mit dem Riesenrad im dichten Schneegestöber mischten. Er verlor das Zeitgefühl, die Bilder wechselten. Aus dem Schnee wurden dunkle Wolken und ein heftiger Sturm. Eine Ermittlung, die alles von ihm abforderte. Tote Menschen mit Plastikbeuteln über dem Kopf. Ein langer Flur, ein großes Durcheinander. Ein Schuss.

Plötzlich fuhr er hoch und atmete hektisch ein und aus. Da war es wieder, das Einschussloch auf der Stirn. Aber diesmal war es nicht Bachmanns Stirn, sondern die von Elif.