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Mistvieh und Myrsky
Mit einem Schweißfilm auf der Haut wache ich auf. Die Hitze, die trotz heruntergelassener Rollläden in meinem Zimmer herrscht, ist drückend und bereitet mir Kopfschmerzen. Schläfrig steige ich in Boxershorts aus meinem Bett und verlasse mein Zimmer. Im hellen Flur stolpere ich über Caps Kater, der sich absichtlich vor meiner Türe platziert hat.
»Fuck!« Ich kann mich gerade noch so abfangen. Ein schrilles Miauen ertönt, das zusammen mit der Helligkeit meine Sinne für einen Moment betäubt. So lange, dass es Sir Theobald schafft, meinem Fußgelenk mit seinen gefährlichen Samtpfoten ein paar tiefe Kratzer zu verpassen.
»Verdammtes Mistvieh!«, schreie ich und zucke zurück.
»Miau. Miauu.« Seine gelben Augen funkeln amüsiert, während er sich genüsslich die Tatwaffe leckt. Rote Tropfen laufen über meine brennende Haut.
»Danke dafür«, erwidere ich bissig. Sir Theobald lässt es sich nicht nehmen, mir ein weiteres Miau zu entgegen, bevor er sich mit hocherhobenem Schwanz auf den Weg zu Caps Zimmer macht. Kopfschüttelnd laufe ich die Stufen runter, um zu frühstücken. Wahrscheinlich würde es auch eine Pizza tun, schließlich ist es schon weit nach zwölf. Nachdem Tilo mir gestern Abend abgesagt hat, habe ich die ganze Nacht mit Myrsky: Unite verbracht. Es wurde schon hell draußen, als ich es endlich ins Bett geschafft habe. Aber dadurch, dass ich in den Ferien nichts geplant habe, ist es sowieso egal, wann ich schlafen gehe.
Beim Betreten des Esszimmers halte ich überrascht inne. Einzelne Möbelstücke sind zur Seite geschoben, Bierkästen stehen überall verteilt und auf unserem Esstisch befinden sich diverse Schnapsflaschen. Als würde das nicht schon reichen, höre ich Stimmen aus dem Wohnzimmer, die lauter werden. Wunderbar. Ich stehe auf Überraschungen. Genauso wie auf fremde Menschen, wenn ich ungewaschen und nur in Boxershorts unterwegs bin.
Ich drehe mich zurück, um ungesehen in die Küche zu entkommen. Aber da stehen sie schon vor mir. Zwei Kerle mit Bier in der Hand, wovon ich einen als Ruven, Caps besten Freund, identifiziere. Letzterer kommt wenige Sekunden später auch um die Ecke. Die überraschten Blicke seiner Freunde lassen mich leicht erröten und unbeholfen die Hand zum Gruß heben.
»Hey«, schiebe ich noch hinterher, bevor meine Aufmerksamkeit auf Cap fällt. Ich frage mich, wie er es schafft, so viel Abneigung auszustrahlen. Was ich ihm getan haben muss, dass er mich so wenig mag? Er sagt kein Wort. Muss er auch nicht. Seinen abschätzigen Blick kann ich mühelos deuten, schließlich kenne ich keinen anderen. Und trotzdem scheint ein Teil von mir extrem masochistisch veranlagt zu sein. Der Teil, der meine Aufmerksamkeit erst bei den tiefblauen Augen verharren und dann weiter nach unten wandern lässt. Der Part von mir, der sich fragt, wie Cap wohl ohne Shirt aussieht.
Er kommt mir einen Schritt näher und mein verräterisches Herz überschlägt sich fast.
»Ich will dich heute Abend hier nicht sehen.« Sein Tonfall ist hart. Und offenbar erwartet er keine Antwort darauf, denn er verlässt einfach den Raum und folgt seinen Freunden nach draußen.
Das Blut in meinem Körper kocht.
Vor Scham.
Vor Wut.
Vor Verlangen.
Und für Letzteres werde ich mich ewig hassen. Obwohl ich Cornflakes liebe, schmecken sie heute fade und wie Pappe. Nachdem ich die Mahlzeit runtergewürgt habe, verlasse ich die Küche, ohne noch einmal einem der Drei zu begegnen.
Unter der Dusche brennt Sir Theobalds Verletzung wie Feuer. Ich hätte besser auf seine Warnung gehört und wäre zurück in mein Zimmer, anstatt nach unten gegangen.
Nach dem Abtrocknen und Anziehen schmeiße ich meinen PC an. Ich öffne den Team-Chat und streife mir zeitgleich mein Headset über. Meine Maus wandert durch die Dateien in unserem gemeinsamen Ordner. Hier lagern wir To-do Listen, Videoideen, Designs und Uploadpläne, die wir für unsere Gaming-Kanäle brauchen.
»Hey, Alter. Ich komme immer noch nicht darauf klar, dass wir Kauhu mit der Truppe besiegt haben.«
»Und das obwohl Sandura gefehlt hat«, erwidere ich und klicke mich durch das neue Formular. TJ ist einer des FuckFridays , wie Sandura unseren Video-Kanal vor drei Jahren getauft hat. Schon vor Monaten haben wir besprochen den Namen endlich zu ändern, weil er nichts mehr mit dem Content, den wir produzieren zu tun hat. Genauso wenig, wie mit den dreizehnjährigen Versionen von uns, die alle Games noch zum Spaß gespielt haben. Damals wollten wir virtuelle Welten entdecken, Endgegner killen und andere Gilden herausfordern. Heute geht’s um die meisten Video-Klicks und die besten Skills. Darum, so oft wie möglich zu trainieren. Würden nicht sechs Wochen Ferien vor mir liegen, würde ich mich wahrscheinlich fragen, ob es den ganzen Streaming- und Upload-Stress überhaupt wert ist, aber es ist nicht so, als hätte ich was Besseres zu tun.
»Hast du gesehen, dass Sandura heute Morgen noch einen Entwurf hochgeladen hat?«, fragt TJ, der eigentlich Tim Julian heißt und mit mir zur Grundschule gegangen ist. Danach ist seine Familie aus unserem Ort weggezogen, den auch wir letztes Jahr verlassen haben, um zu den Sanders zu ziehen.
»Ich gucke es mir gerade an.« Angelehnt an einen der größten Endgegner in Myrsky haben wir uns für den Namen Ashes of Auringon entschieden.
Sandura hat in den letzten Wochen an einem Wallpaper gearbeitet, dass uns alle als Draugar – Untote - zeigt. Dabei hat sie sich an dem realistisch, düsteren Stil des Spiels orientiert. Ich hatte keine Ahnung, dass sie so gut zeichnen kann. Wir spielen seit Jahren zusammen, mal in unserer Dreier-Konstellation, mal in größeren Gilden, denen wir uns angeschlossen haben. Doch egal wie viele Stunden wir am Tag miteinander verbringen, es gibt noch genug Dinge, die wir anscheinend nicht voneinander wissen.
»D?«, erklingt TJs Stimme übers Headset und reißt mich aus meinen Gedanken.
»Ja?«
»Wenn es dir auch gefällt, dann könnten wir dem Kanal endlich einen neuen Look verpassen, bevor wir die 100.000 Abonnenten erreichen.«
»Sieht super krass aus«, sage ich und betrachte die einzelnen Details und Schatten im Gesicht. Als sie uns vor zwei Wochen einen ersten Entwurf der Umrisse geschickt hat, war ich schon von den Socken. Aber wie sie selbst meine Sommersprossen oder TJs Narbe in der Augenbraue in die Illustration eingearbeitet hat, ist mega cool. Zwei Stunden später haben wir alles geändert, das Ankündigungsvideo dazu hochgeladen und unzählige Kommentare beantwortet.
»Hast du noch Zeit zu trainieren oder musst du noch Streams hochladen?«, kommt es von TJ, der bei uns in der Gruppe der mit den Visionen ist. Den Träumen, dass wir irgendwann von unserem Hobby leben können.
Wir haben uns vor Jahren in der Gilde eines anderen Online-Rollenspiels kennengelernt und haben danach noch ein paar Spiele gemeinsam ausgetestet, bis wir schlussendlich bei Myrsky hängen geblieben sind. Unser Glück, denn seit einem Jahr sind die Spieleentwickler dabei, eine eigene E-Sport-Liga für Myrsky: Unite zu gründen.
Deswegen hat TJ für uns zusätzlich zu Streaming- und Upload-Plänen, auch noch Trainingspläne angelegt.
Wenn ich Sanduras und seine Streams schneide und hochlade, frage ich mich manchmal, ob die beiden wirklich noch so viel Spaß am Game haben, wie in den Videos zusehen ist. Aber ich traue mich nicht nachzufragen.
»D, wo bist du heute mit deinen Gedanken?« Bei den nächsten Wochen, von denen ich nicht weiß, was ich erwarten soll.
»Sorry. Wir können gerne noch was spielen
Jedes Mal, wenn ich vorher zweifele, packt mich spätestens bei der Eröffnungsmelodie die Lust am Spiel. So, als wäre da immer noch der Teil von mir, der gerne in andere Welten abtaucht und zumindest auf einem Gebiet wirklich gut ist.
Natürlich bin ich immer noch ich, aber die selbstbewusstere Variante, die ich gerne auch mal im richtigen Leben wäre.
Die Startmaske öffnet sich und meine Wahl fällt schnell auf meinen Fossegrim Caprian.
Myrsky ist ein von der nordischen Mythologie angehauchtes Spiel, das in den ersten Teilen vor allem durch die Kämpfe gegen andere Spieler oder den Computer überzeugt hat. Aber was Sandura, TJ und mich an dem Spiel gefesselt hat, sind die einzelnen Erzählstränge und der realistisch, düstere Grafikstil.
Zwei Stunden später hängen wir in einem Event fest und ich weiß, dass es nicht nur an den zwei anderen liegt, mit denen wir noch nie zusammengespielt haben, sondern vor allem an meinem mäßigen Reaktionsvermögen.
»Fuck, D, du hast noch nie die Waffen so langsam gewechselt wie heute. Vielleicht … Shit.« Der Rest von TJ’s Flüchen geht in roten und blauen Blitzen und seiner schwindenden Lebensenergie unter.
Mit einer schnellen Tastenkombination, mit der wohl niemand mehr von mir rechnet, zücke ich den Dreizack, springe in die Luft und versenke die Waffe im Schädel des Wolfs. Türkis-grüne Blitze erscheinen auf dem Bildschirm, bevor meine Sicht kurzzeitig rot wird.
»Was ist eigentlich los mit dir? Ich habe das Gefühl, dass du seit Monaten nicht mehr richtig bei der Sache bist«, kommt es von TJ als wir uns mit unseren Chars wieder auf dem Weg zurück zur Stadt machen.
»Nichts«, erwidere ich. Was soll ich auch sagen? Wahrscheinlich will TJ eigentlich wissen, warum seit einiger Zeit jeder meiner Chars mit den Buchstaben C A P beginnt. Keine Ahnung, ob es der Masochist oder der Sadist in mir ist. Der, der meinen Char siegen, oder der, der ihn versagen sehen will. Aber egal, was es ist, alle meine Avatare waren seither die erfolgreichsten.
Trotzdem reden TJ und ich nicht darüber. Genauso wenig wie darüber, dass TJ keinen Videochat mehr machen will, seit seine Mutter wieder einen neuen Freund hat. Oder darüber, dass Sandura mehr Zeit in Myrsky verbringt als in der Schule, obwohl sie gerade mal fünfzehn ist. Also verschweigen wir diese Dinge voreinander. Die, die uns unangenehm sind. Die, für die wir uns schämen. Aber wie soll ich jemandem erzählen, dass ich auf Jungs stehe, wenn ich es nicht mit Sicherheit weiß? Warum soll ich TJ danach fragen, ob er sich von seinem Stiefvater schlagen lässt, damit er sich nicht an seiner Mama vergeht, wenn ich ihm damit nicht helfen kann?
Warum sollten wir uns gegenseitig damit konfrontieren, wenn wir alle in dem kleinen Kosmos, den wir uns erschaffen haben, am glücklichsten sind?
»Ich bin raus für heute. Muss noch die Synchros und den Upload machen.«
»Okay. Vielleicht gehe ich gleich noch live. Wobei es ohne Sandura bestimmt wieder langweilig wird.« Wir lachen beide. Sandura zieht mit ihrer Performance oft die meisten Zuschauer an und das liegt vor allem an ihrem Können und nicht an den ganzen Flüchen, die ihre Lippen beim Gamen verlassen. Und daran, dass sie ein Mädchen ist.
»Alles klar«, erwidere ich und verabschiede mich von TJ. Ich bin genau drei Videos im Rückstand. Vier, wenn ich das zähle, was TJ gleich aufnimmt. Wobei wir nicht all unsere Streams auf der Video-Plattform hochladen. Ich greife nach meinem Mikrofon, platziere es genau vor mir und öffne die Notizen zum letzten Stream, den ich kürzen und synchronisieren muss.
Durch den Bass, der vom Wohnzimmer zu hören ist, scheitert auch mein vierter Versuch, eine ordentliche Tonspur aufzunehmen und ich wechsele frustriert zurück zum Spiel. Eigentlich würde es mich schon interessieren, wie Caps Freunde sind. Wie er sich verhält, wenn weder meine Mum noch ich in der Nähe sind. Was er noch so an Hobbys hat, außer Motorrad fahren, sich in seinem Zimmer verschanzen oder mit Hass und Verachtung um sich zu werfen.
Aber ich gehe lieber nicht nach unten.
Tilo (18:22): Wenn ich dir erzählen würde, dass sie sogar die Toilettenpapier-Türme in einer gleichschenkligen Pyramide aufbauen, würdest du mir sowieso nicht glauben.
Dacre (20:43): Ich will Fotos, sonst glaube ich dir nichts.
Tilo (20:55): Würde ich gern, aber Handys sind verboten. Ich habe mein altes abgegeben… Du kannst dir nicht vorstellen, wie ätzend es hier ist. Und ich bin gerade mal fünf Stunden da.
Dacre (20:56): Du schaffst das! Denk einfach daran, was wir die letzten zwei Wochen alles machen können.
Tilo (21:20): Ich muss jetzt los. Gibt ‚ne Nachtwanderung. Nachtwanderung… so, als wären wir zwölf.