3
Siege und Sonnenuntergang
Meine Finger an der Maus zittern, was nicht daran liegt, dass ich mit meinem Char beinahe im Kampf verloren hätte. Mit letzten Kräften und einer ziemlich genialen Angriffscombo habe ich den anderen Spieler fertig gemacht. Von dem Gras und den Pflanzen auf der virtuellen Lichtung, wo die Kampfarena angesiedelt ist, ist kaum noch etwas zu sehen.
Trotzdem zwingt mich mein knurrender Magen dazu, das Spiel zu beenden. Erst als ich mein Headset vom Kopf nehme, dringt die Musik wieder zu mir durch. Mist. Eigentlich habe ich keine Lust, Cap zu begegnen, aber ich kann auch nicht bis morgen warten mit dem Essen. Wir haben elf. Vielleicht ist er schon betrunken und findet es nicht so schlimm, mich zu sehen. Ich reiße die Fenster auf und merke erst jetzt, wie stickig es in dem kleinen Raum eigentlich ist. Der Sauerstoffmangel hätte mich wahrscheinlich vorm Hungertod retten können. Bevor ich mein Zimmer verlasse, schnuppere ich noch kurz an dem schwarzen, verwaschenen Myrsky -Shirt, das ich mir schon vor Stunden angezogen habe. Sollte noch gehen .
Weiter als zwei Schritte komme ich aber nicht, weil ich direkt hinter meiner Tür in jemanden reinlaufe.
»Huch«, sage ich, mache einen Schritt zurück und stolpere prompt. Ich kann mich gerade noch am Türrahmen festhalten, bevor es noch peinlicher geworden wäre.
»Ich habe mich schon die ganze Zeit gefragt, was Cap hinter dieser Tür versteckt. Du musst dann wohl sein ominöser Stiefbruder sein.« Ich hebe den Kopf und streiche mir mit der Hand durch die Haare. Vielleicht sollte ich zurückgehen.
»Ich bin Camille. Und das … das ist Maxi.« Erst jetzt fällt meine Aufmerksamkeit auf den Kerl, der die Dunkelhaarige um ein paar Zentimeter überragt.
Breite Schultern. Verwuschelte braune Strähnen. Grübchen.
Selbstverständlich ist er auch attraktiv. Sind ja auch Caps Freunde. Camilles dunkle Augen gleiten kurz zu meinen roten Haaren, die wahrscheinlich unordentlich abstehen.
»Wie heißt du?« Auf ihren dunkelgeschminkten Lippen liegt ein breites Lächeln.
»Dacre«, erwidere ich mit zitternder Stimme.
»Wolltest du nicht zur Party kommen?« Ich unterdrücke mein Seufzen und schüttele nur den Kopf.
»Ich wollte mir nur schnell was zu essen machen.«
»Ach was, wir haben Samstagabend. Hast du jetzt nicht auch Semesterferien?« Ich zucke mit den Schultern und lasse den Blick durch den Flur gleiten. Dann spüre ich ihre Finger an meinem Handgelenk, bevor sie mich mit sich zieht.
»Du kommst jetzt mit uns.« Ein flaues Gefühl breitet sich in meinem Bauch aus. Warum will sie mich dabei haben?
Cap . Ich habe keine Lust auf weitere Auseinandersetzungen. Doch als sie mich Richtung Stufen zieht, habe ich keine Wahl und folge ihr. Ich esse nur was und gehe dann wieder zurück .
»Babe, könntest du uns schon mal Getränke besorgen, während ich mit Dacre in die Küche gehe?« Camille lässt kein einziges Mal meinen Arm los und ihren Freund scheint das nicht zu stören. Beim Durchqueren des Esszimmers liegen die Blicke der Umstehenden auf uns. Allerdings gelten die meisten davon Camille. Leichtfüßig bewegt sie sich im Takt der Musik Richtung Küche. So, als würde sie hier wohnen und nicht ich. Bei jedem Schritt tanzen ihre Locken über ihre Schulter und verlieren sich beinahe in dem dunklen Kleid, das sie trägt. Sie schaut zurück zu mir und Hitze steigt in meine Wangen. Als sie mir wieder ein Lächeln schenkt, gesellt sich ein ungutes Gefühl zu dem Knurren in meinem Magen. Warum sollte jemand wie sie nett zu mir sein? Doch bevor ich umdrehen und zurück nach oben flüchten kann, hat sie mir bereits einen Teller in die Hand gedrückt.
»Ich kann dir die Thunfisch-Pizza empfehlen, auch wenn sie jetzt bestimmt kalt ist.«
Meine Finger zittern, als ich mir ein Stück auf den Teller lege, während sie weiterhin neben mir steht.
»Möchtest du nichts?«, frage ich leise, als ich meine Stimme wiedergefunden haben.
»Ich habe schon ausreichend gefuttert«, antwortet sie und streicht mit den Händen über ihren flachen Bauch. Keine Ahnung, was ich darauf erwidern soll. Muss ich aber auch nicht, weil sie mich einfach mit zu ihrem Freund an den Stehtisch zieht.
Den letzten Bissen spüle ich mit meinem Bier runter und versuche, das unangenehme Gefühl in meinem Magen zu ignorieren.
Cap betritt den Raum. Mit Begleitung. Und ich frage mich, ob ich der einzige bin, dessen Aufmerksamkeit bei den Beiden liegt. Unsere Blicke begegnen sich. Aber nicht so wie im Film, denn sein eisiger Ausdruck weckt den Wunsch in mir, wieder zurück in mein Zimmer zu fliehen. Ich versuche, mir nichts anmerken zulassen und drehe mich wieder zu den beiden.
»Woher kennt ihr Cap eigentlich?«, frage ich Camille, die sich gerade im Takt eines Rocksongs hin und her bewegt.
»Maxi ist mit Cap in einer Stufe gewesen. Maxi und ich kennen uns aus dem Studium. Ich habe zwei Semester Medizin studiert und der süße Kerl hier, war mein Tutor.« Sein raues Lachen lässt mich erschaudern. Dann schenkt er Camille einen feurigen Blick. »Viel gelernt hast du von mir definitiv nicht.«
Prickelnde Hitze steigt in meine Wangen. Ich wende mich von den beiden ab, nur um auf eisig, blaue Augen auf der anderen Seite des Raums zu treffen.
Seine Hand liegt immer noch an der Taille seiner blonden Begleitung. Warum kann er sich nicht einfach darüber freuen, jemandem nahe zu sein und mich in Ruhe lassen? Ich sollte ihm egal sein. Genauso wie sein ablehnender Ausdruck mich kalt lassen sollte.
»Wieso haben wir dich noch nicht kennengelernt? Letzten Sommer hat Cap hier auch die ein oder andere Party gefeiert?«, reißt mich Camille aus den Gedanken.
»Ich war bei meinen Großeltern in England.«
Ich schlucke hart. Sein abweisender Gesichtsausdruck raubt mir die Luft für die nächste Frage. Er beugt sich nach unten, um der Frau etwas ins Ohr zu flüstern. Seine Aufmerksamkeit liegt dabei weiterhin auf mir. Ich wünschte, es würde nicht so kribbeln. Nur wenige Sekunden später wird es von dem Druck in meinem Brustkorb im Keim erstickt, als ich bemerke, dass er auf mich zukommt.
»Dacre, hatten wir nicht was besprochen?« Seine Stimme klingt beinahe neutral. So neutral wie seine Abneigung mir gegenüber.
»Ich wohne auch hier.« Ich gebe mir Mühe, ihm nicht zu zeigen, wie ich mich fühle. Jedes Wort trieft nur so vor Trotz. Jede weitere Sekunde, die vergeht, verstärkt das Zittern meiner Finger.
»Danke für die Erinnerung. Würdest du dich jetzt verpissen?« Enttäuschung und Bitterkeit steigen in mir auf. Ich will etwas entgegnen, aber alles, was meinen Mund verlässt, ist heiße Luft. Das entlockt ihm ein überlegenes Lächeln. Mit verschränkten Armen lehnt er sich noch ein Stück näher. So weit, dass ich die verschiedenen Facetten seiner ozeanblauen Augen erkennen kann. Atemlos versinke ich in ihnen. So tief, dass ich befürchte, es ohne Hilfe nicht mehr hier raus zu schaffen.
Dass die ganzen widersprüchlichen Gefühle in Wellen über meinem Körper einbrechen. Ich wünschte, sie würden mich wegspülen. So weit, dass ich ihm nicht mehr jeden Tag unter die Augen treten muss. Dass sein Geruch mich nicht mehr in meinen Träumen verfolgt.
Ich schließe die Lider. Atme tief ein, um beim Ausatmen resigniert den Raum zu verlassen. Doch bevor er den Moment seiner Überlegenheit vollends auskosten kann, greifen zarte Finger nach meinem Arm.
»Dacre ist heute Abend meine Begleitung. Du darfst also jetzt wieder zu deinem … Date gehen.« Camilles Blick unterstreicht ihren entschlossenen Tonfall. Warum macht sie das? Die Blicke der beiden treffen kühl aufeinander, bis sie sich zu mir dreht und mir zulächelt. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
»Komm mit, wir gehen mal gucken, wo der Rest der Bande steckt.« Sie greift nach meiner Hand und zieht mich durch mein Zuhause. Wobei es sich gerade ein bisschen mehr als sonst danach anfühlt. Nach Zuhause . Und dem Gefühl willkommen zu sein.
Auf dem Weg zur Terrassentür reicht sie mir einen Becher, in dem sich ein rotes Getränk befindet. Es schmeckt nach Limo, mit einem ungewohnten Nachgeschmack. Ich frage nicht nach, was es ist, sondern folge ihr wortlos.
Irgendwer hat das Vordach unserer Terrasse mit Lichterketten geschmückt, die sich glitzernd auf der Tischplatte spiegeln. Der Geruch nach feuchtem Gras, Sommernacht und Alkohol liegt in der Luft. Aus einer kleinen Box auf dem Boden kommen Gitarrenklänge eines bekannten Sommerlieds. Erst auf den zweiten Blick erkenne ich die vier Personen, die Becher auf dem Tisch verteilen und sich dann an die Kopfenden stellen.
»Leute, das ist Dacre«, stellt Camille mich vor. Augenblicklich verfliegt das warme Gefühl und weicht einem aufgeregten Flattern, obwohl ich Maxi und Ruven schon kenne.
Ruven ist als Caps bester Freund schon das ein oder andere Mal bei uns gewesen. Aber auch diese Aufeinandertreffen kann ich an einer Hand abzählen. So, als würde Cap nicht wollen, dass wir seine Freunde kennenlernen. Dass wir mehr über ihn erfahren.
Manchmal frage ich mich, warum Cap sich so verhält, als würde irgendwas passieren, wenn er zu viel von seinem Leben preisgibt. Warum er mir keine meiner Fragen beantwortet und echte Unterhaltungen immer meidet. Traurigerweise benimmt er sich nicht nur mir gegenüber so, sondern auch bei Mum und Robert. Anfangs dachte ich noch, sein reserviertes Verhalten würde sich nach ein paar Monaten legen. Dann, wenn er sich daran gewöhnt hat, dass wir bei ihnen wohnen. Aber er ist kalt und distanziert geblieben.
»Dacre?« Camilles Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Meine Wangen werden wieder warm. Ich ignoriere den Drang, auf meine Füße zu schauen.
»Ich habe dich gefragt, ob du vielleicht an meiner Stelle gegen die beiden antreten willst?« Das blonde Mädchen, das bei den Jungs am Tisch steht, schenkt mir ein entwaffnendes Lächeln.
»Ich bin übrigens Sara«, sagt sie, bevor sie auf mich zukommt und mich umarmt. Dann tritt sie einen Schritt zurück und nickt mit dem Kopf zu Ruven. »Würdest du bitte?«
»Ehm … ich habe keine Ahnung davon«, erwidere ich und lasse die Hände in die Taschen meiner Sportshorts wandern.
»Ruven kann es dir erklären. Du schaffst das schon. Camille und ich feuern euch an.«
»Feminismus ist an dir auch spurlos vorüber gegangen, oder? Wir Frauen sind doch nicht dafür da, die Männer anzufeuern«, kommentiert Camille und stemmt die Hände in ihre Hüften.
»Du kannst mich auch ablösen, wenn du willst. Dann feuern Dacre und ich euch eben an.« Sara zwinkert mir zu, bevor sie sich einen Becher von der Fensterbank nimmt.
»Dass ich dich mal sprachlos erlebe, Cami«, kommt es von Maxi, der sein breites Grinsen kaum verbergen kann.
»Ich wette, du hast deine eigenen Methoden, sie zum Schweigen zu bringen«, sagt Ruven. Daraufhin kassiert er einen bösen Blick von Camille. Maxi wirft einen Tischtennisball in seine Richtung, der allerdings irgendwo im dunklen Garten verschwindet.
»Komm schon, der war gut. Josh?«
Der Kerl mit den dunkelblonden, lockigen Haaren nickt und zeigt einen Daumen nach oben.
»Wärt ihr dann endlich mal so weit, oder wollen wir warten, bis keine Kohlensäure mehr in den Bechern ist?«
Nachdem Ruven mir erklärt hat, was ich zu tun habe, stelle ich mich neben ihn und beobachte, wie er direkt mit dem ersten Tischtennisball trifft. Unsere Freude darüber hält nur solange, bis Maxi und Josh ihrerseits bei uns einen Ball versenken. Nervös nestele ich an meinem Shirt, bevor ich mit klopfendem Herzen nach dem ersten Ball greife.
Was ist, wenn ich nicht treffe? Oder wenn ich soweit daneben werfe, dass ihnen klar wird, wie unsportlich ich bin?
Meine Finger zittern und ich bin so konzentriert, dass die Becher verschwommen wirken. Ich werfe und treffe natürlich nicht. Es ist Josh, der mir den ersten Becher beschert. Zu dem dumpfen Kribbeln in meinem Magen gesellen sich jetzt auch noch Hopfen und Kohlensäure. Ruven sagt nichts. Auch nicht, als ich die nächsten beiden Male daneben werfe. Unauffällig wische ich meine schwitzigen Hände an den Shorts ab, bevor mir ein Treffer von Maxi noch ein Bier einbringt. Wir sind deutlich im Rückstand, aber die Sorgen und Selbstzweifel verschwinden langsam, weil der Alkohol mittlerweile in meinem Kopf angekommen ist. Endlich.
Ich halte den weißen Ball zwischen Zeigefinger und Daumen und bin plötzlich so ruhig wie nie zuvor. Und das, obwohl die Becher vor mir nicht mehr scharf sind.
Ich atme tief ein, werfe beim Ausatmen und treffe. Freude strömt durch meinen Körper und ich schaue zu den beiden Mädels, die sich lauthals mit mir freuen. Keine Ahnung, warum sie so nett zu mir sind, aber es fühlt sich verdammt gut an. Als ich meinen zweiten Wurf auch noch versenke, und zwar im gleichen Becher wie zuvor den Ersten, schlägt mir Ruven auf die Schulter und grinst mich breit an.
»Richtig krass, Alter!«
»Danke.« Wahrscheinlich hat mein Gesicht jetzt denselben Ton angenommen wie meine Haare, aber es ist mir zum ersten Mal einfach egal. Maxi und Josh müssen daraufhin drei Becher trinken und wir haben aufgeholt.
Das Spiel ist verdammt spannend und jeden hat der Ehrgeiz gepackt. Josh fixiert schon seit Minuten unseren letzten Becher und wir warten atemlos darauf, dass er den Matchball nicht versenkt.
»Josh, jetzt wirf endlich«, verlangt Ruven. Davon lässt sich der Blonde, der mit den Ringen an den Fingern und der verstrubbelten Frisur aussieht wie ein Boygroup-Mitglied, nicht aus der Ruhe bringen. Dann geht alles ganz schnell und der Ball kullert nach dem Wurf vom Tisch. Daneben.
»Kann ich vielleicht den Ersten werfen?«, frage ich Ruven und lasse den Ball zwischen den Fingerspitzen kreisen. Die drei haben sich eben darauf geeinigt, dass beim Matchball beide aus dem Team einen Wurf haben. Er nickt zur Antwort und ich stelle mich ans Kopfende. Meine Hände zittern wieder. Aber dadurch, dass sowohl die Lichtreflexe auf dem Tisch als auch der letzte Becher, vor meinen Augen in Bewegung sind, gleicht sich in meinem Kopf alles aus. Ergibt das Sinn? Egal.
Ich werfe den Ball, der in einem perfekten Bogen in dem roten Becher landet. Ich realisiere den Sieg erst, als die Rufe von Sara und Camille zu mir durchdringen. Wenig später reißt mich irgendwer in eine Umarmung. Kokos, Sommer und Bonbons. Bestimmt nicht Ruven.
»Ich wusste, dass du das Spiel gewinnst!« Saras blonde Haare kitzeln mein Gesicht. Sie fühlt sich gut an. Es fühlt sich gut an. Wann wurde ich das letzte Mal umarmt?
»Darauf eine Runde Sonnenuntergang«, sagt sie, löst sich von mir und kommt wenig später mit zwei Bechern wieder.
»Hey, ich bin auch im Siegerteam. Wo bleibt mein Getränk?«, beschwert sich Ruven hinter mir, als Sara gerade mit mir anstoßen will. Sie reicht ihren Becher weiter und holt sich einen neuen. Während ich an dem Getränk schnuppere, sehe ich, wie Camille Ruven einen strengen Blick zuwirft. Sara ist schneller zurück, als mein alkoholvernebeltes Gehirn darüber nachdenken kann. Ich setze den fruchtig riechenden Mix an und genieße den süßen, sahnigen Geschmack auf meiner Zunge, der so gegensätzlich zu dem herben Bier ist.
»Und? Habe ich zu viel versprochen, er schmeckt doch genau nach einem lauen Sommerabend?« Sara blickt erwartungsvoll von Ruven zu mir und wieder zurück.
»Schmeckt gut«, erwidert Ruven und schenkt ihr ein Grinsen.
»Nach Sahne und Kindheit … vielleicht Bonbons?«, ergänze ich, weil Sara auf Ruvens Antwort hin irgendwie enttäuscht gewirkt hat.
»Richtig!«, entgegnet sie und schenkt mir ein dankbares Lächeln. Maxi und Josh heben den Tisch aufs Gras und ziehen ein paar Stühle ran, auf die wir uns setzen.
Ich lasse mich auf einem Platz neben Camille und Josh nieder und nehme ein Bier entgegen.
»Für mich keins mehr, ich muss morgen noch arbeiten«, kommt es von Ruven, als Maxi ihm auch eins reichen will.
»Mehr Bier für mich«, entgegnet Maxi und hebt seinen Becher. »Auf den Sommer. Auf uns. Und auf viele wunderschöne Frauen.« Den bösen Blick, den er von Camille kassiert, erwidert er mit einem Luftkuss und setzt seine Flasche an.
»Sara und ich könnten dich morgen auf der Arbeit besuchen kommen?«, bietet Camille Ruven an und erhält daraufhin zustimmendes Nicken.
Obwohl das Bier immer noch gleich herb ist, schmeckt es besser. Richtig gut. Selbst das Gefühl, außen vor zu sein, ist so weit weg, dass ich mich frage, warum ich so was wie heute nicht häufiger mache.
»Dacre?«
»Hmpf?« Sekundenspäter fühlen sich meine Wangen unter dem Blick von Camille heiß an.
»Ich habe gefragt, ob du Sara und mich begleiten willst?« Wohin?
»Ehm … warum?« Der Alkohol scheint den sprachlichen Teil meines Hirns lahmgelegt zu haben. Camille kichert und wirft sich das dunkle Haar über die Schultern.
»Hast du morgen was vor?«
»Camille, jetzt bring Dacre nicht in Verlegenheit, vielleicht hat er keine Lust mitzukommen und hat einfach genug Anstand, uns das nicht direkt ins Gesicht zu sagen.« Wenn vorher nicht schon alle Aufmerksamkeit auf mir gelegen hätte, wäre es spätestens nach Saras Aussage so. Doch bevor ich überhaupt zum Antworten komme, öffnet sich die Balkontüre und Cap tritt deutlich schwankend auf die Terrasse.
»Ach hier seid ihr. Hab mich schon gewundert, weil drinnen niemand mehr ist.« Die goldblonden Strähnen stehen in allen Richtungen von seinem Kopf ab. Sein T-Shirt trägt er auf links. Selbst meinem alkoholgeschwängerten Kopf wird klar, dass er wahrscheinlich bis gerade keins getragen hat. Schlagartig verschwindet das sorgenfreie Gefühl und hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack auf meiner Zunge. Ich schaue zu meinen Fingerspitzen und fahre über das Etikett der braunen Flasche.
»Dein Shirt ist falsch herum.« Sara.
»Alter, wisch dir dein Grinsen aus dem Gesicht und zieh dich gefälligst richtig an.«
»Katie oder Simone?«
»Wen interessiert das?« Camilles Ton ist bissig.
»Vielleicht beide?« Caps Stimme sorgt dafür, dass sich jedes Härchen auf meiner Haut aufstellt.
»Jo!«
»Ich habe echt keine Lust, mir schon wieder dein Geprahle zu geben.« Camille seufzt genervt und ich will nicht wissen, wie oft er das macht.
Meine Finger gleiten unter den Rand des goldweißen Etiketts, während sich Camille und Cap eine heiße Diskussion liefern. Vielleicht sollte ich einfach nach oben gehen. Ich würde den Abend gerne so schön in Erinnerung behalten, wie er es bis gerade war. Ich erhebe mich ruckartig und greife nur Augenblicke später nach der Stuhllehne. Alles dreht sich und mein Kopf fühlt sich schwerelos an.
»Ich mache mich mal auf den Weg nach oben«, sage ich zu niemand bestimmten und schiebe mich an Cap vorbei. Er trägt sein Shirt immer noch falsch herum. Ich habe Angst davor, dass er sich auf der Terrasse auszieht und jeder in meinen Augen sieht, dass ich eine Schwäche für meinen Stiefbruder habe.
Alle verabschieden sich, bevor sie sich wieder ihren Gesprächen widmen. Ich wünschte, sie würden wollen, dass ich bleibe. Aber warum sollten sie? Ich nehme mir noch ein Stück Pizza, bevor ich nach oben gehe.
Dacre (01:23): Ich habe heute Beerpong gespielt.
Tilo (01:25): Gab es eine Erweiterung für Myrsky, von der du mir noch nicht stundenlang erzählt hast?
Dacre (01:26): Witzig.
Dacre (01:27): Warum bist du überhaupt noch wach?
Tilo (01:28): Wir sind eben erst von der Nachtwanderung zurückgekommen.
Dacre (01:29): Und, war es so schlimm wie gedacht?
Tilo (01:32): Bin fast auf einer riesigen Wurzel eingeschlafen, weil wir im Mondlicht irgendeinen Abstand mit unserem Daumen ausmessen mussten. Sterbenslangweilig.
Dacre (01:35): Dann schlaf jetzt, du Nerd.
Tilo (01:41): Selber, Nerd. Nacht.