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Dachterrassen und Diebstahl
Die Hoffnung darauf, dass Cap nochmal das Gespräch sucht oder sich gar entschuldigt, ist zwei Tage nach dem Ausflug verflogen. Er ist vorhin zu Camille aufgebrochen und hat mir deutlich zu verstehen gegeben, dass es seine Freunde sind und sie nicht nach mir gefragt haben.
Ich habe Sara am Montag mehrmals abgewiesen, weil ich ihr nicht sagen wollte, warum ich nicht mehr mit in den See wollte. Ich verstehe also, warum sie mich nicht mehr dabeihaben will. Trotzdem fühlt es sich komisch an.
Ich widme mich wieder dem Schnitt meiner Tonspur und versuche, jeden Gedanken an Cap zu verdrängen.
Seinen eiskalten Blick aus diesen wunderschönen Augen.
Sein Sixpack, das er mir die letzten Tage zu häufig vorgeführt hat. Die kleine Narbe an seiner kantigen Kinnpartie.
Frustriert angele ich nach meiner Sprudelflasche und hoffe, dass mich die Erfrischung ablenkt. Das Wasser ist aber mittlerweile genauso warm wie die Raumtemperatur, sodass ich die Flasche nach einem kleinen Schluck wieder zur Seite stelle. Das feuchte Handtuch über meinen Schultern müsste ich auch mal wieder wechseln. Gaming im Sommer ist kein Genuss. Am See wäre es jetzt tausend Mal schöner.
Bevor ich für den nächsten Abschnitt die passende Musik raussuchen kann, rufen TJ und Sandura an.
»Was haltet ihr von der Mail? Ich fände es gut, wenn der ein oder andere auch mit streamen würde.« Sanduras Stimme klingt abgehackt.
»Bist du unterwegs?«, frage ich.
»Noch bei meinen Großeltern. Das WLAN hier ist unterirdisch, aber wir fahren zum Glück später wieder heim.«
»Können wir uns dann wieder dem Geschäftlichen widmen?«, kommt es von TJ.
»War auch schön, dein Freund gewesen zu sein«, erwidere ich belustigt.
»Soll ich euch Kaffee und Kuchen von
Eleanders
für euer Kaffeekränzchen besorgen?« TJ klingt genervt und es nicht das erste Mal, dass ich mich frage, wann er zum letzten Mal zum Spaß an
Myrsky
saß.
»Tim Julian.«
»Meinst du, ich erzittere jetzt, weil du dich aufführst wie meine Mutter, Sandy?«
»Okay, also ich finde die Idee mit den Streams gut, wir müssen nur gucken, wie das mit dem Schnitt und dem Upload ist, weil ich es nicht schaffen werde, noch mehr Videos hochzuladen«, gebe ich zu bedenken.
»Hast du was Besseres zu tun?«
»O Mann, TJ, wo hast du heute bloß deine Manieren gelassen?«, kommt es von Sandura, die nebenbei wild auf ihrer Tastatur tippt.
»Beruhig dich mal, das war nur ein Scherz. Vielleicht sollten wir das alles einfach spontan entscheiden. Lasst uns erst mal gucken, wie das morgen läuft, und dann sehen wir weiter.«
»Okay«, kommentieren Sandura und ich zeitgleich.
Wir reden noch über unseren Video-Plan für die nächsten Wochen, der sich durch das Casting der neuen Mitglieder natürlich verschiebt. Das Vibrieren meines Handys reißt mich aus dem Gespräch. Es ist garantiert Tilo, der mir wieder von seinen Algebros
und dem neuesten Klatsch aus dem Camp-Leben erzählt.
Unbekannt (20:01):
Wir treffen uns um 9 an der Stadtbücherei, du kannst gerne vorbeikommen. Die Handynummer hat Camille aus Caps Handy geklaut. Ich
hoffe, das war okay? Alles Liebe, Sara.
Cap hat meine Handynummer eingespeichert. Sara will mich heute Abend dabeihaben. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals und das Grinsen in meinem Gesicht fühlt sich ungewohnt breit an. Ich reiße mir das Headset von den Ohren und ignoriere die Stimmen und Fragen von Sandura und TJ. Ein kribbelndes Gefühl von Hoffnung breitet sich in meiner Magengegend aus. Vielleicht mag Sara mich trotzdem. Und vielleicht mag Cap mich irgendwann auch. Vielleicht ist das aber auch ein Trick von Cap und er plant irgendwas Gemeines, um mich vorzuführen? Ich setze mir die Kopfhörer wieder auf und versuche, der Schwere in meiner Brust nicht zu viel Gewicht beizumessen.
»Ich wäre am Wochenende auch dabei«, werfe ich ein. TJ hat recht. Wenn wir beim Contest was reißen wollen, müssen wir jetzt anfangen. Vor allem, weil wir beide nur noch ein Jahr Schule haben, bevor wir uns auf ein Studium konzentrieren müssen. Oder eben nicht. Je
nachdem wie erfolgreich unsere Karriere bei Myrsky
und der geplanten Weltmeisterschaft läuft.
Außer Gaming sind Tilos Nachrichten gerade mein einziger Lichtblick, allerdings werden die auch immer weniger, weil er das letzte Mal fast erwischt worden wäre. Dann hätte er sein Handy abgeben müssen.
Vielleicht sollte ich heute Abend einfach hingehen und darauf vertrauen, dass es wirklich Saras Nachricht ist. Einmal was riskieren. Etwas, das ich schon seit Jahren nicht mehr gemacht habe. Zumindest nicht losgelöst von meiner Tastatur. Trotz des flauen Gefühls in meiner Magengegend, trete ich um kurz nach halb neun aus der Dusche, putze mir schnell die Zähne und mache mich dann mit dem Fahrrad auf den Weg.
Aus dem Internet weiß ich, dass die Stadtbücherei am Ende der Fußgängerzone liegt. Alle Straßen, die ich dafür nehmen muss, habe ich mir auf meine Handinnenseite geschrieben,
aus Angst, mich zu verfahren. Ich fahre über die Pflastersteine der Schubertstraße und genieße den Fahrtwind, der frisch über meine Haut streicht. Selbst abends kühlt es kaum ab. Ich hätte mir die Dusche sparen können, weil ich schon wieder geschwitzt habe, als ich auf meinem Fahrrad über unseren Hof gefahren bin. Es ist immer noch hell draußen, auch wenn die Sonne deutlich an Kraft verloren hat. Ich riskiere einen kurzen Blick auf meine Hand und biege dann rechts ab. Vorbei an geschlossenen Geschäften, einem alten Springbrunnen und einigen Fußgängern, die in meinem Alter sind. Am Ende der Straße thront ein großes, altes Haus, an dem ein goldenes Schild mit der Aufschrift Stadtbücherei Mariengraben
prangt.
Ich steige von meinem Rad und schiebe es die wenigen Meter bis zu dem Fahrradständer, an dem noch zwei weitere lehnen. Weit und breit ist niemand zu sehen. Natürlich habe ich mein Schloss vergessen. Ich schnalle mir den Helm vom Kopf und fahre mir mehrmals durch meine plattgedrückten Locken.
Dacre (21:05):
Bin gerade angekommen. Soll ich draußen warten?
Ich schiebe mein Handy zurück in die Hosentaschen und blicke mich um. Aus mehreren Richtungen sind lachende Menschen und Gesprächsfetzen zu hören. In der Luft liegt der Geruch nach Pizza und Hitze. Ich trete von einem Bein auf das andere.
Keine Ahnung, warum ich herkommen sollte. Die Bücherei ist seit sechs Uhr geschlossen. Vielleicht war es wirklich Cap, der gerade hinter irgendeinem Pfeiler steht und sich über mich lustig macht. Ich warte noch zehn Minuten ab, dann fahre ich wieder nach Hause. Nur wenig später vibriert mein Smartphone und ich greife danach.
Sara (21:07):
Komm zum Hintereingang. Ich hole dich ab.
Ich atme tief durch und ringe mit der Entscheidung, doch nach
Hause zu fahren. Schließlich habe ich noch genug zu tun und könnte versuchen Capri
weiterzubringen. All das kann ich aber auch noch morgen oder übermorgen machen. Zögernd gehe ich um das Gebäude herum.
Mit feuchten Händen greife ich nach dem eisernen Türgriff. Ich rechne eigentlich schon damit, dass die Tür sich nicht öffnen lässt. Dass spätestens jetzt Cap um die Ecke kommt. Dass er über mich lacht. So laut wie damals meine Mitschüler, als mir Michel bei der Aufführung von »Krabat« die Hose runtergezogen hat. Übelkeit steigt in mir auf, als ich daran zurückdenke. An meine Mitschüler und ihre Eltern, wie sie auf meine, mit Autos bedruckte Unterhose, gezeigt haben. Dass mein bester Freund damals am lautesten von allen gelacht hat. Scham brennt sich heiß durch meinen Körper. Michels Lachen klingt laut in meinen Ohren und versetzt mir einen tiefen Stich.
Ich stolpere einen Schritt zurück, wende mich ab, um zu fliehen.
So wie damals.
So, wie ich es heute immer noch mache, weil ich nie wieder auf der Bühne gestanden habe, obwohl ich es so geliebt habe. Mein Herz rast wie verrückt, als ich dem Personaleingang den Rücken zukehre und einfach loslaufe. Das hier war eine verdammt blöde Idee. Warum will ich unbedingt jemand anderes sein, als der rothaarige Nerd, der eben lieber virtuelle Kontakte pflegt?
Kühle Finger greifen nach meinem Unterarm und ich fahre vor Schreck zusammen.
»Hey, Dacre.« Saras Atemzüge gehen mindestens genauso schnell wie meine. »Warum läufst du denn weg?«
Ich brauche ein paar Augenblicke, bevor sich meine Sicht wieder klärt und mein Körper den Fluchtmodus beendet.
»Ich …«
Sei offen und ehrlich. Alles oder nichts. Entweder sie mag dich oder eben nicht.
»Ich … habe gedacht, das wäre ein Scherz von Cap. Ich konnte nicht glauben …, dass ihr mich wirklich dabeihaben wollt.«
Mein Blick fixiert Saras weiße Ballerina, die einen Atemzug später einen Schritt auf mich zu machen.
»Dacre, wenn ich dich frage, ob du vorbeikommen möchtest, meine ich das auch so. Ich weiß nicht, was Cap für ein Problem hat, aber ich mag dich und habe dich gerne dabei.«
Ungläubig hebe ich den Kopf. Sara lässt mich aber kaum zu Wort kommen. Sie zieht mich in eine Sommerkokos-Umarmung. Erst Sekunden später löst sie sich wieder und grinst mich herzlich an. »Jetzt komm mit hoch. Das musst du dir ansehen.« Und dann greift sie wie selbstverständlich nach meiner Hand und zieht mich mit sich. Ihre Berührung sorgt dafür, dass ich aufhöre mich zu fragen, warum sie so nett ist. Ich fange an, mir vorzustellen, wie cool es wäre, solche Freunde zu haben.
Wir nehmen wieder die Tür zum Personaleingang. Ich atme seufzend aus, als wir in das kühle Gebäude treten.
»Josh arbeitet den Sommer über hier, deswegen können wir rein. Natürlich dürfen wir eigentlich nicht … Aber oben ist es so cool!« Sara hat ihr Handy gezückt und leuchtet uns mit der Taschenlampe den Weg. Es riecht nach modrigen Büchern und alten Gemäuern. Am liebsten würde ich die ganze Zeit hierbleiben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es noch besser wird.
»Wir müssen die Leiter nehmen. Gehst du vor?«
»Ähm … ja?«, erwidere ich und schaue verunsichert nach oben.
Die Sprossenleiter aus Metall liegt auf der gegenüberliegenden Seite und führt zu einer Dachluke, die halb geöffnet ist. Sara schaut mich auffordernd an, nickt zur Leiter und streicht dann über den Saum ihres Kleides. Hat sie Angst, dass ich ihr unter den Rock schaue, wenn sie vorgeht? Hitze steigt in meine Wangen und ich mache so schnell einen Schritt nach vorne, dass ich beinahe stolpere. Wenige Augenblicke später greife ich nach der letzten Sprosse und drücke mit der anderen Hand das
Glasfenster auf. Stimmen dringen zu meinen Ohren, bevor ich aus der Öffnung steige.
Für einen Moment bin ich sprachlos. Vor mir erstreckt sich eine Dachterrasse, die
einen perfekten Ausblick auf das Stadtbild von Mariengraben eröffnet. Und obwohl wir nicht so viele Treppen gegangen sind, ist keins der umliegenden Gebäude höher als unseres.
»Habe ich zu viel versprochen?« Sara stellt sich neben mich und grinst mich an.
»Echt cool«, erwidere ich. Warum schaffe ich keinen zusammenhängenden Satz? Aber Sara scheint das nichts auszumachen, sie nimmt wieder meine Hand und führt mich an einem der Lüftungsschächte vorbei. Direkt dahinter, nah an der geziegelten Mauer, die uns vorm Absturz bewahrt, steht der Rest der Gruppe. Cap miteingeschlossen.
»Ich habe Dacre mitgebracht«, sagt sie, als wir bei den anderen ankommen. Ich werde von fast allen begrüßt, bevor sie sich wieder ihren Gesprächen widmen.
»Willst du was trinken? Wir haben Bier, Rum, Wodka und einiges zum Mischen.«
»Bier«, erwidere ich und lächele Sara dankbar an. Ich stelle mich neben Josh, dessen blonde Locken sich noch immer perfekt kräuseln, während meine mir wieder in der Stirn kleben und bestimmt unordentlich platt auf meinem Kopf liegen.
»Und du arbeitest hier?«, beginne ich ein Gespräch mit ihm.
»Ja.« Seine Gesichtszüge sind verbissen. Vielleicht hat er keine Lust, mit mir zu reden?
»Cool.« Ich schiebe die Hände in meine Taschen. Keine Ahnung, was ich sagen soll.
»Hast du auch einen Ferienjob?«, fragt Ruven mich, der neben Josh an der Mauer lehnt. Ruven sieht mit den roten Badeshorts unter dem weißen Shirt aus, als wäre er gerade von der Arbeit gekommen. Auch die brünetten Haare, die er die letzten Male nach hinten gegelt hat, stehen unordentlich ab.
»Nein. Aber ich habe … ich verdiene mir neben der Schule ein bisschen was dazu«, antworte ich ihm.
»Womit?«, kommt es von Josh, dessen Gesichtsausdruck nicht mehr so angestrengt wirkt wie eben noch. Vielleicht hatte er einfach einen stressigen Tag gehabt?
»Ich habe mit zwei Freunden einen Gaming-Kanal, der ganz gut läuft.«
»Krass, dann bist du ja ein Influencer.«
Nerd.
Das trifft es wohl eher. Ich verkneife mir ein Lachen und will gerade ansetzen, ihm das Ganze zu erklären, als Sara und Camille neben uns treten.
»Wer ist ein Influencer?«, fragt Camille, während Sara mir meine Bierflasche reicht.
»Danke«, erwidere ich und nehme einen tiefen Schluck, um nicht auf Camilles Frage zu antworten.
»Dacre. Er verdient Geld mit seinem Video-Channel«, kommt es von Ruven und ich kann nicht verhindern, dass mir Hitze in die Wangen steigt.
»Krass. Was machst du für Videos?« Maxi schaut mich an, als hätte er mich zuvor noch nie gesehen. Das sorgt nicht dafür, dass das unangenehme Gefühl in meiner Magengegend abnimmt. Ganz im Gegenteil. Es fühlt sich an, als lägen auf meiner Brust Ziegelsteine, so hoch ist der Druck.
»Gaming-Sachen«, erwidere ich zögerlich.
»Erzähl davon«, sagt Sara und stupst mich an.
»Es ist wirklich nichts Großes. Ich spiele mit zwei Freunden ein Online-Rollenspiel und wir machen Videos darüber … und so.«
»Wie heißt ihr?« Ruven hat sein Handy schon in der Hand und schaut mich interessiert an. Ich schließe kurz die Augen. Aber niemand scheint die Sache albern zu finden und lacht über mich.
»
Ashes of Auringon
.« Es dauert nur Sekunden, bis Ruven den Namen eingetippt hat. Dann werden seine Augen immer größer und er schaut überrascht in meine Richtung.
»Ihr habt ja fast 100.000 Abonnenten. Das ist richtig groß.«
»Zeig her«, kommt es von Maxi und wenig später stehen alle im Kreis um Ruvens Smartphone. Mit Ausnahme von Cap, der rauchend an der Mauer lehnt.
»O mein Gott, Dacre, das ist so cool. Das bist du auf dem Wallpaper, oder? Der rothaarige Zombie mit den Sommersprossen?«
Wer sonst
. Ich zucke nur mit den Schultern und verbessere Sara nicht. Versuche ihr nicht den Unterschied zwischen einem Zombie und einem Draugr
zu erklären. Als dann meine Stimme, wohlgemerkt in Englisch, zu hören ist, laufe ich dunkelrot an und greife mir nervös in den Nacken.
»Alter, wie krass sprichst du bitte?«, kommentiert Josh, während ich erfolglos versuche mein Unbehagen zu unterdrücken. Das verdanke ich alles einem guten Mikrofon und meinem Dad.
»Du hörst dich an wie ein Muttersprachler«, kommt es von Ruven, der sein Smartphone unnatürlich weit weggestreckt hat, damit jeder etwas sieht.
»Ich bin zweisprachig aufgewachsen.« Und ich vermisse es. Vermisse ihn. Nicht mehr so wie früher, aber es gibt Tage, da will ich meinem Dad von Dingen aus meinem Leben erzählen. Ihn um Rat bitten.
»Wow. Cap, wusstest du davon? Du musst dir das unbedingt anhören.«
»Ich passe.« Egal wie euphorisch alle anderen sind, sein Desinteresse sorgt dafür, dass ich mich wieder klein und unbedeutend fühle. Wie kann es sein, dass ein Mensch so viel Macht besitzt?
Mein Blick wandert zu meinen schwarzen Sneakers, die ich liebend gern vom Dach bewegen möchte, um seinen Blicken zu entgehen. Gleichzeitig rühren sie sich kein Stück, weil ich jedes bisschen seiner Nähe aufsauge. Wieso ist mein Körper so verdammt kompliziert? So verdammt selbstverletzend. Aber es ist nicht nur er, sondern auch das Gefühl von Zugehörigkeit, das
mich hier hält. Denn egal wie unangenehm mir ihr Interesse ist, ich weiß nicht, wann sich das letzte Mal jemand außer Tilo und Mum für mein Leben begeistert hat. Wann ich Teil einer Gruppe war.
Meine Wangen sind immer noch heiß, als sich die Lage bezüglich des Gaming-Kanals beruhigt.
Wir stehen alle an der Mauer, um der Sonne dabei zuzusehen, wie sie hinter dem Bärenfelsen verschwindet.
»Wann waren wir eigentlich das letzte Mal da oben?«, fragt Camille neben mir und zeigt auf den kaum zu erkennenden Aussichtspunkt auf der Felsgruppierung.
»Keine Ahnung. Wir wollten immer mal wieder hin, aber es hat die letzten Jahre nie geklappt«, kommt es von Ruven, der zwischen Camille und Cap lehnt. Keiner sagt mehr etwas. Alle beobachten, wie die Rot- und Orangetöne, das Blau des Himmels verdrängen. Wie die letzten Strahlen alle Wolken einfärben und es sich für einen Moment anfühlt, als würde die Welt stillstehen. Beinahe so, als würden alle Gespräche verstummen und alle Vogelgesänge verklingen. Dann, als die Farben immer blasser und dunkler werden, lösen sich die meisten von der Mauer, lachen und reden über irgendwas, das ich nicht verstehe. Mein Blick klebt immer noch an dem dunklen Streifen, der die Felsen und Wiesen vom Himmel trennt.
Ich merke, wie rechts neben mir jemand steht. Mein Körper weiß ganz genau, wer das
ist. Wir sagen beide nichts. Und trotzdem fühlt es sich gut an. So, als hätten wir etwas gemeinsam. Und wenn es nur Sonnenuntergänge sind.
Stunden später sitzen wir immer noch auf dem Dach. Aus Ruvens Box läuft ein schneller Song aus den Achtzigern und Sara und Camille tanzen. Maxi hat uns gerade seine zukünftigen Tattoo-Pläne eröffnet. Dafür musste er uns natürlich auch sein letztes zeigen. Ein filigran gestochenes, organisches Herz genau über der Stelle, wo sein eigenes schlägt. Immer wenn er seine
Muskulatur an- und entspannt, wirkt es, als würde das Tattoo-Herz schlagen. Ziemlich krass. Genau wie sein Oberkörper im Allgemeinen. Dann haben die Jungs angefangen, über Sportroutinen und Ernährung zu reden. Dementsprechend still sitze ich auf meinem Platz, beobachte die beiden Mädels und streiche immer wieder über das Etikett meiner Flasche.
In der Theater-AG hatten wir auch einige Stunden Tanzunterricht, weil wir »Ein Sommernachtstraum« aufführen wollten. Allerdings habe ich die Aufführung ausgesetzt und bin kurz danach aus der Gruppe getreten. Ich vermisse es, nur auf die Musik zu hören. Den Rhythmus durch meine Adern fließen zu lassen. Das Gefühl, im Einklang mit dem Takt zu sein. Ich lehne mich zurück auf die Ellenbogen und betrachte den Himmel. Trotz der Lichter unserer Stadt sind die Sterne über uns zu erkennen.
»Wisst ihr was?« Camille lässt sich laut schnaufend zwischen mir und Maxi nieder. »Wir sollten diesen Sommer außergewöhnlich werden lassen. Wer weiß, ob wir nächstes Jahr nochmal alle so zusammenkommen.«
»Was schlägst du vor?«, fragt Maxi. Auch die anderen haben ihre Gespräche beendet, um Camille zuzuhören.
»Ich dachte an so etwas wie eine Bucket-Liste?«
»Ihr Mädels immer mit euren komischen Listen für alle möglichen Situationen.« Auf den Spruch kassiert Maxi einen Fausthieb von Camille.
»Ich finde, das hört sich ziemlich gut an«, kommt es von Ruven.
»Ich auch«, sagt Sara und setzt sich neben Cap.
»Motorrad-Tour«, wirft Cap ein und fährt sich durch die blonden Strähnen. Dabei bleibt mein Blick mal wieder zu lange an seinem sehnigen Arm hängen. Er sollte definitiv aufhören, so viel zu trainieren.
»Auf keinen Fall machen wir eine Motorrad-Tour! Wie soll das auch funktionieren?«, geht Ruven dazwischen und schüttelt den
Kopf.
»Josh nimmt dich mit, Maxi Camille und ich Sara. Fertig.« Ich muss nicht extra erwähnen, dass sich seine Aussage wie ein Schlag ins Gesicht anfühlt.
»Und Dacre?«, fragt Josh.
»Motorrad ist raus«, kommt es entschieden von Camille.
»Dann bin ich es auch«, entgegnet Cap und verschränkt seine Arme. Mein Herz klopft viel zu schnell und das Etikett meiner Flasche ist schon zur Hälfte ab.
»Du führst dich auf wie ein Kleinkind.« Camille klingt genervt.
»Wenn du meinst.«
»Ganz ehrlich, ich bin ziemlich froh, dass du nicht dabei bist. Am Ende …«, beginnt Camille, wird aber sofort von Ruven unterbrochen.
»Leute beruhigt euch bitte. Cap ist natürlich dabei. Stimmt’s, Bro?«
Cap stöhnt genervt und zuckt dann mit den Schultern.
»Dann wäre das geklärt. Hat jemand noch einen Vorschlag?«, fragt Ruven in die Runde.
»Zelten«, kommt es von Josh.
»Nur, wenn Toiletten in der Nähe sind.«
»Camille, das spricht völlig gegen das Konzept vom Campen.« Maxi blickt lachend zu der dunkelhaarigen Schönheit, die ihre Augenbrauen pikiert hochzieht.
»Ich habe aber keinen Bock, in den Wald zu pinkeln.«
»Wir finden bestimmt eine Lösung.« Sara wirft Camille einen versöhnlichen Blick zu. Für einen Moment herrscht Stille.
»Vielleicht könnten wir dieses Wochenende hinter der Wiese von unserem Haus zelten? Da sind Toiletten und wir sind direkt am See«, schlägt Camille vor und blickt in die Runde.
»Finde ich gut«, sage ich vorsichtig.
»Ich muss Samstag arbeiten, aber von mir aus können wir von Freitag an zelten?«, wirft Ruven in die Runde.
»Perfekt. Weitere Vorschläge?«
»Zum Bärenfelsen wandern.«
»Autokino.«
»Konzert.«
»Fahrradtour.«
»Picknick.«
»Wet-T-Shirt-Contest.«
»Dein Ernst, Maxi?«
»Man kann es ja mal versuchen.«
Dann kommen noch weitere Vorschläge, die Camille alle mit wilden Fingern in ihr Handy eintippt.
»Am besten gründen wir eine Gruppe und stimmen dann über die Unternehmungen ab. Ich weiß allerdings nicht, ob wir alles schaffen«, sagt Camille und wenig später habe ich eine Benachrichtigung auf meinem Smartphone. Es ist nicht so, dass ich noch nie Teil einer Gruppe war. Trotzdem schaffe ich es nicht, das Grinsen auf meinem Gesicht zu verbergen.
Irgendwann bricht ein Disput zwischen Josh und Maxi aus, aber ich habe verpasst, um was es geht.
»Kein Problem, ich schlafe bei deiner Mum.«
»Einen Teufel wirst du tun. Wenn du dich weiter so verhältst, kannst du bei Ruven und seinen sieben Brüdern schlafen«, entgegnet Maxi.
»Drei. Ich habe drei jüngere Brüder. Und Josh hat recht, deine Mum ist heiß«, kommt es von Ruven.
»Ihr seid so abartig. Das ist meine Mum.«
»Wisst ihr noch, wie Stephan in der Dreizehnten einen BH von Maxis Mum geklaut hat? Erzähl mal Maxi, warum es keine Hauspartys mehr bei dir gibt.«
»Fick dich, Ruven!«
»Jungs, jetzt beruhigt euch doch mal. Wenn du Josh rauswerfen willst, kann er auch bei mir schlafen«, sagt Camille.
»Unter keinen Umständen wird er bei dir übernachten.«
»Wir haben unzählige Gästezimmer«, ergänzt sie.
»Josh kann natürlich weiter bei mir schlafen. Das war ein Scherz« wiegelt Maxi ab und nimmt einen großen Schluck von seinem Mischgetränk.
Ich beuge mich zu Sara, die sich vor wenigen Minuten neben mich gesetzt hat.
»Warum schläft Josh bei Maxi? Kommt er nicht von hier?«
»Seine Eltern haben ihn vor zwei Jahren rausgeworfen. Den letzten Sommer hat er komplett in Tannstein an der Uni verbracht. Dieses Jahr haben wir ihn dazu überredet, wieder mit herzukommen.« Warum will seine Familie ihn nicht mehr zuhause haben? Die Frage liegt mir schon auf der Zunge, aber ich sage nichts. Es sind Caps Freunde und irgendwie geht mich das nichts an.
Irgendwann brechen wir auf, weil Josh und Ruven am nächsten Tag arbeiten müssen. Genau wie Josh und Maxi steuere ich den Fahrradständer an. Mein Fahrrad ist nicht mehr zu sehen. Ich gehe noch ein paar Schritte zu den beiden Rädern. Von meinem keine Spur.
»Mist!« Was soll ich jetzt machen? Vielleicht schaffe ich den Weg auch zu Fuß?
»Bist du auch mit dem Fahrrad gekommen?«, fragt Maxi und schaut zu der Stelle, wo ich es abgestellt habe.
»Ja.«
»Hey, Cap! Kannst du deinen Bruder mitnehmen?«
»Stiefbruder«, flüstere ich und schiebe die Hände in die Taschen. Als ich dann aber sehe, dass Cap mit dem Motorrad da ist, beginnt mein Herz zu rasen.
»Schon gut, ich gehe zu Fuß«, sage ich, noch bevor Cap irgendwas Verletzendes sagen kann.
»So ein Unsinn, das geht doch nur bergauf. Cap, jetzt stell dich bitte nicht so an.«
»O Mann … von mir aus.«
Ich kann kein Motorradfahren. Auf gar keinen Fall. Schlagartig wird mir übel und meine Hände zittern.
»Ich … kann das nicht. Wirklich.«
Maxi muss mir die Panik ansehen, denn er zieht sein Handy raus und hält es sich wenig später ans Ohr.
»Camille, könntet ihr Dacre einsammeln, sein Fahrrad wurde geklaut. Nein, das geht nicht. Frag ihn selbst.« Dann legt er auf. Er wendet sich mir zu und will gerade etwas sagen, als Cap zu uns tritt.
»Was ist jetzt,
Dacre
?« Ich mag es, wie er meinen Namen ausspricht. Aber das beruhigt mein Herz ganz und gar nicht.
»Camille nimmt mich mit«, stoße ich zwischen zusammengebissenen Zähnen aus.
»Gut.« Dann dreht er sich um und lässt mich stehen.
Camille, Ruven und Sara fragen mich nicht, warum ich nicht mit zu Cap auf die Maschine steigen wollte. Sie lassen mich wenig später bei den Sanders raus. Von Cap ist im Haus nichts mehr zu sehen oder zu hören. Nur sein Parfüm liegt in der Luft. Sein verflucht gut riechender Duft, der mich so ablenkt, dass ich beinahe über den Kater vor meiner Zimmertüre gefallen wäre.
»Kannst du nicht einfach zu deinem Herrchen gehen?«
»Miauu!« Wahrscheinlich vermisst er Mum. Oder Robert. Vielleicht werde ich auch verrückt, weil ich mir Gedanken darüber mache, was der Kater denkt.
Keine Ahnung.
Tilo (12:45):
Das heißt, du tauschst mich einfach so gegen neue Freunde aus?
Dacre (13:00):
Nein. Du bist eine ganz schöne Dramaqueen, weißt du das?
Tilo (13:05):
Liegt garantiert an Parabel-Paul, mit dem ich mir jetzt ein Zimmer teilen muss. Er ist ein richtiger Schönling und hat an allem was auszusetzen. Ihm ist das
Wasser zu unklar und der Wald zu grün. Und ich glaube, er ist schwul.
Dacre (13:10):
Warum musstest du dein Zimmer wechseln?
Tilo (13:11):
Weil Trigonometrie-Tristan Tripper hat (und Kat nicht) und abgereist ist. Unser Zimmer hat irgendeiner von den Betreuern bekommen und ich teile mir ab jetzt eins mit dem schwulen Paul.
Dacre (13:20):
Seine sexuelle Orientierung wirkt sich doch nicht auf seinen Charakter aus.
Tilo (13:30):
Hat sich eigentlich bei uns in der Stufe jemand geoutet?
Dacre (13:31):
Keine Ahnung.