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Vielleicht Vielleicht
Ich denke die ganze Zeit über Tilos Nachrichten nach. Auch dann noch, als ich schon die Tasche für den Zeltausflug packe und eigentlich aus ganz anderen Gründen aufgeregt sein sollte. Hat Tilo was gegen Schwule im Allgemeinen oder nur etwas gegen diesen Paul?
Camille hat irgendwas von einem See gesagt, also stopfe ich nochmal meine blaue Badehose in die Tasche. Ich sollte mir dringend eine weitere kaufen. Nachdem ich fertig bin, gucke ich nach dem Video-Export, der sich heute zieht. Eben hat er kurz vor Ende abgebrochen, weil es einen Fehler in der Tonspur gegeben hat. Gott sei Dank hat der sich zügig beheben lassen, sonst hätte ich den Ton neu aufnehmen müssen. Zum Glück konnten wir das Gaming mit den Neuen, das eigentlich für heute Abend angedacht war, auf nächste Woche verschieben, weil Sandura noch bis Sonntag bei ihrer Familie bleiben muss. Während TJ richtig sauer war, hat es mich erleichtert. So ist mein schlechtes Gewissen nicht ganz so groß, wenn ich die nächsten Tage nicht zum Spielen komme.
Nach zwanzig Minuten kann ich das Video endlich auf der Plattform hochladen. Die Infobox mit den Quellenangaben und unserem verlinkten Equipment habe ich schon vorbereitet.
Ich tippe gerade eine Nachricht an Sandura und TJ, als es an der Tür klopft und Cap im Raum steht.
Das erste Mal überhaupt. Mein Körper ist darauf nicht vorbereitet und spielt alle fight-or-flight Symptome durch, die er im Bio-Unterricht aufgeschnappt haben muss. Schweißausbrüche. Herzrasen. Flattern im Bauch. Atemlosigkeit.
»Bist du bald fertig?« Spätestens die Kälte in seiner Stimme erinnert meinen Körper daran, dass er mich nicht mag. Kein Kampf. Keine Flucht. Nur Distanz und Ignoranz.
»Sekunde«, erwidere ich, schließe das Chat-Fenster und fahre meinen PC runter. Ich greife nach meiner Sporttasche und folge ihm die Treppen hinunter. Im Flur kommt Sir Theobald hocherhobenen Schwanzes angelaufen und schmiegt sich an Caps wunderschöne Waden. Wunderschöne Waden ? Ich sollte dringend aufhören, ihn anzustarren.
»Theo, ich komme morgen wieder nach dir gucken, okay?«
»Miau. Miauuu.«
»Nein, du bist die nächsten beiden Nächte allein.«
»Miaau.«
»Ich würde Dacre auch lieber hierlassen.«
»Witzig«, erwidere ich und fahre mir durch meine lockigen Haare, die dringend einen Haarschnitt bräuchten.
»War ernst gemeint.«
»Klar.« Ich seufze genervt und stürme aus dem Flur. Habe ich wirklich daran geglaubt, dass es zwischen uns je besser werden würde? Ich setze mich auf die Beifahrerseite von Mamas Golf, den sie uns extra für Notfälle dagelassen hat. Zum Glück war es dank unseres Gepäcks überhaupt kein Thema, dass wir sein Motorrad nehmen.
Wenig später sitzt Cap neben mir und fährt unsere Straße runter.
»Wir fahren Sonntag nach dem Mittag wieder zurück, weil Robert und Karin abends aus dem Urlaub kommen und ich die Terrasse noch nicht aufgeräumt habe.«
»Okay«, erwidere ich. Dass er die letzten Tage genug Zeit dafür hatte, spare ich mir. Den restlichen Weg legen wir zurück, ohne miteinander zu sprechen.
Camille wohnt in einem Nachbarort von Mariengraben. Wir passieren eine Hofeinfahrt, die uns zu einem beachtlichen Anwesen führt. Camilles Elternhaus wirkt riesig und verdammt teuer.
»Krass, ich wusste gar nicht, dass Camilles Eltern so reich sind.«
»Sind ja auch nicht deine Freunde.«
Ich beiße mir auf die Lippen, um nicht wieder einen Streit anzufangen. Das würde sowieso nichts bringen. Es würde ihn nicht interessieren, wenn ich ihm sage, dass seine Worte mich verletzen. Er würde daraufhin nur etwas erwidern, das ähnlich schmerzt. Ich bin nicht bereit dazu, ihm noch mehr Macht einzuräumen.
Also öffne ich einfach meine Tür und steige aus. Ich greife nach einer Luftmatratze und dem Zelt, als er neben mich tritt.
»Das Zelt ist meins und da ist auch nur Platz für mich.«
»Klar!« Ich rolle genervt mit den Augen. Er ist auch in unserer Chatgruppe, also muss er mitbekommen haben, dass ich mir ein Zelt mit Josh teile. Er legt es darauf an, mit mir zu streiten, und es macht ihn offenbar noch wütender, wenn ich nicht darauf eingehe. Zumindest nehme ich das, anhand seiner Stirnfalte und den verkniffenen Lippen, an. Wir müssen zweimal gehen, weil der ganze Kofferraum noch voll mit Getränken ist, die von der Hausparty übriggeblieben sind.
»Dacre, kannst du mir mal helfen?«
Ich eile zu Josh und seinem Zelt und halte eine Seite fest, während er auf der anderen die Heringe reinschlägt.
»Josh, wo hast du denn das alte Zelt hervorgeholt? Das sieht aus, als würde es beim nächsten Windstoß zusammenbrechen.« Ruven hat die Hände in die Hüften gestemmt und betrachtet unsere Unterkunft für die Nacht skeptisch.
»Aus dem Schuppen meiner Eltern.«
Danach herrscht Schweigen. Selbst Maxi und Camille unterbrechen ihre Neckereien.
»O … klar.« Dann murmelt Ruven noch irgendwas von vintage und dreht sich zu seinem und Maxis Domizil um.
Als endlich alle fertig sind, kommen wir in der Mitte unseres kleinen Zeltkreises zusammen.
»Irgendwer muss noch Feuerholz bei uns im Schuppen holen gehen. Wie wäre es mit Dacre und Cap?«
Ich seufze und schaue Camille flehend an. Was soll das denn jetzt?
»Glaube, dann bin ich schneller, wenn ich allein gehe«, wirft Cap ein und schnipst seine Kippe weg.
»Hör auf, so ein Arschloch zu sein.«
»Könnt ihr beiden auch mal einen Tag ohne Streit verbringen? Komm Cap, dann gehe ich mit dir.« Es ist wieder Ruven, der zwischen den beiden vermittelt. Das schlechte Gewissen überkommt mich, weil ich das Gefühl habe, dass sich Camille und Cap immer nur wegen mir streiten.
»Lasst uns ins Wasser gehen, bevor es dunkel wird«, schlägt Camille vor und zieht sich im selben Moment ihr Shirt aus. So schnell, dass ich nicht wegsehen kann. Dass alle Blicke auf ihr liegen, scheint sie aber nicht im mindesten aus der Ruhe zu bringen, denn sie greift einfach nach ihrer Hose und streift auch diese ab.
»Baby, wir können auch ins Zelt gehen und die anderen schwimmen lassen.«
Josh neben mir seufzt laut und Camille wirft Maxi ihre Hose gegen den Kopf. Daraufhin zieht Maxi sich auch aus und macht einen Schritt auf Camille zu. Dann geht alles so schnell, dass ich Camille nur kreischen und Maxi lachen höre. Er läuft mit ihr über der Schulter hängend den Hügel hinab bis zum See. Mit einem lauten Platschen landen erst Camille, dann Maxi im Wasser.
»Sind die beiden schon lange zusammen?«, frage ich Josh, der mit einem silbernen Tape irgendwas am Zelt abdichtet.
»Sind sie gar nicht.«
»Wie?«
»Na ja, sie sind eben kein Paar. Eigentlich ist niemand von uns in einer Beziehung.«
»Okay«, erwidere ich verwundert und mache mich daran, die Schnur vom Zelteingang zu entwirren. Warum sind die beiden kein Paar, wenn sie doch so offensichtlich aufeinander stehen?
Als wir endlich mit unserem Zelt fertig sind, folgen wir den anderen zum See.
»Gut, dass ihr da seid. Die beiden sind schon wieder am streiten«, begrüßt uns Sara, die nur bis zu den Waden im See steht. Als mein Fuß das Wasser berührt, weiß ich auch genau warum. Es ist eiskalt.
»Wo sind Cap und Ruven denn?«, frage ich und stelle mich neben Sara.
»Keine Ahnung. Vielleicht haben sie noch irgendwas zu besprechen, oder so. Ruven und Cap kennen sich schon seit dem Kindergarten. Ab und an unternehmen sie eben auch etwas ohne uns.« Wir schweigen und beobachten, wie Josh sich ganz langsam in den See wagt. Der Boden wird offenbar schnell tief, weshalb er wenig später bis zu den Schultern im Wasser steht.
»Kommt rein«, verlangt er. Das Zittern seiner Stimme ist deutlich zu hören. Ich blicke Sara ins Gesicht, die sich auf die Lippen beißt.
»Ladies first«, sage ich und grinse sie an. Sie bindet sich einen hohen Zopf und schaut zurück aufs Wasser.
»Zusammen.« Dann greift sie nach meiner Hand und läuft los. Wasser spritzt und ich habe das Gefühl, dass meine Gelenke nur wenige Sekunden später einfrieren. Wir stolpern beide lachend, lassen uns los und einen Augenblick später tauchen wir unter.
Kälte und Dunkelheit umhüllen meinen Körper. Beim Auftauchen merke ich, wie taub meine Glieder sind. Mit schnellen Bewegungen versuche ich, meinen Körper aufzuwärmen. »O Mann, ist das kalt«, kommt es von Sara, deren Zähne klappernd aufeinanderschlagen. Maxi und Camille scheinen so abgelenkt von ihrem eigenen Drama, dass ihnen die Wassertemperatur nichts auszumachen scheint.
»Maxi, warum wird es plötzlich so warm? O. Mein. Gott. Du hast nicht wirklich hier reingepinkelt? Du bist so widerlich.« Camilles schriller Tonfall weht über den schwappenden See zu uns rüber. Genauso wie Maxis tiefes Lachen, das wenig später folgt.
»Können die beiden sich endlich mal entscheiden, ob sie eklig oder süß sind?« Sara zittert immer noch und ihre Lippen sind bläulich.
»Definitiv eklig«, kommentiert Josh, dessen Haare ungewohnt glatt an seinem Kopf kleben. Wahrscheinlich sieht es bei mir genauso albern aus wie bei ihm.
»Weißt du, Josh, Mädchen mögen es, wenn man auch mal süß und romantisch ist.«
»Echt?« Daraufhin kassiert Josh eine kleine Fontäne Wasser und ein Lachen von Sara. Warum kann ich nicht einfach auf Sara stehen? Sie ist wunderschön, liebevoll und großherzig. Cap ist dagegen nur gemein und verletzend. Und heiß. Und anziehend. Verdammt.
»Das haben sie nicht wirklich gemacht«, kommt es von Sara, worauf ich mich zum Ufer drehe. Cap und Ruven sind zurück und haben ein Seil mitgebracht, das sie versuchen, an einem der drei Bäume zu befestigen. Und obwohl die Sonne sich den ganzen Tag hinter den Wolken versteckt hat, ist es, als würde ein Spot auf Cap gerichtet sein, der meine volle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Selbst aus dieser Entfernung kann ich erkennen, wie sich seine Arm- und Rumpfmuskulatur anspannt, als er das Seil zum wiederholten Male über einen dicken Ast wirft.
»Yes!«, ruft Ruven, als es endlich funktioniert.
»Das geht nie und nimmer gut«, sagt Camille, die sich nach Maxis Aktion zu uns gesellt hat.
Doch nur wenig später schwingt sich Cap mit dem Seil über den See. Im gleichen Moment blitzen Sonnenstrahlen zwischen den Wolken hervor, die ihn wie Scheinwerfer anstrahlen. Was zur Hölle hat das Schicksal für ein Problem mit mir? Einen Atemzug später bricht Cap durch die Wasseroberfläche und die Sonne versteckt sich wieder. Klar. Dann taucht er auf, wirft seinen Kopf kurz nach hinten und sortiert seine Haare. Gibt es eigentlich auch irgendeinen Zeitpunkt, wo er einfach mal scheiße aussieht? Ich drehe mich seufzend weg, was mir einen skeptischen Blick von Camille einbringt.
»Alles klar?«
»Jap.« Ich komme mir schon vor wie Josh, der offenbar auch kein Freund langer Reden ist.
Wir bleiben noch im Wasser, bis mir beinahe die Füße abfrieren und Ruven, Maxi, Josh und Cap so oft ins Wasser geschwungen sind, dass der Ast in der Mitte durchgebrochen sein müsste.
»Sara und ich gehen zuerst ins Bad«, ordnet Camille an, als wir endlich wieder am Zeltplatz angekommen sind und sich jeder in sein Handtuch gewickelt hat.
»Wir Jungs brauchen sowieso keine Dusche«, kommt es von Maxi, der zu verbergen versucht, wie kalt ihm ist.
»Ich schon«, sagt Ruven und ich bin ihm dankbar dafür.
Während sich alle fertig machen, kümmern sich Maxi und Cap um das Feuer. Die riesige Dusche in dem pompösen Bad hat sich unglaublich angefühlt. Ich kann nicht verstehen, dass Cap und Maxi das nicht nötig hatten.
Irgendwer legt Fleisch und Gemüsepäckchen auf den Dreibein-Grill über dem Feuer und wenig später essen wir in stiller Eintracht. Wobei es so still eigentlich nicht ist, weil Camille und Maxi sich dauernd neckend und nur wenige Minuten leise sein können. Ruven reicht mir einen Becher, der ziemlich süßlich und nach Alkohol riecht. Eigentlich wäre jetzt der Zeitpunkt, zu sagen, dass ich noch nicht volljährig bin, aber ich bedanke mich nur und setze das Getränk an.
Von irgendwoher ist Musik zu hören und es wird immer dunkler. Ich lege meinen Kopf zurück auf den Rand des Campingstuhls und betrachte den Himmel über mir. Ich kann mich nicht erinnern, in den letzten Jahren so oft draußen gewesen zu sein wie in diesem Sommer. Oder wann ich mich in einer Gruppe von Menschen das letzte Mal wirklich wohl gefühlt habe. Ich schaue zu Sara, die über irgendwas lacht, das Ruven zu ihr gesagt haben muss. Das Gefühl und die Angst davor, dass sie über mich lachen, ist mit Sara in der Runde kaum vorstellbar. Ihre Augen reflektieren die Flammen des Feuers und strahlen so hell, dass sie den Sternen Konkurrenz machen. Ihr Blick trifft auf meinen und sie legt den Kopf schräg. Ich grinse sie an und hebe kurz den Becher. Sie wendet sich wieder Ruven zu und verwickelt ihn in ein Gespräch.
»Auch noch?«, fragt Josh und zeigt auf meinen Becher. Eine halbe Stunde später fühle ich mich wie unter Wasser. Das angenehme Unterwasser-Gefühl. Das schwerelos und leicht Gefühl. Ich betrachte die Mädels, wie sie zu einem Hit von Shakira tanzen. Meine Füße bewegen sich wie von selbst, obwohl ich immer noch im Stuhl sitze. Sara kommt mit einem Schmunzeln auf mich zu und streckt mir ihre Hand hin. Mein nüchternes Ich hätte abgelehnt. Definitiv. Schließlich gibt es um mich herum genug andere potentielle Tanzpartner. Und genug Leute, die sich über mich lustig machen könnten. Aber der süße Alkohol, der durch meine Adern pumpt, sieht gar nicht erst ein, sich zurückzuhalten. Er fordert förmlich den roten Teppich. Ich greife nach ihrer kleinen Hand und folge ihr zu der improvisierten Tanzfläche.
»Du musst deine Schuhe ausziehen, sonst fühlst du es nicht richtig.« Ich glaube, Camille hat auch schon einen im Tee.
Aber das ist egal. Ich schlüpfe aus den Sneakers und trete zwischen die beiden Mädels.
Nach ein paar Sekunden des Aufwärmens erinnern sich meine Füße wieder an die Schritte und ich lasse mich fallen. Ich spüre den Rhythmus durch mein Körper pulsieren und halte ihn nicht auf. Auch nicht als Camille sich mit wiegenden Hüften auf mich zu bewegt und sich eindeutig zweideutig an meinen Körper presst. Wir tanzen den gesamten Salsa-Song zu eng aneinander und es macht Spaß. Unheimlich viel Spaß. Ich fühle mich, als hätte ich jahrelang geschlafen und wäre jetzt endlich aufgewacht. Jetzt, mit dem feuchten Gras zwischen meinen Zehen und dem Himmelszelt über mir. Irgendwann tritt Maxi zu uns und löst mich ab. Ich erwarte, dass er sauer auf mich ist, aber er klopft mir nur auf die Schulter und grinst mich schief an.
»Alter, du kannst verdammt gut tanzen.« Dann legt er seine Hände an Camilles Hüften und zieht sie zu sich. Ich will gerade zurück zu meinem Platz, um mir etwas von meinem Getränk zunehmen, als Sara nach meiner Hand greift und sich auf mich zubewegt. Ich hebe den Arm, um sie hindurch zu drehen. Sie lacht und kommt meiner Aufforderung nach. Während der Tanz mit Camille zu körperbetont war, ist es mit Sara mehr wie in der Tanzschule. Ihre Schrittfolgen sind präzise und trotz aller Leichtigkeit wirkt sie konzentriert. Aber es macht nicht weniger Spaß. Als das Lied zu einer langsameren Nummer wechselt, legt sie die Arme um meine Schultern und wir wiegen uns im Takt.
»Ich bin richtig froh, dass du hier bist.« Ihr warmer Atem streift meine kühle Haut.
»Ich auch«, flüstere ich, unsicher, ob sie mich verstanden hat. Dann hebt sie den Kopf und guckt mich plötzlich ganz verträumt an. Ihre Augen glitzern dunkel. Zeitgleich strahlen sie unglaublich hell. Faszinierend.
Als sie mir immer näherkommt, mache ich reflexartig einen Schritt nach hinten. Wir lösen uns voneinander. Ihr Blick ist fragend. Sie wollte mich garantiert nicht küssen. Niemals.
Da habe ich zu viel hineininterpretiert. Sara ist so viel mehr als ich. Ich bin der rothaarige Nerd, der mit niemanden der anwesenden Jungs jemals mithalten könnte.
Sie steht immer noch an der gleichen Stelle und betrachtet mich aufmerksam. Jeden Moment wird sie etwas sagen. Irgendwas, das die ganze Situation noch unangenehmer werden lässt. Ich stolpere ein paar Schritte zurück, drehe mich um und gehe zu meinem Platz. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals und meine Hände sind so nass, als hätte ich sie mir gerade gewaschen. Ich greife nach meinem Becher und will mich gerade am Schnaps bedienen, als Caps Stimme die Musik in den Hintergrund drängt.
»Dacre bekommt nichts mehr.«
»Entspann dich«, kommt es augenblicklich von Josh.
»Er ist gerade mal siebzehn. Ich meine, du schläfst am Ende mit ihm in einem Zelt und musst seine Kotze wegwischen.« Daraufhin sagt Josh nichts mehr. Muss er auch nicht, weil ich meinen Mut endlich wieder finde.
»Komm mit. Sofort.« Ich warte gar nicht darauf, dass Cap aufsteht, sondern ziehe so lange an seinem Kapuzenpulli, bis er beinahe aus dem Campingstuhl fällt.
»Lass deine Finger von mir.« Seine Stimme ist drohend. Aber es ist nicht so, als wäre mir sein Tonfall neu. Oder die distanzierte Gleichgültigkeit, die er immerzu ausstrahlt.
»Wir sollten dringend mal klären, was dein Problem mit mir ist!« Er schlägt meine Hand weg, folgt mir aber. In einigen Schritten Abstand.
»Wenn ich noch nüchtern wäre, würde ich dich sofort nach Hause fahren.«
»Dann ist das wohl dein persönliches Pech, dass das nicht geht«, erwidere ich genervt. Am Holzschuppen angekommen, drehe ich mich zurück zu ihm. Es ist dunkel und ich kann seinen Gesichtsausdruck nur schemenhaft erkennen. Gut so. Der herablassende Ton reicht mir schon, dann brauche ich nicht noch den passenden Blick dazu.
»Also … was hast du für ein Problem mit mir? Warum hasst du mich so? Was haben wir dir getan?« Der Schwall an Fragen verlässt unaufhaltsam meinen Mund. Ich versuche es gleichgültig klingen zu lassen. So, dass er nicht merkt, wie wichtig die Antworten für mich sind.
»Wer sagt, dass ich dich hasse?«
»Komm schon. Jeder hier merkt, wie gerne du mich loswerden willst. Ich muss wahrscheinlich Angst davor haben, dass du diese Nacht in mein Zelt kommst, mir Steine an die Füße bindest und mich im See versenkst.«
»Meinst du nicht, du übertreibst?« Seine Stimme trieft nur so vor Missbilligung, so dass ich ihn am liebsten schubsen will. Dafür müsste ich ihn aber anfassen und ich weiß nicht, wie meine alkoholbenebelten Sinne damit klarkommen würden.
»Das kann ich genauso gut dich fragen.«
»Ich habe das Gefühl, wir drehen uns nur im Kreis. Und du hast definitiv zu viel getrunken.«
»Ich will doch einfach nur wissen, was ich dir getan habe!« Meine Stimme klingt weniger gelassen, als ich es geplant hatte. Für einen Moment herrscht absolute Stille. Lediglich die dumpfe Musik und das Zirpen einiger Grillen ist zu hören.
»Ihr seid da«, ist alles, was er sagt.
»Ernsthaft?« Meine Stimme hat eine bedrohliche Farbe angenommen.
»Warum interessiert dich das überhaupt?« Zugegeben, seine Frage überrascht mich.
»Weil alles, was du zu mir sagst, total verletzend ist. Es tut einfach weh.« Den letzten Satz hätte ich nicht sagen sollen. Ich betrachte meine nackten, hellen Füße und seine dunklen Schuhe. Er steht zu weit entfernt.
»Warum? Warum ist es dir nicht egal?«
Wie soll ich ihm das erklären? Wie soll ich ihm von meinen Gefühlen erzählen, die ich selbst nicht verstehe? Wieso sollte ich ihm noch mehr Material liefern, mich zu kränken?
Er würde sowieso nicht verstehen, dass mein Herz jedes Mal aussetzt, wenn er in der Nähe ist. Dass niemand mich so verletzten kann wie er. Selbst damals, als Michel mich vor allen bloßgestellt hat. Er war mein bester Freund. Mein Einziger. Damals. Und trotzdem ist es Cap, der bis jetzt die meiste Macht über mich und meine Gefühle besitzt.
»Ist es eben nicht.«
Ein trockenes, abschätziges Lachen verlässt seine Lippen.
»Vielleicht solltest du dir mal über die eigentlichen Gründe klar werden.«
Ich halte die Luft an. Weiß er von meinem Herzen, das für ihn schlägt?
»Vielleicht könntest du versuchen, etwas netter zu sein.« Für einige Atemzüge herrscht zwischen uns absolute Stille. Muss er wirklich darüber nachdenken?
»Vielleicht«, antwortet er dann und geht einfach. Vielleicht? Was soll das bitte bedeuten? Ich bleibe noch einige Minuten an Ort und Stelle. Meine Wut auf ihn ist verraucht, auch wenn das Gespräch überhaupt nichts gebracht hat. Wahrscheinlich wird er weiterhin gemein sein. Vielleicht nicht mehr so offensichtlich, aber bestimmt immer noch sehr verletzend.
Später liegen Josh und ich schweigend nebeneinander im Zelt.
»Warum kannst du nicht mehr bei deinen Eltern wohnen?« Wahrscheinlich hätte ich mich nüchtern nicht getraut, die Frage zu stellen. Ich halte den Atem an, bis er sich räuspert.
»Meine Mum gehört einer Glaubensgemeinschaft an. Eine mit vielen Regeln, die sehr veraltet sind. Kein Alkohol. Kein Sex vor der Ehe. Kein Spaß. Irgendwie war ich immer anders als die in meinem Alter aus der Kirche. Und deswegen war ich meistens allein. Als wir dann die Schule gewechselt haben und ich Cap und Ruven kennengelernt habe, ist mir zum ersten Mal der Unterschied zwischen unseren Leben aufgefallen.« Ich schlucke hart. Bevor ich etwas erwidern kann, erzählt er weiter.
»Ich will nicht sagen, dass es am Ende Maxis Partyexzesse waren, die mich neidisch gemacht haben, aber irgendwann habe ich mich gegen das Leben meiner Mum entschieden. Ich wusste, dass sie es nicht versteht … Aber ich dachte, dass es mein Dad tut. Hat er nicht. Und die Kirche meiner Mum ist sehr streng, was Sünder angeht.«
»Bereust du es?«, frage ich vorsichtig, weil ich ihn nicht zwingen will, mir noch mehr zu erzählen.
»Manchmal«, erwidert er leise.
Wir schweigen beide einen Moment. Irgendwo draußen ist das Rascheln von Gebüsch und das Zirpen von Grillen zu hören.
»Hast du immer noch das Gefühl, anders zu sein?«
»Nein. Du?«
»Manchmal«, antworte ich und warte darauf, dass er noch etwas sagt. Aber irgendwann sind nur noch seine gleichmäßigen Atemzüge zu hören.
Ich brauche lange, um einzuschlafen, weil ich über Cap nachdenke. Und über Josh. Darüber was Anders sein eigentlich bedeutet. Dass mir weder er noch die anderen das Gefühl geben, dass ich anders bin.
Tilo (20:23): Wieder ein Tag vorbei, der sich eher angefühlt hat wie eine Verschwendung von Zeit und Atemzügen, als dass ich irgendwas Sinnvolles mitgenommen habe. Wie läuft es bei dir?
Tilo (20:45): Du hattest übrigens Recht. Parabel-Paul ist gar nicht so übel. Eigentlich ist er voll in Ordnung. Er hat auch keinen Bock auf dieses Camp.
Tilo (21:15): Ich auch. Er ist schwul. Seine Eltern haben ihn zur Strafe für sein Outing in dieses Camp geschickt. Was stimmt bitte mit denen nicht? Wir leben doch nicht mehr in den Achtzigern.
Tilo (22:20): Ich habe gesehen, dass ihr beinahe die 100.000 Abonnenten Marke geknackt habt. Glückwunsch! Und wie krass ist bitte die Illustration von Sandura? Mega. Du musst sie mir unbedingt vorstellen. Scheiß egal, dass sie dann nur von Myrsky spricht.
Tilo (22:45): Vielleicht sollte ich dem Spiel ja auch mal eine Chance geben.
Tilo (23:15): Hallo? Hast du gerade gelesen, was ich dir geschrieben habe? ICH WILL DAS SPIEL AUCH MAL AUSPROBIEREN.
Tilo (23:55): Ist alles okay bei dir?
Tilo (00:06): Langsam mache ich mir echt Sorgen. Schreib mir bitte. Ich muss jetzt schlafen, weil wir morgen früh eine Sonnenaufgangswanderung haben. (Ja, an einem Samstag!)
Dacre (2:30): Ich bin Zelten (Ja, im richtigen Leben). Josh (der stille Boygroup-Typ) schläft schon seit einer halben Stunde. Die ganze Zeit muss ich an das seltsame Gespräch mit Cap denken. Ich habe mir nämlich endlich mal deine Worte zu Herzen genommen und ihn zur Rede gestellt. Es freut mich, dass Paul cool ist und das mit Mysrsky werde ich nicht vergessen. Gute Nacht & schick mir ein Foto vom Sonnenaufgang.
Dacre (2:33): Hab ganz vergessen, dass Handys verboten sind. Ich hoffe, dass dein Wochenende besser wird, als du erwartest.