7
Fallen und Fühlen
Am nächsten Morgen verschwinden Cap und Ruven relativ zügig und der Rest von uns macht sich daran, in Camilles Küche Mittagessen zu kochen. In der Nähe von ihrem Haus zu zelten hat definitiv Vorteile. Vor allem die Duschen werden von allen ausgiebig genutzt.
Am frühen Abend kommen Cap und Ruven wieder zurück. Eigentlich wollte Cap nur nach Sir Theobald gucken. Trotzdem ist er solange weggeblieben, wie Ruven auf der Arbeit war. Aber keiner fragt, warum.
»Haben wir noch genug Fleisch für heute Abend?«, kommt es von Ruven, der immer noch sein T-Shirt mit dem Logo des städtischen Schwimmbads trägt.
»Jap«, erwidert Josh und fährt mit dem Handtuch durch sein nasses Haar. Er und Maxi haben den gesamten Tag im See mit ausreichend viel Bier verbracht. Während der Alkohol Maxis Zunge gelockert hat, scheint er Josh noch wortkarger zu machen.
»Alter, Josh, deine Fahne ist bis hierhin zu riechen. Wie viel
habt ihr schon vorgelegt?«
»Einiges«, entgegnet er verschmitzt und stolpert bei der Gewichtsverlagerung.
»O Mann«, erwidert Ruven lachend und schaut zu Cap, der nur mit den Achseln zuckt.
»Wo sind Maxi und Camille?«
»Im Haus was besorgen«, sage ich schulterzuckend.
Allerdings sind die beiden schon ziemlich lange verschwunden. Hitze steigt in meine Wange, als mir klar wird, was sie wahrscheinlich drinnen treiben.
»Diesen Sommer ist es extrem«, sagt Ruven und schüttelt nur den Kopf. Dass Ruven mich dabei kein einziges Mal wirklich anschaut, fällt mir erst einige Stunden später auf.
Dann, als Sara mich wieder zu sich zieht, um mit ihr zu tanzen. Wir haben den ganzen Tag nicht über den gestrigen Abend gesprochen. Mussten wir auch nicht, denn es hat sich alles ganz normal angefühlt. Bis ich ihren Körper während einer schnellen R’n’B-Nummer über meinen Arm gebeugt halte und mein Blick sich mit dem von Ruven kreuzt. Dieser steht denen von Cap in nichts nach.
Ich bemühe mich, Sara nach dem Lied so freundlich wie möglich loszuwerden, aber sie lässt sich nicht abschütteln. Im Gegenteil. Wir stehen wieder dicht voreinander. Zu dicht. So nah, dass ihr Atem meine Lippen streift. Was machen wir hier eigentlich? Als sie sich nach vorne beugt, drehe ich meinen Kopf so schnell, dass ihre Lippen meine Wange streifen. Danach scheint die Welt kurz stehen zu bleiben. Habe ich jetzt alles kaputt gemacht?
»Habe ich dich falsch verstanden?«, fragt sie flüsternd. Warum muss sie so unglaublich perfekt sein? Selbst dann noch, wenn sie abgewiesen wird.
»Vielleicht könnten wir ein paar Schritte gehen?«, frage ich, weil ich ihr das Ganze erklären möchte. Unsere Füße streifen lautlos durch das hohe Gras und wir lassen die Musik hinter uns.
»Riecht, als würde es heute noch Regen geben«, durchbricht sie die Stille.
»Hoffentlich nicht.« Ich bin Josh echt dankbar für das Zelt, aber ich glaube, es wird keinem einzigen Tropfen standhalten.
»Ich …«, beginne ich, doch Sara redet gleichzeitig los.
»Es tut mir leid, dass …« Sie grinst mir zu und macht dann eine Handbewegung, dass ich fortfahren soll. Ich atme tief durch und schlucke die leisen Selbstzweifel runter. Das hier ist Sara. Ich möchte, dass die meine Freundin bleibt.
»Ich fühle mich echt ziemlich geehrt, dass du so über uns denkst. Aber … ich … stehe auf Jungs«, sage ich und halte wenig später die Luft an. Mein Herz schlägt so laut, dass sie es hören muss.
»Oh … damit habe ich irgendwie nicht gerechnet. Also, wow … danke, dass du so offen zu mir bist.« Das Flattern in meiner Brust ist zurück. Das Flattern, das immer einsetzt, wenn sie mich angrinst, mich in Gespräche einbezieht oder mich zum Tanzen auffordert.
»Ich … habe das vorher noch nie jemanden gesagt«, erkläre ich ehrlich.
»Was? Das heißt, niemand weiß davon?« Das Trommeln in meiner Brust wird nicht weniger, auch wenn ich weiß, dass ich Sara vertrauen kann.
»Du und ich schon«, erwidere ich und schenke ihr ein halbherziges Grinsen.
»Du bist unglaublich mutig. Ich meine, es ist natürlich schade für mich, aber ziemlich großartig für den Jungen, für den dein Herz schlägt.« Das denke ich eher nicht.
»Kann schon sein.« Ich will nicht, dass sie denkt, dass ich ihre lieben Worte und ihre Reaktion auf mein Geständnis nicht zu schätzen weiß.
»Gibt es jemanden?« Ihre Stimme klingt ganz aufgeregt und ist mehrere Oktaven höher. Ich trete von einem Bein auf das
andere. Ich bin nicht bereit, ihr von Cap zu erzählen.
»O man, es tut mir leid. Das geht mich natürlich überhaupt nichts an. Falls du mal jemanden zum Reden brauchst, kannst du auf mich zählen.«
»Danke.«
Dann tritt sie einen Schritt vor, zieht mich in eine Umarmung und drückt mir einen zarten Kuss auf die Wange.
»Kann das unter uns bleiben?«, frage ich zögernd, als sie einen Schritt zurückmacht.
»Selbstverständlich.«
Dann gehen wir wieder zurück zu unseren Zelten und ich bleibe den restlichen Abend in meinem Campingstuhl. Ruven musste Josh eben wecken und in sein Zelt schicken, weil er schnarchend im Sitzen eingeschlafen ist. Auch Maxi sieht ziemlich fertig aus und seine Zunge scheint endlich den Geist aufgegeben zu haben.
»Cap, erinnerst du dich noch daran, wie wir Maxi letztes Jahr den Mund zugeklebt haben?«, fragt Camille lachend.
»Wir hätten schon viel früher damit anfangen sollen.« Caps tiefe Stimme, die ausnahmsweise nicht vor Verachtung trieft, ist so selten und atemraubend, dass ich hoffe, dass er noch etwas sagt.
»Wir hätten ihn einfach richtig abfüllen müssen.«
»Haha«, antwortet Maxi und erhebt sich schwankend von seinem Stuhl, der kurz darauf umkippt. Wortlos verlässt er den Platz am Feuer und kriecht in sein Zelt.
»Vielleicht sollten wir uns auch schlafen legen?«
»Gute Idee, ich glaube, Sara ist eben auch schon mal kurz eingenickt«, kommt es von Ruven.
»Gar nicht wahr«, erwidert Sara laut gähnend.
Ruven und Cap löschen das Feuer, während der Rest sich langsam in die Zelte zurückzieht.
Auch Minuten später liege ich immer noch wach. Was nicht daran liegt, dass Josh heute schnarcht und sein Atem viel
ungleichmäßiger geht. Auch nicht daran, dass es in dem Zelt wärmer ist als draußen. Sondern vielmehr daran, dass ich wieder nur an Cap denke. Daran, dass er heute nicht mit mir geredet hat.
Vielleicht ist es besser so, als wenn er wieder gemein zu mir ist. Vielleicht auch nicht.
Irgendwann werden meine Gedanken langsamer und meine Atmung ruhiger.
Kaltes Wasser in meinem Gesicht lässt mich hochschrecken. Sekundenspäter merke ich, dass mein Schlafsack von außen nass ist. Regentropfen prasseln unaufhörlich auf das löchrige Zeltdach.
»Josh. Josh«, versuche ich den Blonden zu wecken, der sich erst nach mehrmaligem Rütteln bewegt.
»Es regnet rein.« Und zwar nicht zu knapp. Der ganze Zeltboden ist nass.
»O Mann.«
»Lass uns raus und bei Camille die Schlüssel fürs Haus holen.«
»Okay.« Wir schlüpfen beide in unsere Schuhe und laufen nur in Boxershorts und Shirt zum Zelt der Mädels. Es dauert nicht lange, bis wir bis auf die Knochen durchnässt sind.
»Camille«, rufe ich im Flüsterton. Nach kurzem Rascheln öffnet sich der Zelteingang.
»Unser Zelt schafft das Wetter nicht. Kannst du uns den Schlüssel fürs Haus geben?«
»Den muss Maxi noch haben. Vielleicht sollten wir alle drinnen schlafen?«
Ich laufe über die matschige Wiese zu dem Zelt rechts neben uns und hocke mich unter das aufgespannte Vordach.
»Maxi?«
»Maxi, jetzt wach auf«, höre ich Ruven von drinnen.
»Was?«
»Ich brauche den Schlüssel fürs Haus«, sage ich zitternd.
»Schlüssel?«
»Es schüttet ohne Ende und Joshs Zelt hat das nicht mehr ausgehalten.«
»Fuck.«
»Was ist?«
»Ich habe den Schlüssel im Haus vergessen.«
Camille hat uns am Freitag gesagt, dass es nur einen Schlüssel gibt und sie alle anderen Zugänge zum Haus zugesperrt hat, weil bei ihnen letztes Jahr eingebrochen wurde.
»Das ist nicht dein Ernst, oder? Guck nochmal genau nach.« Wassertropfen rinnen mir das Gesicht hinab und die Kälte kriecht mir in die Knochen.
»Er ist nicht da.«
»Fuck.«
»Josh soll zu uns ins Zelt kommen und du gehst einfach zu Cap.«
»Kann ich nicht zu euch kommen? Oder du zu Cap gehen?«
»Soll ich meinen Schlafsack jetzt durch den Regen bis zu Caps Zelt tragen? Wollt ihr euch dann zu dritt unter den Schlafsack von Maxi legen? Cap wird dich schon nicht auffressen.« Ruven klingt genervt und ich traue mich nicht, noch etwas zu fragen. Und bevor ich Josh dazu überreden kann, dass er zu Cap geht, hat er sich schon an mir vorbeigedrängt.
Großartig.
Zitternd laufe ich zu Caps Zelt. Nachdem ich ihn mehrmals gerufen habe, öffnet er endlich den Reißverschluss.
Ohne ihn zu Wort kommen zu lassen, krabbele ich direkt rein und hocke mich zitternd auf die freie Seite.
»Du machst alles nass.«
»Ach wirklich?«, erwidere ich genervt. Mir ist kalt. Meine Boxershorts klebt so eng an meinem Körper, dass sie garantiert nicht mehr viel Spekulationsraum übriglässt. Und ich bin müde. So verdammt müde.
»Wieso schlaft ihr nicht einfach im Haus?«
»Weil Maxi den Schlüssel drinnen gelassen hat und Camille erst morgen früh den Ersatz bei den Nachbarn holen kann.«
»Ihr könntet doch auch zu viert in dem Zelt von Maxi pennen.«
»Klar. Ist ja auch kein Zwei-Mann-Zelt«, erwidere ich bibbernd.
Danach herrscht einen Moment Stille und nur meine Zähne, die aufeinanderschlagen, sind zu hören.
»Zieh die nassen Sachen aus. Ich habe in meiner Tasche trockene Kleidung.« Ich würde gerne etwas Schlagfertiges erwidern, aber ich ziehe mir einfach das Shirt über den Kopf und nehme das Trockene entgegen. Es ist zum Glück so groß und lang, dass es die wichtigen Stellen bedeckt, während ich meine Shorts wechsele.
Dann reicht er mir noch seinen Kapuzenpulli. Trotzdem ist mir immer noch viel zu kalt. Der feuchte Boden unter dem Zelt und die fehlende Decke tun ihr Übriges. Cap seufzt schwer. Dann bewegt er sich raschelnd.
»Okay. Komm her. Ich kann mir nicht die ganze Zeit dein Zähneklappern anhören.«
Wie gnädig. Dass sein Angebot mein persönlicher Untergang sein wird, wird mir nur einige Sekunden später klar. Die Luftmatratze ist klein. Zu klein für zwei Personen. Alles riecht nach ihm. Er strahlt so viel Wärme aus, dass ich am liebsten noch näher rutschen würde. Dass er immer noch im Schlafsack liegt, schützt mich davor, etwas Dummes zu machen. Mich an ihn zu kuscheln oder so. Dann jedoch macht er den Reißverschluss ganz auf und breitet den Schlafsack als Decke über uns aus. Jetzt trennt uns nichts mehr. Ich halte die Luft an, in der Hoffnung, meine Atmung zu kontrollieren. Aber weder sie noch mein Herzschlag lassen sich aufhalten.
»Ich falle jeden Moment runter, rutsch mal was.«
»Ich weiß nicht, wohin«, flüstere ich. Mein linkes Bein liegt mehr auf dem Boden als auf der Matratze. Dann dreht er sich zur Seite und ich rutsche noch enger zu ihm.
»Sorry«, sage ich atemlos.
»Du musst dich auch auf die Seite legen, dann geht’s vielleicht.« Es dauert einen Atemzug, bis ich mich dazu entscheide, in seine Richtung zu gucken. Ganz egal, ob ich ihn in der Nacht anatmen könnte.
Ich kann gerade sowieso nicht schlafen. So nah an ihm, werde ich das wahrscheinlich auch den Rest der Nacht nicht können.
»Ich dachte eher an die andere Seite.«
»Und ich dachte, wir könnten jetzt mal darüber reden, was ich dir getan habe.«
Ich kann sein Seufzen auf meinen Lippen spüren. »Warum ist dir das so verflucht wichtig?«
Mein Herzschlag setzt einen Moment aus, als er sich bewegt und mir plötzlich noch näher ist.
»Weil du mir wichtig bist.« Ich hätte es anders formulieren sollen.
»Nein. Du solltest dich an Sara halten. Egal, ob es Ruven passt oder nicht.«
»Wie meinst du das?«
Er lacht leise. Gänsehaut rieselt meinen Rücken hinab. »Ich habe den Kuss gesehen … Jeder hat das.«
»Wir haben das geklärt«, erwidere ich leise.
»Was?« Ich kann seinen Gesichtsausdruck nicht deuten.
»Dass das mit uns nichts wird.«
»Warum?« Warum will er das wissen? Warum bringt er keinen Abstand zwischen uns? Dreht mir den Rücken zu? Warum kribbelt mein Körper jedes Mal, wenn seine Atemzüge über meine Haut streichen?
Ich weiß nicht, ob ich bereit dazu bin, mich vor ihm zu outen. Aber wer weiß, wann wir das nächste Mal ein normales Gespräch führen werden?
Ich will gerade ansetzen, etwas zu sagen, als er sich mit der Zunge über die Lippen leckt. Mist.
Mein Blick fällt von seinen
schwarzen Augen zu seinem Mund. Der mir so verdammt nah ist. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Meine Hände sind schwitzig.
Was ist, wenn ich es ihm nicht sage? Was ist, wenn ich es ihm stattdessen zeige? Wenn ich alles setze? Einmal meinen Verstand ausschalte?
Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Ob es der Alkohol ist, der mich mutig werden lässt. Oder seine ungewohnte Nähe.
Ich weiß nur, dass seine verfluchten Lippen gerade alles sind, was in meinem Hirnkosmos existiert.
Ich schließe die Augen. Lasse mich fallen. Riskiere alles. Mein Mund streift seinen. Plötzlich beruhigt sich meine Atmung. Ich fahre zögernd mit meinen Lippen über seine. Langsam. Aus Angst, etwas falsch zu machen. Aus Angst davor, dass die Welt nicht stehen bleibt. Dass gleich alles vorbei ist. Zwei kleine Augenblicke. Dann stößt er mich von sich und ich falle von der Matratze. Der harte Aufschlag presst für einen Moment alle Luft aus meinen Lungen. Shit.
Ich werde Sara und Camille fragen, ob ich bei ihnen schlafen kann. Ich schnappe zitternd nach Luft. So fühlt sich das also an, wenn man alles setzt und verliert. Meine Brust zieht sich schmerzhaft zusammen. Was ist, wenn er jetzt noch verletzender zu mir ist, als vorher?
Ich verharre noch einen Atemzug auf dem Boden, bevor ich mich aufrichte. Doch ich komme nicht weit. Seine Hand liegt an meinem Gesicht und wenig später fallen wir wieder. Diesmal mit seinem Gewicht auf mir. Er verschließt seinen Mund mit meinem. Leckt mit seiner Zunge über meine Lippen und hält uns gefangen in dem Augenblick. Hitze strömt durch meinen Körper. Ich weiß nicht, wo der Zeltboden anfängt und er aufhört. Einzig unser Keuchen ist zu hören. Ich kann nicht fassen, dass das gerade wirklich passiert. Dass seine Zunge meine berührt. Dass ich weiß, wie er schmeckt. Wie er sich auf mir anfühlt.
Dass ich weiß, dass er mich nicht hasst.
Irgendwann löst er sich von mir und klettert wieder zurück auf die Matratze. Ich verharre noch einem Moment auf dem Zeltboden. Fahre mir mit den Fingerspitzen über meine Lippen, die immer noch feucht sind. Die immer noch nach ihm schmecken.
Wir reden nicht. Auch nicht darüber, dass er seine Arme in der Nacht so fest um mich schlingt, als hätte er Angst mich zu verlieren.
Tilo (18:30):
Du hattest recht (Schon wieder!). Der Sonnenaufgang war unglaublich. Wir haben den ganzen Tag Fußball gespielt und Eis gegessen. Hat sich fast so angefühlt wie ein normales Sommercamp. Bis auf die Nerds mit den Zauberwürfeln und den Mathewitzen.
Tilo (18:33):
Bist du noch beim Zelten? Sind deine neuen Freunde cooler als ich?
Dacre (21:11):
Deutlich cooler. Spaß. Niemand ist cooler als du. Freut mich, dass du einen so schönen Tag hattest. Bei uns ist auch alles gut.
Tilo (23:27):
Ist alles gut das Code-Wort für irgendwas?
Tilo (00:10):
Dacre?
Tilo (01:00):
Ich hoffe, dass alles Gut
auch alles Gut bedeutet. Gute Nacht.