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Kino und Konfrontationen
Vielleicht hätte ich am Sonntag was sagen sollen? Ich habe seit zwei Tagen nichts mehr von Cap gehört. Ich hätte nicht gedacht, dass es genauso schnell vorbei ist, wie es angefangen hat. Wenn ich Tilo von meinen Gedanken erzählen würde, würde er wahrscheinlich schnaubend die Augen verdrehen und mich Dramaqueen nennen. Aber da ich ihm die ganze Geschichte mit Cap noch nicht erzählt habe, kann ich auf den Ratschlag meines besten Freundes nicht zurückgreifen.
Ich drehe mich seufzend zur Seite und wechsele genervt den Streamingdienst. Es ist mitten in der Woche und ich bin heute, bis auf drei Ausnahmen, noch nicht aufgestanden. Es sind Ferien. Aber anstatt wie sonst an Myrsky zu sitzen oder irgendwas anderes Sinnvolles zutun, gucke ich Serien, die mich nicht begeistern. Ein zaghaftes Klopfen an der Tür katapultiert mein mitleidiges Ego in Höhen, die es gar nicht kannte. Es könnte auch Sir Theobald sein, der mich aus reiner Boshaftigkeit ärgern möchte. Ich versuche, meine Hoffnung schon vorm Aufkeimen zu ersticken. Aber es klappt natürlich nicht. Als es ein weiteres Mal klopft, blicke ich mit klopfendem Herzen auf mein Shirt, von dem ich nicht weiß, wann ich es das letzte Mal gewaschen habe.
»Ja?«, frage ich bemüht gelassen. Vielleicht ist es Mum, die mir mal wieder einen Vortrag darüber halten will, was zu viel blaues Licht mit meinem noch heranwachsenden Körper anstellen kann.
Ich liebe es, wie sie mich damit daran erinnert, wie jungenhaft ich immer noch aussehe, als hätte ich das nicht schon längst selbst bemerkt.
Aber es ist weder sie noch der Kater, sondern Cap, der im Türrahmen steht.
»Hi«, kommt es von ihm, bevor er beinahe zögernd den Raum betritt und die Tür hinter sich schließt.
»Hi«, erwidere ich leise. Er ist seit Sonntag nicht mehr zuhause gewesen. Hat mir keine Nachricht hinterlassen oder mich vorgewarnt. Eigentlich sollte ich sauer auf ihn sein. Ihn bitten zu gehen. Oder zumindest von ihm verlangen, mir zu erklären, was das zwischen uns ist. Aber bevor etwas davon meine Lippen verlässt, segelt ein blaues Stück Stoff durch die Luft und landet genau vor meinem Bett.
»Heute so erwachsen«, sage ich, nachdem ich erkannt habe, dass es sich um meine Boxershorts vom Wochenende handelt.
Er lacht.
»Hast du die Nachrichten in der Gruppe nicht gelesen?«, fragt er dann und ich beobachte skeptisch, wie er ein paar Schritte auf mich zu macht und dann seine Hände in den Taschen seiner grauen Sportshorts versenkt. Selbstverständlich wandert mein Blick zu der Stelle, zu der er nicht wandern sollte. Bemitleidenswert.
»Keine Ahnung, wo mein Handy liegt«, entgegne ich und ziehe mir die Decke unauffällig noch ein Stück höher. Zur Sicherheit.
»Muss schwer sein, es unter den ganzen Kissen wiederzufinden.«
»Witzig.« Machen wir jetzt wieder zehn Schritte zurück? Behauptet er gleich, dass alles, was zwischen uns passiert ist, nicht wirklich passiert ist? Dass Sir Theobald meine Unterwäsche zu ihm ins Zimmer geschleppt hat?
»Ruven hat uns zu sich auf den Hof eingeladen. Seine Brüder und er haben in den letzten Wochen aus der Wiese hinter der Scheune ein Outdoorkino gebaut.« Klingt cool. »Ich wollte fragen, ob wir zusammen hinfahren wollen?«
Und ich wüsste gerne, warum er mit mir nicht über die wichtigen Sachen redet. Über irgendwas, das ihn oder mich betrifft. Ich würde lieber Zeit alleine mit ihm verbringen.
»Du musst nicht mit … Ich dachte nur, dass du vielleicht Lust hast.«
»Ich komm gerne mit, wenn wir mal miteinander reden.«
»Machen wir doch gerade.«
»Du weißt ganz genau, was ich meine«, erwidere ich und verschränke meine Arme.
»Okay, lass uns einen Deal machen, du ziehst dir was anderes an und auf der Fahrt zu Ruven unterhalten wir uns.« Ich wünschte, ich könnte ihm länger böse sein. Aber mit dem zurückhaltenden Lächeln auf den Lippen hat er mich so schnell um den Finger gewickelt, dass er gar nichts hätte sagen müssen.
»Okay«, sage ich und warte darauf, dass er Anstalten macht, den Raum zu verlassen. Ich rutsche demonstrativ im Bett nach oben und nicke zur Tür.
»Meinst du nicht, ich habe schon mehr gesehen als dich in Shirt und Shorts?«, kommt es lachend von ihm. Ich greife nach dem Kissen neben mir und werfe es ihm über. Er muss nicht unbedingt die nerdige Comicunterhose sehen, die ich mir angezogen habe, weil ich es immer noch nicht geschafft habe, die Wäsche aus Mamas Bügelzimmer zu holen.
Eine halbe Stunde später sitze ich geduscht und ordentlich angezogen neben ihm. Keine Ahnung, wie er es geschafft hat, dass wir heute Abend das Auto haben können.
»Also …«, beginne ich und werfe nochmal einen Seitenblick in seine Richtung. Er muss sich eben auch umgezogen haben.
»Was willst du wissen?«
Ich entscheide mich, die Frage nach seiner Mum hintenanzustellen.
»Was studierst du eigentlich?« Eigentlich ist es ziemlich peinlich, dass ich außer seinem Alter kaum was über ihn weiß, obwohl wir schon so viele Momente miteinander geteilt haben.
Er lächelt mir zu. »Was schätzt du denn?«
Warum kann er nicht einfach mal eine Frage beantworten?
»Vielleicht BWL oder irgendetwas mit Finanzen?«
Es wäre eine Schande für die gesamte Menschheit, wenn er später nicht im Anzug arbeiten würde. Also stelle ich ihn mir genauso vor.
Er schüttelt mit dem Kopf. Ich schnaube nur und verdrehe die Augen.
»Was weißt du eigentlich von mir?«, fragte er daraufhin.
»Du bist 23, hast die besten Freunde, die man sich vorstellen kann, und weißt es zu oft nicht zu schätzen. Aus mir unerklärlichen Gründen magst du den Kater aus der Familie am meisten und dein Frauenverschleiß ist hoch.« Außerdem weiß ich, welche Geräusche du machst, wenn du kommst. Aber das sage ich natürlich nicht. Seinem Lachen nach zu urteilen, scheint er mir aber anhand der Röte in meinem Gesicht meine Gedanken ablesen zu können.
»Bei manchen Dingen liegst du richtig«, entgegnet er. »Ich sollte meine Freunde besser behandeln. Eigentlich haben sie dich auch mehr verdient als mich. Manchmal frage ich, warum sie überhaupt noch mit mir abhängen … Wahrscheinlich ist das Ruvens oder Joshs Verdienst.«
Ich sollte sauer sein, weil er es nicht mal schafft, mir meine Fragen zu beantworten. Aber wie soll das funktionieren, wenn ich das Zittern in seiner Stimme genau gespürt habe? Wenn er seine Gedanken mit mir teilt, egal was sie über ihn aussagen?
Dass er genau weiß, wie scheiße er sich verhält. Und ich gerne wüsste, warum er nichts daran ändert. Für einen Moment sind nur die leisen Gitarrenklänge aus dem Autoradio zu hören. Meine Atemzüge. Und seine. Bis er sich räuspert und meine Welt auf den Kopf stellt.
»Aber eine Sache stimmt nicht. Es ist nicht der Kater, den ich am meisten mag. Sondern dich.«
Mein ganzer Körper kribbelt. Ich begegne seinem Blick. So kurz, dass es einen Wimpernschlag später vorbei ist. Aber es ist lang genug, um meinen Herzschlag zu beschleunigen. Wieso lässt er tagelang nichts von sich hören und sagt dann sowas? Er streicht mit der Hand einmal zaghaft über meine. Dann lässt er sie einfach auf meinem Oberschenkel liegen.
»Was ist das zwischen uns?«, frage ich zögernd und hoffe, dass er nicht merkt, wie nervös er mich macht.
»Keine Ahnung.« Er schweigt. Ich mag das flaue Gefühl in meinem Magen nicht. Die Ungewissheit. Dass er mir keine klare Antwort geben kann. Dass er trotzdem nicht die Hand von meinem Bein nimmt. Vielleicht sollte ich nochmal nachhaken. Ihn fragen, was er fühlt.
»Im Herbst beginnt mein zweites Semester im Master in Astrophysik.«
»Ernsthaft?«
Daraufhin lacht er nur. Nicht, dass Cap mir dafür nicht intelligent genug erscheint, aber Astrophysik hätte ich nicht erwartet. Genauso wie ich den Themenwechsel nicht habe kommen sehen.
»Ich habe schon früh alle möglichen Sachen über Sterne und das Universum gewusst. Irgendwie war das immer das Einzige, was mich wirklich interessiert hat.« Zwischen den Zeilen steckt so viel Melancholie, dass der Raum im Auto zu eng scheint.
»Erzähl mir was über dich, dass sonst niemand weiß.« Natürlich stellt er die cooleren Fragen. Ich habe nicht viele Geheimnisse, aber irgendwie ist Tilo der Einzige, den manche Sachen wirklich interessieren.
»Ich habe ziemliche Angst vor Motorrädern.«
»Warum?«
»Mein Dad ist bei einem Motorradunfall gestorben.«
»O, das wusste ich nicht.« Hat er sich denn noch nie gefragt, warum meine Mum mit seinem Dad zusammengekommen ist? Was hat Robert ihm damals von uns erzählt?
»Ich habe auch vor einigen Dingen Angst, seit meine Mama nicht mehr da ist.« Er spricht so leise, dass ich erst nicht realisiere, was er sagt.
»Was ist mit deiner Mum passiert?« Mein Blick gleitet zu seinem, der immer noch auf die Straße geheftet ist.
»Sie hat mich verlassen. Können wir jetzt das Thema wechseln?« Von den ansonsten so harten Gesichtszügen ist kaum noch was übrig. Für einen Moment kann ich in seinem Profil den weichen Ausdruck eines Jungen erkennen, der trauert. Doch der Moment währt nicht lange, weil er sich nach nur einem Blinzeln wieder verschließt.
Als wir in einen Feldweg einbiegen, löst er seine Hand von meinem Oberschenkel. Die Stelle wird augenblicklich kalt. Aber ich sage nichts. Auch nicht, als er wenig später vor einem großen Bauernhof parkt und das Auto ausmacht.
»Schön, dass du heute Abend mitgekommen bist.« Dann zieht er den Schlüssel ab und steigt aus. Ich folge ihm. Anstatt zur Haustür, gehen wir am Haus vorbei, bis wir zu einem weiteren Gebäude gekommen. Ich versuche mich auf die Umgebung zu konzentrieren, die weitentfernte Weide, auf der irgendwelche Tiere stehen, die Stallungen. Nicht an das Gespräch im Auto zu denken. An die Dinge, die er erzählt hat. An die Schwere in seiner Stimme. Daran, dass ich gerne mehr über ihn wissen will. Alles. Warum seine Mum ihn verlassen hat. Warum ihm immer alles egal zu sein scheint? Aber ich weiß, dass ich heute keine Antworten mehr bekomme. Zumindest nicht in den nächsten Stunden. Zusammen mit unseren Freunden.
Meine Aufmerksamkeit schweift wie von selbst von den grasgrünen Wiesen zu seinem Rücken. Über das dunkelblaue Hemd, das ich noch nie an ihm gesehen habe. Natürlich landet mein Blick bei seinem Hintern, der ausgesprochen gut in den ausgeblichen Jeans aussieht. Warum erwarte ich von ihm, dass er das ernst nimmt, wenn ich mich jedes Mal wie ein notgeiler Teenager in seiner Nähe aufführe? Doch als ich meinen Kopf hebe, treffe ich auf seine Augen.
»Sorry«, murmele ich. Hitze steigt in mir auf.
»Abgelenkt?«
»Nein«, erwidere ich etwas zu laut.
»Gib’s zu, du hast mir auf den Arsch gestarrt«, murmelt er.
»Träum weiter.« Daraufhin lacht er und ich mache demonstrativ einen Schritt zur Seite. Dann landet mein Blick auf dem Spannbetttuch, das an zwei Bäumen befestigt ist. Davor stehen einige Paletten, auf denen bunte Decken und Polster liegen. Während Ruven und Maxi versuchen, den Beamer so auszurichten, dass das Bild genau auf der Leinwand liegt, ist von Camille und Sara noch nichts zu sehen.
»Cap, kannst du mal meinen Laptop und das Ladekabel holen? Verlängerung habe ich hier«, kommt es von Ruven, kurz nachdem wir die beiden begrüßt haben.
»Nimm Dacre mit, die Mädels sind irgendwo im Haus und haben darauf bestanden, dass er ihnen bei den Snacks und Getränken hilft.« Bevor ich etwas antworten kann, sind die beiden wieder in ihrer Unterhaltung vertieft und Caps Hand landet auf meinem unteren Rücken. Ich habe keine Ahnung, wie ich den Abend überleben soll, wenn selbst die kleinsten Gesten von ihm dafür sorgen, dass meine ganze Haut kribbelt. Dass ich mich am liebsten in die Berührung drücken würde.
Doch der Moment währt leider nicht lange. Was wahrscheinlich auch besser ist. Cap bringt mich in die Küche, wo Camille und Sara gerade an der Kücheninsel stehen. Der Geruch von Popcorn und fettigem Essen kitzelt meine Sinne.
»Bis gleich«, kommt es von Cap und dann ist er verschwunden.
»Oh hey, Dacre«, begrüßt mich Camille und verteilt währenddessen überbackene Nachos auf den Tellern, die neben dem Herd stehen. Sara macht ein paar Schritte auf mich zu und zieht mich in ihre Arme.
»Alles klar? Du bist am Samstagabend so schnell verschwunden.«
Ich brauche einen Moment, um auf ihre Frage zu antworten, weil sich Samstagabend anfühlt, als wäre es Wochen her, dabei sind seither nur ein paar Tage vergangen. »Mir ging es nicht so gut«, antworte ich und zucke mit den Schultern. Am liebsten würde ich ihr alles sagen. Aber das ist nicht nur meine Geschichte, sondern auch die von Cap.
»Och Mann, Dacre. Du hättest doch ruhig was sagen können. Ich wäre mit dir nach Hause gekommen.« Ihr Ausdruck ist so weich, dass ich im selben Moment ein schlechtes Gewissen bekomme. Womit habe ich sie in meinem Leben eigentlich verdient?
»Du warst beschäftigt, da wollte ich dich nicht stören«, erwidere ich leise.
Es dauert nur einen Moment, dann legt sich eine leichte Röte auf ihre Wangen.
»Aber wenn es dir nicht gut geht, ist das wichtiger.«
»Meine Mum hat mich abgeholt. Alles ist also gut gewesen … Erzähl lieber mal von Ruven und dir.« Daraufhin läuft sie beinahe so rot an, wie ich, wenn ich an Cap denken muss.
»Ja, Sara, erzähl mal«, kommt es von Camille, die uns ein verschlagenes Grinsen schenkt. »Ich weiß nicht, was ihr meint.«
»Ja klar«, kommt es zeitgleich von Camille und mir.
»Wir haben getanzt und es war richtig schön.«
»Und?«, hakt Camille wissentlich nach.
»Vielleicht haben wir uns auch noch geküsst. Und bevor du jetzt noch weitere Fragen stellst, Cami, es ist nicht mehr passiert. Aber seit Samstag sind wir jeden Tag ununterbrochen am Schreiben.« Saras Blick wird noch eine Spur verträumter und ich wünschte, ich könnte den beiden auch von meinem Wochenende erzählen. Aber bevor ich überhaupt ansetzen kann, kommt Maxi in die Küche und erkundigt sich danach, wann das Essen fertig ist. Dabei weicht Camille jedem seiner Blicke aus. Ich schaue fragend zu Sara, die nur mit den Achseln zuckt und den Kopf schüttelt.
Wenig später tragen wir Schüsseln mit Popcorn, Nachos, Guacamole und Salsa Soße nach draußen.
»Ich habe noch Lichterketten mitgebracht.«
»Sara, das hier ist ein Männerkino«, entgegnet Maxi, der die Enden der improvisierten Leinwand mit Kabelbindern ausbessert.
»Das ist wieder so typisch«, kommt es von Camille, die einen genervten Blick in Maxis Richtung wirft.
»Sprich dich aus, Frau.«
Daraufhin lachen Ruven und Cap, weil sie wahrscheinlich genau wissen, wie das enden wird. Und ich auch. Weil ich dazu gehöre. Ein wohliges Gefühl flutet meinen Bauch, das wenig später zerstört wird, als mein Blick wieder bei Camille landet. Ihr Ausdruck ist so verschlossen, wie ich ihn nie zuvor bei ihr gesehen habe.
»Männer können Lichterketten auch mögen. Und jetzt mach Platz, weil wir ganz sicher welche aufhängen werden.«
Plötzlich sind alle still, weil jedem klar ist, dass das hier über ihre normalen Neckereien hinausgeht.
Maxi erwidert nichts mehr und macht Platz, als die beiden mit einem Korb voll Lichtern zu ihm gehen. Ich blicke zu Cap, der mir nur ein kleines Lächeln schenkt, bevor er sich den beiden Jungs zuwendet. Ich schließe mich den Mädels an und wir hängen still die Lichter in die Äste der beiden Bäume.
»Wo ist eigentlich Josh?«, frage ich Sara.
»Er ist die nächsten beiden Wochen in Tannstein, weil er noch eine Klausur nachschreiben muss.«
»Dacre, könntest du noch eine Kabeltrommel besorgen?«, kommt es von Camille und ich mache mich auf den Weg.
Wenig später sitzen wir auf den Paletten-Sofas und warten darauf, dass Ruven und Maxi sich darüber einig werden, welchen James-Bond-Film wir gucken werden.
Ich hatte gehofft, näher bei Cap zu sitzen, aber Sara hat mich flehend angeguckt und mehrmals in Camilles Richtung genickt. Es wäre wahrscheinlich sowieso komisch für alle gewesen, wenn Cap und ich uns plötzlich verstehen. Trotzdem werfe ich meinen Blick immer wieder in seine Richtung, auch als der Film schon einige Minuten läuft.
Ich greife nach der Schüssel mit dem Popcorn und treffe dabei auf Saras Finger. Sie schenkt mir daraufhin ein breites Lächeln und nimmt sich eine Handvoll raus. Das warme Gefühl von eben ist wieder da. Das Gefühl, von dem ich dachte, dass es das nur in Filmen gibt. Das ich versucht habe, mit Gaming zu füllen. Und mit Tilo. Ganz kurz bekomme ich ein schlechtes Gewissen, aber wenn ich mich umschaue, ist es, als wäre es nie dagewesen. Zwischen all den Lichtern, dem leisen Gemurmel und dem stetigen Knuspern von Essen merke ich, dass ich noch nie so glücklich gewesen bin.
»Soll ich dir noch ein Bier geben?«, kommt es von Sara, die links neben mir sitzt und den Eimer mit den gekühlten Getränken neben sich hat.
»Gern«, erwidere ich und nehme die nasse Flasche entgegen. »Es ist ziemlich perfekt hier«, murmele ich mehr zu mir, aber Sara hört mich trotzdem.
»Es freut mich, dass du glücklich bist.«
Nach dem Film diskutieren alle lautstark darüber, was wir als Nächstes gucken sollen, weil Sara und Camille nicht noch einen Actionfilm sehen wollen. Ich halte mich zurück und greife lieber nach einem weiteren Bier.
»Wie wäre es mit einem Horrorfilm?«
»Warum fällst du mir in den Rücken, Camille?« Ich schenke Sara einen mitfühlenden Blick, weil keiner einen Liebesfilm schauen möchte.
»Ja, Camille, warum ergreifst du immer nur Partei für dich?« Und mit einem Satz von Maxi kippt die Stimmung.
»Maxi, das war echt nicht okay, dass …«, beginnt Sara, wird aber von Camille unterbrochen, die aufspringt.
»Gib dir keine Mühe, Sara.« Dann geht sie einfach davon. Was zur Hölle war das?
»Alter, jetzt geh ihr schon nach«, höre ich Ruven, der seinem Freund einen Schubs gibt. Dann verschwindet auch Maxi und ich sitze immer noch sprachlos auf meinem Platz. Das Bier ist mittlerweile so warm wie die laue Sommerluft. Einige Minuten herrscht Stille, bis Ruven sie unterbricht.
»Lasst uns doch einfach Wonder Woman schauen, da gibt es doch bestimmt auch eine Liebesgeschichte, oder, Sara?«
»Okay … Aber sollen wir nicht lieber auf die beiden warten?«
»Ich glaube nicht, dass sie nochmal wiederkommen«, wirft Cap ein, von dem ich in den letzten Stunden ziemlich wenig mitbekommen habe. Vor allem weil Sara mir die Sicht versperrt hat und ich nicht zu häufig zu ihm gucken wollte, damit es nicht so offensichtlich wird.
Der Film läuft ein paar Minuten, als Ruven zu uns auf das Palettensofa kommt. Und er ist garantiert nicht hier, um mit mir zu kuscheln.
»Ich gehe mal aufs Klo«, sage ich und erhebe mich so schnell, dass ich beinahe gestolpert wäre. Vielleicht liegt es aber auch an dem Bier. Oder dem Gefühl von Zugehörigkeit. Ich will Cap nur einen kurzen Seitenblick zuwerfen. Letztlich treffe ich auf seine mitternachtsblauen Augen, die mich interessiert mustern.
»Kein Problem. Ich zeig dir, wo die Toiletten sind«, sagt er eine Spur lauter als sonst und mit einem Grinsen auf den Lippen, sodass es mir heiß und kalt den Rücken runter läuft. Ich bin direkt hinter ihm, als er eine der Türen öffnet und mich mit sich zieht. Einen Augenblick später ist er mir so nah, dass ich ihn beinahe schmecke.
»Hi«, murmele ich Oktaven zu hoch. Ein warmes Lachen verlässt seine Lippen. Ich könnte mich an diesen Moment gewöhnen.
An das Gefühl, so nah bei ihm zu sein. An seine Lippen auf meinen. An die kleinen Seufzer, die die Luft zwischen uns zum Flirren bringen. Seine Fingerspitzen, die über meine erhitzten Wangen streifen. Die Hitze, die meinen Körper in Flammen setzt und nichts im Vergleich zum Sommer vor der Tür ist. All das hier könnte ein Vorgeschmack davon sein, was wir sein könnten, wenn wir keine verschlossenen Türen bräuchten. Würde er mich so auch draußen küssen?
Als hätte er meine Gedanken gehört, löst er sich wenig später von mir. Mit dem Daumen fährt er über meine feuchte Unterlippe. Seine Blicke folgen dem Finger. Und nur Sekunden später lecke ich über seine Haut. Er schmeckt nach Nachos.
»Fuck«, haucht er, als ich seinen Finger in den Mund nehme. Die Hitze verschwindet, weil sich alles auflöst. Weil in diesem Moment nichts, außer seinem Blick auf mir und sein Geschmack in meinem Mund existieren. Während sein salziger Geschmack nach Sommer, Ferien und Unbeschwertheit meine Geschmacksknospen explodieren lässt.
Schwarz mischt sich in sein Mitternachtsblau, lässt mich erkennen, dass er genauso fühlt wie ich. Und das ist doch das Einzige, was zählt, oder? Ich lehne mich ihm noch ein Stück entgegen, drücke meine Lust gegen seine.
Doch nur einen Augenblick später tritt er zurück und nimmt alles mit. Die kribbelnde Hitze. Das Flattern in meiner Brust. Das Gefühl von Nähe.
»Wir müssen aufhören«, haucht er. Und die Erklärung warum, bleibt er mir auch später noch schuldig.
Auch dann noch, als wir längst wieder draußen sind und ich neben ihm sitze. Als der Geschmack nach ihm immer noch auf meiner Zunge liegt.
Ich würde mich gerne näher an ihn drücken. Ihm ins Ohr flüstern, wie sehr ich die Momente allein mit ihm genieße.
Aber er rutscht immer ein Stück weg, wenn ich meinen Oberschenkel gegen seinen drücke. Wahrscheinlich damit Sara und Ruven nichts mitbekommen. Dabei sind die beiden viel zu sehr damit beschäftigt, sich heimlich Blicke zuzuwerfen. Immer dann, wenn der andere gerade nicht guckt.
Den beiden dabei zuzusehen, ist beinahe spannender als der Film. Und es lenkt mich von dem Gedanken ab, dass Cap das nicht will. Von der drückenden Schwere in meinem Magen. Davon, dass Caps Nähe, seit wir uns eine Decke genommen haben, präsenter wird. Ich seine Atemzüge spüre, höre, wie er Nachos kaut und dabei kleine Schmatzgeräusche macht. Obwohl er mir so nah ist, waren wir uns nie ferner. Zumindest nicht in den letzten Wochen. Ich darf ihn nicht anfassen. Ihm nicht sagen, wie ich fühle. Irgendwann legt er seine Hand über meine. Unter der Decke. Auch wenn ich mehr verdient hätte, macht mein verräterisches Herz einen kleinen Sprung und beruhigt sich erst wieder, als ich ein paar Stunden später in seinem Bett einschlafe.
Tilo (19:52): Warum werden Menschen fertig gemacht, weil sie schwul sind? Oder eine andere Hautfarbe haben?
Tilo (20:23): Das werde ich echt nie verstehen.
Dacre (01:05): Wer entscheidet, was richtig und falsch ist? Warum das eine der Norm entspricht und das andere nicht?
Dacre (01:11): Ich hoffe, es ist nichts Schlimmes passiert?
Tilo (01:21): Ach nichts Besonderes … Nur die üblichen Dinge, wie dass Pauls Sachen aus der Dusche geklaut wurden und irgendwer Schwuchtel an unsere Tür gepinselt hat.
Tilo (01:43): Paul sagt immer, dass ihm das nichts ausmacht und er das nicht anders kennt, aber ich ertrage das nicht mehr, nachts aufzuwachen, weil er weint.
Dacre (01:48): Oh Mann. Das tut mir richtig leid … Kann ich irgendwas machen? Willst du telefonieren?
Tilo (01:55): Danke. Ne. Er ist gerade eingeschlafen, will ihn nicht wecken.
Dacre (01:56): Okay. Ich hoffe echt, dass es besser wird.
Tilo (01:57): Ich auch. Gute Nacht.
Dacre (01:59): Nacht :).