17
Abschiede und Aussprachen
Eine Woche. Es ist eine Woche her, seit ich zuletzt mit TJ und Sandura kommuniziert habe. Eine Woche, in der ich alle Nachrichten der beiden ignoriert habe. Die Nachrichten, die schon vor zwei Tagen aufgehört haben.
Keine Ahnung, warum ich genau heute entscheide, mich all dem zu stellen. Vielleicht, weil es einfacher ist, als Cap zur Rede zu stellen. Weil mir Myrsky nicht mehr so viel bedeutet wie er. Sandura und TJ sind online. Ich warte. Darauf, dass sie sich bei mir melden. Darauf, dass mich der Mut verlässt. Minuten vergehen, bevor ich die beiden anrufe. Beinahe hoffe ich, dass sie nicht dran gehen.
Sie gehen dran.
»Hi«, sage ich und knete meine Hände.
»Dass du echt die Eier hast …«
»TJ, mach einen Punkt. Wir haben darüber geredet«, kommt es von Sandura und TJ verstummt. Mein einstiger Schulfreund scheint besser mit ihr klarzukommen als mit mir, dabei haben wir Sandura noch nie im richtigen Leben getroffen.
»Es tut mir leid, dass ich mich einfach nicht gemeldet habe. Es gibt jemanden in meinem Leben und gerade will ich mir dafür mehr Zeit nehmen. Ich hätte viel früher was sagen sollen, aber ich habe das wirklich nicht kommen sehen.« Ich atme aus und merke wie viel leichter sich die nächsten Atemzüge anfühlen.
»Das freut uns total Dacre. Wirklich.«
»Na ja, mich nicht«, wirft TJ dazwischen.
»Tim Julian.«
»Wir verlieren gerade unseren besten Mann an irgendein Mädel.«
»Bester Mann?«, frage ich lachend.
»Zweitbester. Nach mir natürlich«, entgegnet er mürrisch.
»Jaja. Was TJ sagen will, ist, dass wir glücklich sind, wenn du es bist.«
»Weiber«, kommentiert TJ und seufzt theatralisch.
»O Mann … Also wir freuen uns, aber das bedeutet, dass du raus bist, stimmt‘s?«
»Ja«, sage ich. »Ich liebe euch …«
»Jetzt fällt er mir auch noch in den Rücken«, kommt es von TJ, den ich geflissentlich ignoriere.
»Aber ich würde euch nur aufhalten. Ich bin raus aus der Gilde, dem Kanal und dem Contest.« Ich schlucke hart. Warte darauf, dass sich die Entscheidung falsch anfühlt. Dass die Bauchschmerzen schlimmer werden. Stattdessen löst sich endlich der Druck auf meiner Brust. Ich habe Myrsky geliebt. All die Stunden, die wir investiert haben. All die nächtlichen Schlachten, die wir gemeinsam geschlagen haben. Die ersten Abonnenten, die sich auf unseren Kanal verloren haben. Die Ziele, die wir gemeinsam erreicht haben. Die Gespräche, in denen wir davon geträumt haben, irgendwann zusammen ein Spiel zu entwerfen.
Auch wenn ich all das verdammt vermissen werde, weiß ich, dass ich gerade nicht mit dem Herzen dabei bin. Dass wir schon länger keine Abonnentenzahlen oder Erfolge gefeiert haben. Dass wir mehr geflucht und geplant als gelacht und geträumt haben. Dass ich gerade mein reales Leben mehr mag als je zu vor. Mehr als mein virtuelles.
»Es ist übrigens kein Mädel, sondern ein Kerl«, füge ich noch hinzu.
»Egal, ich schulde Sandura so oder so einen Zwanziger. Nie im Leben dachte ich, dass du mal irgendwas über Myrsky stellst, nicht mal ‘nen Kerl.«
»Was soll ich jetzt dazu sagen?«, erwidere ich lachend und lehne mich in meinen Stuhl zurück.
»Ich kann gar nicht glauben, dass du jetzt gehst«, kommt es von Sandura.
»Krieg dich mal ein, es ist nicht so, als würden wir nichts mehr von D hören. Vielleicht können wir trotzdem nochmal irgendwann ein Ründchen spielen.«
Eigentlich wissen wir alle drei, dass keiner von uns die Zeit dafür hat. Ich habe eben auf Ashes of Auringon gesehen, dass TJ und Sandura jetzt zwei Tage mehr die Woche streamen. Und ohne Training wird das gemeinsame Gaming wahrscheinlich weder ihnen noch mir Spaß machen.
»Ja, können wir gerne mal festhalten. Ich hoffe, ihr habt ein paar coole Menschen dazu bekommen und der Contest läuft so, wie ihr euch das gedacht habt.«
»Wir wünschen dir ganz viel Glück in der Liebe und hoffentlich bis bald.«
»Bis dann«, sage ich schnell, bevor TJ es wieder schafft, den Moment zu versauen.
Dann wähle ich mich aus und lege mein Headset zur Seite.
Das war es also. Ich atme tief durch. Betrachte das Icon von Myrsky und überlege, ob ich was spielen soll. Ganz allein, nur für mich.
Meine Gedanken wandern zum heutigen Abend. Camilles Geburtstag. Ich will später nicht wieder getrennt zu unseren Freunden fahren wie davor. Bevor ich wusste, wie er schmeckt. Wie es sich anfühlt, mit ihm zusammen zu sein.
Noch bevor ich es richtig realisiere, stehe ich vor seiner Tür und bin froh, dass Mum und Robert auf einem ihrer Wochenendausflüge sind. Trotzdem komme ich mir albern vor, immer wieder die Hand zum Klopfen zu heben und dann doch wieder einen Rückzieher zu machen. Als wäre das so schon nicht erniedrigend genug, hat sich Sir Theobald noch zu mir gesellt.
Er beobachtet mich herablassend aus seinen gelben Augen und lacht wahrscheinlich hinter vorgehaltener Pfote über mich. Oder er leckt sich über das Fell. Von hier aus kann ich das nicht genau beurteilen.
»Miau miauu«, kommt es von ihm und es klingt ein bisschen wie: »Traust dich doch sowieso nicht.«
Ich versuche, finster zu ihm zurückzublicken. Daraufhin schenkt er mir nur ein müdes Gähnen. Was stimmt bitte mit dem Kater nicht? Mit meinem Fuß gebe ich ihm einen kleinen Stoß, weil ich mich nicht länger von ihm verspotten lassen will.
»Was hat Theo dir getan?« Klar. Natürlich kommt Cap genau jetzt aus seinem Zimmer. Was soll ich ihm darauf sagen? Dass sich der Kater über mich lustig gemacht hat? Sehr erwachsen, Dacre.
Ich schenke dem Tier noch einen letzten, vernichtenden Blick, der an ihm abperlt, als wäre sein getigertes Fell mit Öl überzogen.
»Können wir reden?«
»Worüber?«, fragt er und verschränkt die Arme vor der Brust. Mir fällt auf, dass er kein Shirt trägt. Super.
»Können wir einfach in dein Zimmer?«
»Wenn‘s sein muss.« Er geht zurück in sein Zimmer. Ich betrachte ihn. Könnte mich ohrfeigen dafür, dass ich ihm auch ohne Gespräche verzeihen würde. Dabei macht mich seine Distanziertheit wütend. Ich fühle mich Wochen zurückversetzt und verstehe nicht, was passiert ist, dass er sich mir gegenüber so verhält. Ganz langsam verschwindet die Unsicherheit, die mich immer als Erstes nachgeben lässt. Die, die immer nach Harmonie sucht, egal um welchen Preis. Ich schließe die Tür. Vielleicht etwas zu laut. Aber das ist mir egal. Ich will, dass er mir in die Augen sieht und mir sagt, was sein Problem ist.
»Dann red‘ mal, Dacre.«
Er steht zu weit weg. Zwischen uns klafft ein Abgrund voll ungesagter Worte und Gefühle. Alles wabert über dem Laminat. Niemand ist gewillt einen falschen Schritt zu machen. Vielleicht ist es aber auch einfach schon zu spät, um jetzt noch auf Zehenspitzen durch den Raum zu gehen. Zu spät, um für etwas zu kämpfen, das nie da war.
»Also ist das jetzt das Ende?«, frage ich resigniert und versuche, den Herzschlag, der in meinen Ohren widerhallt, zu ignorieren. Versuche, meinen Ausdruck so neutral wie möglich zu halten, damit er nicht erkennen kann, was das alles mit mir macht. Was ich für ihn fühle. Erfolgreich bin ich damit wahrscheinlich nicht. Aber er steht sowieso zu weit weg, um irgendwas zu erkennen.
»Ja. Was denkst du denn?« Die Kälte in seiner Stimme lässt mich frösteln. Hinterlässt eine Gänsehaut, die ich wahrscheinlich nie wieder loswerde.
»Warum?« Die Unsicherheit ist wieder zurück und schmückt jeden meiner Buchstaben. Mit den Fingerspitzen fahre ich über den Rand meines Shirts. Ich kann nicht in seine blauen Augen schauen, weil sie mir kalt und leer entgegenblicken.
»Dacre … Ich kenne Karin noch nicht so lange, aber auch ich weiß, wie neugierig sie ist. Meinst du nicht, sie würde jetzt genauer hinschauen? Mitbekommen, wenn du mein Shirt trägst? Deine Boxershorts in meinem Wäschekorb liegen? Wenn du dich morgens zurück in dein Zimmer schleichst? Meinst du nicht, ihr fällt irgendwann auf, dass ich keine Frauen mehr mit nach Hause bringe? Dass meine verdammte Bettdecke nur noch nach dir riecht?« Seine Stimme ist leiser geworden. Genau wie der Ausdruck in seinen Augen.
Ich mache einen Schritt auf ihn zu. Erkenne erst jetzt die angespannten Schultern.
Die zusammengepressten Lippen. Die Zerrissenheit in dem tiefen Blau seiner Augen, die genau widerspiegelt, was auch ich fühle.
»Was wäre denn so schlimm daran? Was ist, wenn wir aufhören, uns zu verstecken? Wenn wir dem Ganzen einen Namen geben?«, frage ich atemlos und unbedacht. Naiv. Selbstverletzend.
Ich halte die Luft an und versuche, keine seiner Reaktionen zu verpassen. Die Lider, die er schließt, nur um sie langsamer wieder zu öffnen und mir ein Meer aus Verzweiflung und Angst zu offenbaren. Einen Ausdruck, den ich so in seinem Blick noch nie gesehen habe.
»Ich bin nicht so weit«, flüstert er mit zitternder Stimme.
Warum kann er nicht aussprechen, was er wirklich fühlt? Warum kann er nicht zugeben, dass es das Gleiche ist, das auch ich empfinde? Mein Herz rast so schnell, dass ich nicht weiß, wie ich es aufhalten soll. Dass ich nicht erkenne, ob es Zeit ist, aufzugeben. Dass ich nicht weiß, ob ich alles schon gegen die Wand gefahren habe, oder noch früh genug auf die Bremse gegangen bin.
»Ich bin noch nicht bereit, das hier aufzugeben«, spreche ich das aus, was ich fühle.
»Was machen wir jetzt?«
Keine Ahnung. Wenn ich darauf die Antwort wüsste, würden wir wahrscheinlich nicht hier stehen. Dann ständen wir nicht so weit voneinander entfernt. Oder eben noch weiter.
»Ich bin nicht genug.« Ich höre ihn kaum. Weil ich so abgelenkt von dem Schmerz in dem tiefen Blau seiner Augen bin. Weil das Blut in meinen Ohren so laut rauscht, dass seine Stimme einem leisen Flüstern gleicht.
»Was?«, frage ich also, weil ich glaube, mich verhört zu haben.
»Ich glaube nicht, dass dir das hier ausreicht«, sagt er dann und zeigt von sich auf mich und wieder zurück. Wahrscheinlich habe ich ihn eben wirklich nicht richtig verstanden.
»Das würde ich gerne selbst entscheiden«, erwidere ich und mache einen Schritt auf ihn zu.
»Dacre.« Zerrissen zwischen seinem flehenden Unterton und der Angst, dass er recht hat, komme ich ihm noch näher. Er weicht nicht zurück. Ich weiß nicht, ob es das Dümmste ist, was ich je getan habe. Aber wie kann es schlecht sein, meine Lippen auf seine zu legen, wenn es sich so richtig anfühlt? Wenn sich plötzlich die vergangenen Tage wie ein Traum anfühlen und nicht das hier? Nicht sein leises Seufzen, das durch meinen Körper vibriert.
Unser Kuss ist zärtlich. So zaghaft, als wäre das hier das erste Mal. Als hätte er es auch vermisst. Mich vermisst. Ich weiß nicht, wie lange wir in seinem Zimmer stehen. Wie oft meine Finger über seine nackte Haut streifen. Wie häufig ich seinen Namen flüstere. Caspar. Ich habe keine Ahnung, warum wir keinen Schritt weitergehen. Warum er mir mein Shirt nicht auszieht. Warum er mich nicht in sein Bett trägt, obwohl er es könnte.
All das will ich sagen, aber ich schaffe es nicht, meine Lippen von seinen zu lösen. Irgendwann stört es mich nicht mehr. Weil ich alles um uns herum vergesse.
Dass wir uns immer noch keinen Namen gegeben haben.
Dass ich nicht weiß, ob es mir reicht, ihn nur hinter verschlossenen Türen zu berühren.
Dass wir es vielleicht lieber sein lassen sollten.
Dass ich nicht nur auf dem besten Weg bin, mich in ihn zu verlieben, sondern dass ich es schon Hals über Kopf getan habe.
Ein Schauer läuft mir den Rücken hinunter. Ich will es ihm sagen. Ihm erzählen, was ich fühle, wenn sein Mund auf meinem liegt. Seine Finger durch meine Haare streichen. Wenn er mich mit so viel Zuneigung anschaut, dass ich mich besonders fühle. Aber sobald er mit seiner Zunge über meine Lippen leckt, kann ich mich an nichts davon mehr erinnern. Also gebe ich mich einfach hin. Drücke mein Becken gegen seins, um ihm zu zeigen, was ich will.
Er fährt mit den Händen über meinen Rücken. Hinterlässt Gänsehaut, obwohl mein Körper in Flammen steht.
Dann hebt er mich hoch und ein erschrockener Laut verlässt meine Lippen. Ich spüre sein Lachen an meinem Mund. Nie habe ich etwas Schöneres gefühlt.
Wir landen in seinem Bett. Küssen uns weiter, ohne dass einer von uns den nächsten Schritt macht. Irgendwann löst er sich von mir und betrachtet mich aus dunklen, verhangenen Augen. Ich schlucke hart, weil das der Moment ist, wo ich es ihm sagen könnte.
»Wir müssen gleich los. Schau mich also bitte nicht so an.«
»Wie?«, frage ich und lecke mir über die Lippen. Daraufhin grinst er nur und streicht mit den Fingern durch meine roten Locken.
»Können wir nicht einfach hierbleiben?«
»So nervig ich Camille manchmal finde, ich glaube nicht, dass sie das besonders cool fände. Außerdem wären Maxi und Ruven ziemlich angepisst.« Natürlich hat er recht, aber ich will am liebsten immer hier liegen. In dem kleinen Kosmos, den wir uns erschaffen haben.
»Was ist das eigentlich mit Maxi und Camille?«, frage ich ihn.
»Ich habe keine Ahnung. Ich kann nicht mal sagen, ob die beiden mehr Zeit zusammen oder getrennt sind. Das ist praktisch schon so, seit wir die Mädels kennengelernt haben. Wahrscheinlich wird sich das nicht ändern, außer einer von beiden macht den nächsten Schritt. Oder lernt jemand anderen kennen.«
Merkt er, dass die letzten beiden Sachen nach uns klingen? Dass Maxi und Camille vielleicht auch Angst haben, dass der andere nicht so empfindet?
»Mich wundert es, dass du nicht nach Ruven fragst.«
»Er ist dein bester Freund, es wäre nicht fair dich auszuhorchen.«
»Falls es dich beruhigt, er ist der Beste von uns allen. Und er mag Sara sehr.«
»Du hast den Sinn von Freundschaft nicht begriffen, oder?«, sage ich und boxe ihn spielerisch gegen die Brust.
»Wenn man es ihm so deutlich ablesen kann, ist es ja wohl kein Geheimnis mehr, dass er auf Sara steht. Eigentlich bin ich sogar ein ziemlich guter Freund, weil ich hoffe, dass du es ihr erzählst und die beiden endlich zusammenkommen. Dann wären beide glücklich und könnten bis zu ihrem Lebensende zusammen sein, mit all dem kitschigen Pärchenkram. Heiraten. Kinder. Für immer und so.«
»Das klingt nicht so, als wäre das etwas, dass du dir für dein Leben wünschst.« Was ist, wenn ich das alles will? Wenn ich will, dass mir jemand die Welt zu Füßen legt, mir einen kitschigen Heiratsantrag macht und am Altar Tränen in den Augen hat, wenn ich ihm gegenüberstehe?
»Was bedeutet denn für immer? Darf sich in dem für immer etwas verändern? Mein Leben, was ich gerade führe, will ich nicht für immer haben. Ich will nicht für immer darauf hoffen, glücklich zu werden. Oder darauf, dass sie wieder zurückkommt.«
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Also greife ich nach seiner Hand und verschränke meine Finger mit seinen. Ich frage mich, ob sie weiß, was sie ihm angetan hat.
Tilo (20:22): Es ist Cap, oder?