18
Mut und Maracuja-Korn
Ich starre mein Handy an und versuche, mir nichts anmerken zu lassen. Was soll ich darauf antworten? Ich lüge Tilo nie an. Mein Blick wandert durch Camilles Wohnzimmer, in dem sich einige mir unbekannte Menschen sammeln. Als Sara mir von Camilles Geburtstag erzählt hat, habe ich damit gerechnet, dass wir nur zu siebt sind. Aber es sind noch einige ihrer Freunde aus Tannstein gekommen.
»Hey, ich habe dir was zu trinken besorgt. Alles gut?« Sara tritt neben mich und ich nehme den Becher dankbar entgegen. Ich stecke mein Handy weg. Vielleicht finde ich später die richtigen Worte.
»Komm, wir gehen mal zu den anderen.« Ich folge ihr, weil ich keine Ahnung habe, wo ich sonst hin soll. Oder wo ich sonst zwischen all den Studenten hingehöre. Cap hat mich relativ schnell verlassen, als wir bei Camille angekommen sind. Wobei verlassen auch das falsche Wort ist, weil er sich zu irgendwelchen Eishockey-Spielern gesellt hat, bei denen ich mich am allerwenigsten sehe. Ich weiß nicht mal, wie viele Spieler pro Team auf der Eisfläche sind, geschweige denn, was die Regeln sind.
»Das ist Dacre«, stellt mich Sara vor, als wir bei einer Gruppe Mädels ankommen. Mir steigt die Hitze in die Wangen und ich blicke zu den unterschiedlichen Schuhen. Dann hebe ich den Kopf. Einige lächeln mir zu. Niemand lacht oder ignoriert mich. Ich nehme noch ein paar Schlucke von dem süßen Getränk und lasse den Blick durch den Raum gleiten.
»Müsst ihr diese Ferien kein Praktikum machen?«, fragt irgendwer, aber ich höre gar nicht mehr richtig hin, als ich ihn entdecke. Er steht immer noch bei den Jungs, die in Sportkleidung gekommen sind. Allerdings haben sich mehrere Frauen zu ihnen gesellt. Und zwei davon stehen bei Cap. Es sollte mir egal sein, weil ich ja schließlich heute Nacht bei ihm im Bett schlafe. Oder? Haben wir je darüber gesprochen, was mit anderen ist? Muss man darüber reden? Wenn man sich doch mag, muss man nicht noch was mit anderen anfangen, oder?
Saras Berührung an meiner Schulter reißt meine Aufmerksamkeit zurück zu dem Kreis von Studentinnen.
»Maya hat gefragt, was du studieren willst, wenn du mit der Schule fertig bist.«
Ich nehme von meinem Getränk und merke zu spät, dass der Becher schon leer ist. »Ich habe überlegt was im Bereich … Game-Design oder -Entwicklung zu studieren«, antworte ich und versuche herauszufinden, wer Maya ist.
»Das klingt super spannend. Da gibt es aber nicht viele Unis in Deutschland für, oder?«
»Stimmt. Ich müsste mich auch dringend mal um das Portfolio kümmern, das ich für meine Bewerbung brauche«, antworte ich der Brünetten.
»Wolltest du nicht nach Tannstein kommen?«, fragt Sara.
Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Ich zucke mit den Schultern und hoffe, dass sie ein anderes Gesprächsthema finden, damit ich mir was zu trinken holen kann. Und Cap beobachten kann. Augenblicke später geht es um irgendwelche Konzerte in einem Club in Tannstein und ich kann mich unauffällig verdrücken. In der Küche fülle ich mir einen Becher und trinke ihn beinahe an Ort und Stelle.
»Hey, Dacre.«
Ich verschlucke mich, ringe nach Luft und huste so kräftig, wie ich kann. Jemand schlägt mir mit der Hand auf den Rücken.
Durch tränenverschleierte Augen erkenne ich Ruvens dunkles Haar. Als ich endlich wieder Luft bekomme, bedanke ich mich bei ihm.
»Wir hatten irgendwie einen blöden Start … Ich wollte dir nur sagen, dass ich kein Problem mit dir habe. Und nie hatte. Cap war anfangs nicht so begeistert, wenn du mit dabei warst und … er ist mein bester Freund. Ich wollte also nur sagen, dass ich dich cool finde. Ich mag es, wenn du mit dabei bist.« Er lässt seine Hände in den Hosentaschen verschwinden und grinst mir verschmitzt zu.
»Ist das Saras Werk?«, frage ich lachend und nehme den letzten Schluck aus meinem Becher.
»Na ja … ja, sie meinte, ich hätte mich dir gegenüber nicht fair verhalten. Sie mag dich und ich sie, also fände ich es schön, wenn wir auch Freunde werden.«
Keine Ahnung, was das für ein Sommer ist. Warum ich plötzlich so viele Freunde habe wie nie zuvor. Warum Leute mich cool finden, obwohl ich doch genau der gleiche rothaarige Nerd bin wie vor dem Sommer. Nur, dass ich jetzt mehr Zeit in der Realität verbringe. Vielleicht war genau das das Problem in den letzten Jahren? Die fehlende Realitätsüberprüfung.
»Danke.« Wofür eigentlich?
»Ich find dich auch cool.«
Darauf kassiere ich ein breites Grinsen von Ruven, was mich wahrscheinlich schon wieder rot anlaufen lässt. Aber was soll ich darauf auch antworten? Ich nehme mir noch was von dem Maracuja-Korn aus dem Kanister, bevor ich mich zurück zu Ruven drehe.
»Jetzt, wo du und Cap euch besser versteht, kannst du ja mal an einem Wochenende in der WG vorbeischauen?«
Auch wenn mich sein Angebot freut, wünschte ich, dass es von Cap kommen würde. Ich zucke nur mit den Schultern. Ein unangenehmes Schweigen legt sich über uns, das auch von der Geräuschkulisse und der Musik aus dem Wohnzimmer nicht geschluckt werden kann.
»Ich gehe mal wieder zurück«, kommt es dann von Ruven, bevor er sich mit einem Nicken verabschiedet. Ich verharre noch einen Moment, weil ich keine Lust habe, wieder zurückzugehen. Mir vor Augen führen zu lassen, dass ich weder zu den Studenten, noch zu Cap gehöre. Cap. Meine Füße tragen mich dann doch zurück in den Raum, der beinahe so groß ist wie eine Etage in Roberts Haus.
Er steht nicht mehr bei den Eishockey-Jungs. Zum Glück. Mein Blick streift Sara, die mir kurz zuwinkt. Ich will mich gerade in Bewegung setzen, da sehe ich ihn auf der Couch mit einer der beiden, die eben noch mit ihm bei den Jungs standen. Super . Obwohl die zwei nicht alleine auf der Couch sitzen, ist meine Aufmerksamkeit doch nur auf sie reduziert. Und für meinen Geschmack sind sie sich zu nahe.
Ich trinke was und versuche, sie nicht zu auffällig über den Becherrand zu mustern.
»Hier bist du also.« Hätte ich ihn vorher nicht schon geleert, wäre der Rest des Alkohols in meinem Gesicht gelandet.
»Mann, Camille«, erwidere ich und lege mir gespielt erschrocken die Hand auf die Brust. Daraufhin lacht sie nur und kommt mir noch ein Stück näher.
»Da läuft nichts.«
»Wo?«, frage ich gespielt unwissend.
»Ich würde jetzt ungern hinzeigen, weil Cap dann auf jeden Fall mitbekommt, wie du ihn den ganzen Abend beobachtest.«
»Das halte ich für ein Gerücht. Hast du nicht Gäste, um die du dich kümmern musst?«
»Dacre!« Sie seufzt und packt dann nach meinem Arm, um mich mit sich zu ziehen.
»Wir tanzen ‘ne Runde.« Ganz sicher nicht. Hier sind Menschen, die ich nicht kenne. Es reicht schon, dass ich überall wegen meiner Haare auffalle, dann muss ich nicht noch die einzige tanzende männliche Person im Raum sein.
»Ich will nicht.«
»Komm schon, Dacre. Du hast doch sonst so einen Spaß daran und die anderen tanzen auch.«
»Kann ich mir zuerst noch was zu trinken holen?«
»Kommst du danach denn zu uns?«
»Klar.« Ich versuche, meine Antwort ganz frei von Ironie abzugeben.
»Bitte Dacre! Letztes Wochenende hat das so Spaß gemacht.« Spaß wäre jetzt nicht das Wort, was den Abend im Nachtcafé treffend zusammenfassen würde.
»Ich bin gleich wieder zurück.«
»Ich nehme dich beim Wort.« Besser nicht.
Auf dem Weg zur Küche schnellt mein Blick zur Couch und zu der Hand von dem Mädel, die auf dem Oberschenkel von Cap liegt. Ich würde am liebsten hingehen und sie an ihren blonden Haaren auf Abstand ziehen. Was soll das denn?
Mein Magen zieht sich unangenehm zusammen und ein bitterer Geschmack legt sich auf meine Zunge. Ich habe das Gefühl, dass dagegen auch kein Korn hilft. Warum hat Cap mit ihrer Nähe kein Problem? Warum kann er mit ihr ganz entspannt auf der Couch zusammensitzen, während das mit mir ein Problem ist? Zumindest, wenn ich ihm so nah bin wie sie.
Egal, wie lange ich die beiden beobachte, Caps Aufmerksamkeit liegt die ganze Zeit bei ihr. Frustriert bediene ich mich an dem Kanister und leere meinen Becher auf ex. Vielleicht ist es mir irgendwann egal, wenn ich genug trinke. Vielleicht kann ich dann auch mal Spaß haben. So wie er. Ich fülle mir nochmal nach, bevor ich zurück ins Wohnzimmer gehe. Mittlerweile fühlt es sich aber eher an, als würde ich über den Marmorboden schweben. Mein Kopf fühlt sich an wie in Watte gepackt. Und wenn ich mich ganz doll konzentriere, sehe ich Cap gar nicht mehr.
»Oh hey, Dacre, ich habe dich schon vermisst.«
Ich grinse Sara an. Wenigstens einer im Raum. Sie lächelt etwas irritiert zurück, bevor sie sich wieder dem Gespräch zuwendet. Ich stehe einfach daneben, als würde ich dazugehören, dabei bin ich davon weit entfernt. Aber das ist mir egal. Mit der Musik in meinen Gliedern, dem süßen Saft auf meiner Zunge und der Sorglosigkeit in meinem Kopf, ist gerade alles egal. Ich kann meinen Körper nicht aufhalten, der sich im Takt bewegt. Den Gesprächen kann ich vielleicht nicht mehr folgen, aber All Time Low , die aus den Boxen tönen.
»Erwischt.« Ich habe nicht mitbekommen, dass sich Camille zu uns gestellt hat, und höre abrupt auf, mich zu bewegen. Dann legt sie ihren Arm um meine Taille und zieht mich näher zu sich.
»Du schuldest mir noch einen Tanz.« Als sie sich dann mit mir in Bewegung setzt, merke ich, warum sie sich an mir festklammert. Sie scheint deutlich mehr getrunken zu haben als ich.
»Huch«, stoße ich aus, als wir beinahe mit einer anderen Gruppe kollidiert wären.
»Lass uns mal nach den Jungs gucken.« Einerseits gefällt es mir, dass sie vom Tanzen ablässt, andererseits gibt es jetzt ein weiteres Problem. Maxi und Ruven spielen Beerpong gegen Cap und die Blondine. Super. Cool.
Ich mustere ihn unauffällig. So lange, bis Camille mich anstößt. Wenigstens muss ich mir so nicht weiter anschauen, wie sie ihm schöne Augen macht. Wahrscheinlich bekommt sie am Ende auch das, was sie will. Und wahrscheinlich bleibt es nicht nur beim Küssen. Plötzlich sind meine Gedanken gespalten in zwei Lager. Das eine stellt sich vor, wie sich Sex mit Cap anfühlt. Ein heißer, aber auch völlig unangebrachter Gedankengang in einer großen Menschenmenge.
Im anderen Lager spielt sich leider das genaue Gegenteil ab.
Was ist, wenn er Sex mit jemand anderem hat, während er abends neben mir im Bett schläft? Ich schlucke hart, weil ich das Gefühl habe, dass der Korn sich wie Säure meine Speiseröhre entlang hangelt und auf dem Weg jede Zelle verbrennt.
»Dacre.« Camilles Stimme reißt mich aus dem Tagalbtraum.
Aber als ich ihr meine Aufmerksamkeit schenke, hat sie bereits dem Kerl zu ihrer Rechten zugewandt, der eben noch nicht hier gestanden hat. Ich betrachte den leeren Becher in meinen Händen. Vielleicht sollte ich mir nochmal was zu trinken holen. Allerdings habe ich die Befürchtung, dass der Alkohol das Gefühl von Eifersucht auch nicht in den Griff bekommt. Langsam hebe ich den Kopf und merke, wie mein Hirn jeder meiner Bewegungen folgt. Was hat sie nur, was ich nicht habe?
Vom Offensichtlichen – Brüsten - mal abgesehen. Sie ist hübsch. Wahrscheinlich nicht mal halb so ängstlich wie ich, sonst würde sie ihn nicht bei jeder sich bietenden Gelegenheit antatschen. Ihre Haare haben keinen nervigen Rotstich und die Sommersprossen in ihrem Gesicht sehen süß aus. Nicht wie bei mir, wo es wirkt, als hätte ich eine Pigmentstörung. Ich blicke zu meinen Fußspitzen.
Vielleicht sollte ich Mum einfach anrufen. So wie letztes Wochenende. Als die Blondine Cap bei meinem nächsten Aufblicken am Arm zu sich zieht, verändert sich etwas in mir. Keine Ahnung, ob es der Alkohol ist, der mir den kurzen Mutausbruch beschert, oder ob das immer schon in mir war.
Als ich sehe, dass er sich zurücklehnt, anstatt ihr entgegenzukommen, greife ich nach meinem Handy. Es braucht genau zwei Anläufe, bis ich meinen Code eingetippt und unseren noch leeren Chat geöffnet habe.
Dacre @ Cap (0:03): 10 Minuten Bad.
Meine Finger zittern. Mein ganzer Körper kribbelt, während ich darauf warte, dass er in seine Hosentasche greift. Als er es dann wenige Atemzüge später tut, frage ich mich, was in mich gefahren ist. Er hebt seinen Kopf und schaut sich suchend um.
Als sich unsere Blicke endlich begegnen, schlägt mein Herz so heftig, dass ich Angst habe, dass es meinen Brustkorb durchbricht. Die Hitze, die durch meinen Körper schießt, spült noch mehr Mut in meine Zellen. Ich zwinkere ihm zu und lecke mir kurz über die Lippen. Er senkt seinen Blick. Der Moment ist vorbei.
Was zur Hölle ist eigentlich los mit mir? Einzig die Hitze in meinem Gesicht bleibt zurück, als sich mein Mut verabschiedet.
Seine Stirn legt sich derweilen in Furchen und er steckt das Handy zurück. Ohne zu antworten. Shit. Großartig .
Wahrscheinlich habe ich jetzt alle Chancen verspielt, die ich hatte. Vor allem nach dem Gespräch, bevor wir gefahren sind. Ich drehe mich um und gehe. Schenke ihm keinen letzten Blick mehr, weil ich mir nicht mehr mit ansehen will, wie ihn jemand anderes einfach berühren darf. Wo ich darauf warten muss, dass wir hinter geschlossen Türen sind, damit er mich wenigstens mal anschaut.
Ich bleibe im Flur von Camille stehen. Es ist eigentlich schon zu spät, um Mum anzurufen. Obwohl sie mich immer abholen würde, das weiß ich. Aber anstatt ihr jetzt direkt Bescheid zu geben, könnte ich auch einfach noch zehn Minuten warten. Zum Beispiel im Badezimmer. Die Hoffnung trifft mich genauso unvorbereitet wie der Funken Mut, den mir der Alkohol gegeben hat.
Dacre (23:58): Ich kann dich nicht anlügen.
Tilo (00:02): Oh Dacre