21
Erinnerungen und Erkundungen
Die nächsten Tage vergehen und fühlen sich genauso unglaublich und zeitgleich unwirklich an wie die ersten Wochen der Ferien. Cap und ich verbringen jede freie Minute miteinander, lernen uns besser kennen und bekommen kaum genug voneinander.
Ich merke selbst, dass wir unvorsichtig werden. Dass wir auch morgens immer noch zusammenliegen, obwohl Mum und Robert durchs Haus wuseln und nur einer von ihnen Caps Tür öffnen muss, um zu sehen, dass sein Bett leer ist. Oder meins, so wie heute.
Ich weiß nicht, ob es das Adrenalin ist, das uns im Bett hält, oder weil wir abhängig voneinander sind. Von den Lippen des jeweils anderen. Von den Gedanken des anderen. Von unseren Gesprächen.
Mittlerweile kann ich ihn besser verstehen. Sehe den liebenswürdigen und verletzlichen Caspar hinter dem mürrischen und distanzierten Cap.
Ich hoffe, dass ich die Leere in seinem Herzen füllen kann. Dass er endlich wieder richtig glücklich wird, auch wenn seine Mama ein Stück seines Herzens mitgenommen hat. Aber vielleicht wächst es wieder nach, wenn ich ihm nur genug gebe. An Liebe und Zeit. Wenn ich für ihn da bin, auch wenn er mich von sich stößt. Denn trotz unserer Gespräche ist er zwischendurch wieder der Cap, der mich abweist, zwar sanfter als zuvor, aber trotzdem entschlossen.
An meinem Geburtstag werde ich vor ihm wach. Sein Zimmer ist dunkler als meins, und trotzdem reicht der Lichteinfall aus, um seine friedlichen Gesichtszüge zu betrachten. Ich genieße seinen ausgeglichenen Ausdruck. Lausche seinen ruhigen Atemzügen, bevor ich mich vorsichtig über ihn lehne und nach meinem Handy greife. Wir haben halb acht. Ich muss jetzt aufbrechen, weil Mum heute unter Garantie in mein Zimmer kommt. Ich lege mein Handy zurück und stoße dabei aus Versehen eine leere Sprudelflasche vom Nachttisch. Sie fällt polternd zu Boden und während ich mich noch frage, wie eine leere Flasche so viel Lärm machen kann, beginnt Cap, sich zu bewegen.
Er legt seinen Arm um meine Taille und zieht mich näher zu sich. Caps Körperwärme ist wie eine Droge, von der ich nicht wusste, dass ich sie brauche. Dass ich keinen Tag mehr ohne sie verbringen will. Trotzdem versuche ich, mich aus seiner Umarmung zu befreien. Sein Griff wird fester. Sein Atem kitzelt über meinen Nacken und ich seufze ungewollt auf.
»Cap, ich muss gehen«, murmele ich, bleibe aber noch einen Moment liegen. Genieße das aufgeregte Flattern in meiner Brust, das jedes Mal da ist, wenn er so zu mir ist. So, als könnte er auch nicht mehr ohne mich.
»Warum können wir nicht noch kuscheln?« Seine kratzige Stimme macht Dinge mit meinem Körper, für die heute definitiv keine Zeit ist. Zumindest nicht heute Morgen.
»Weil ich rüber muss«, erwidere ich und schiebe seinen Arm von mir. Wegen mir müsste ich nicht zurück in mein Zimmer. Ich bin bereit, Mum und Robert und der ganzen Welt davon zu erzählen.
»Das hat uns die letzten Tage doch auch nicht gekümmert.« Er presst sein Becken gegen meinen Hintern und ich bin kurz davor, aufzugeben. Er will mich. Mich .
Mich, mit dem dürren Körper und den roten Haaren. Dacre, der keine Freunde hat und seine Zeit vorm PC verbringt. Wer würde da nicht auch schwach werden? Ich drehe mich um, betrachte seine müden Gesichtszüge und das süße Lächeln auf seinen Lippen.
»Heute muss ich aber rüber.« Wie soll ich ihm sagen, dass ich Geburtstag habe? Über so was haben wir nie gesprochen. Wir reden schließlich erst seit ein paar Wochen miteinander. Dass ich genau weiß, wann er Geburtstag hat – dafür kann er schließlich nichts.
»Was geht in deinem hübschen Kopf vor?«, fragt er und betrachtet mich aufmerksam. Es ist erschreckend, wie gut wir uns mittlerweile ohne Worte verstehen. Wie wir beide immer besser werden, in den Augen des anderen zu lesen. In dem dunkelblauen Nachthimmel, der jetzt nachdenklicher wird.
» Fuck, welchen Tag haben wir heute?«, fragt er dann und ich blicke ihn skeptisch an. Er war letztes Jahr an meinem Geburtstag nicht da und hat mir auch nachträglich nicht gratuliert.
»Samstag, den Vierundzwanzigsten«, erwidere ich zögernd.
Er richtet sich abrupt auf und sein leicht zerknittertes Gesicht schwebt vor meinem.
»Happy Birthday, Kurzer.« Dabei haucht er mir jede einzelne Silbe auf meine Lippen. Ich weiß gerade nicht, wo am meisten Blut hinfließt. In mein Herz, weil es unter seinen Worten aufblüht. In meinen Schritt, wo mein Schwanz sich unter dem rauen Klang seiner Stimme aufrichtet. Oder in meinen Kopf, in dem eine ganz leise Stimme flüstert, dass er mich nie so lieben wird wie ich ihn.
Doch bevor ich überhaupt auf diesen von Selbstzweifeln geschürten Gedanken hören kann, legen sich seine Lippen zärtlich auf meine.
Er schmeckt nach der letzten Nacht, in der wir so viele Gedanken miteinander geteilt haben. In der ich ihm von Michel erzählt habe und davon, wie viel mir die Freundschaft von Caps Freunden bedeutet. In der wir uns gehalten und geküsst haben und so auch eingeschlafen sind.
Irgendwann löse ich mich von seinen Lippen, auch wenn es mir unheimlich schwerfällt.
»Danke«, flüstere ich und steige dann endlich über ihn. Auf dem Boden liegt mein Shirt, das ich mir überziehe. Ich werfe einen letzten Blick zu diesem unheimlich attraktiven Jungen, der sich gerade durch seine verwuschelten blonden Haare fährt.
Er zwinkert mir zu und ich erröte augenblicklich. Gott sei Dank reicht das Licht in seinem Schlafzimmer nicht aus, um meine Scham zu offenbaren. Ich tapse leise zurück in mein Zimmer. Bei jedem Schritt hoffe ich, dass Mum mir begegnet. Dass wir uns der Situation einfach stellen müssen. Dass er vielleicht einen kleinen Schubs braucht, um zu erkennen, wie wichtig wir füreinander sind.
Allerdings komme ich unentdeckt bei mir im Zimmer an. Selbst Sir Theobald ist nicht zu sehen.
Zwanzig Minuten später klopft Mum an die Tür und ich öffne ihr.
»Happy Birthday, mein kleiner Carebär.« In ihren Augen glitzern Tränen. Doch nur einen Moment später hat sie mich in ihre Arme geschlossen. Wobei ich etwas größer bin als sie. Ich drücke sie noch fester. Hatte vergessen, wie es sich anfühlt. Irgendwie haben wir diesen Sommer so wenig Zeit wie noch nie miteinander verbracht. Selbst, als mein ganzer Tag nur aus Myrsky bestand, haben wir abends öfter eine ihrer Serien zusammengeguckt. Oder einen Film. Seit wir zu den Sanders gezogen sind, hat sich unsere Beziehung Stück für Stück verändert. Sie verbringt mehr Zeit mit Robert und ich mit seinem Sohn. Genau das darf ich ihr aber nicht anvertrauen und das entfernt mich noch weiter von ihr. Ich atme tief ein, bis ihr Duft nach Sandelholz und Sicherheit auf meine Sinne trifft. Bis ich mit dem Kloß in meinem Hals zu kämpfen habe. Mit dem Brennen in meinen Augen. Ihr Geruch erinnert mich an alle Umarmungen, die wir nach Dads Tod miteinander geteilt haben. An all die Tränen, die wir vergossen haben. Ich habe schon sehr lange nicht mehr an ihn gedacht.
Doch jetzt gerade wünschte ich, er wäre hier und würde seine Arme um uns beide schließen. Die Leere in meinem Kopf, die darauf folgt, lässt mich hart schlucken.
Ich weiß nicht mehr, wie Dad gerochen hat.
Tränen laufen mir die Wange runter, die ich nicht aufhalten kann. Ich trenne mich von mir und fahre mir mit dem Handrücken über die Augen. Dann atme ich zitternd aus und begegne ihrem glasigen Blick.
»Ich wünschte, Adam wäre heute hier«, flüstert sie und ich muss den Blick von ihr lösen, um nicht nochmal zu weinen. »Ich auch«, antworte ich leise.
Wenig später sitzen wir zu viert zusammen am Frühstückstisch. Mum hat Pancakes gemacht. Nach Dads Rezept. Aber nicht das leckere Essen und die entspannte Stimmung überraschen mich. Nein. Sondern, dass wir zwei Stunden später zu viert im Auto sitzen und auf dem Weg in die Altstadt sind. Ich blicke nach rechts. Obwohl Cap zu weit von mir weg sitzt, könnte ich gerade nicht zufriedener sein. Er schenkt mir ein breites Lächeln, bevor er sich wieder seinem Handy widmet. Aber dass Cap dabei ist, hat vor allem Robert glücklich gemacht. Jedes Mal, wenn er in den Rückspiegel schaut, lachen seine Augen.
»Erinnerst du dich noch daran, als ich mir in Neapel, abseits von den Touri-Sachen, die Stadt anschauen wollte und wir ganz plötzlich in Straßen gelandet sind, in denen wir Angst um unser Leben hatten?« Mama lacht und schaut zurück zu uns. Und obwohl ich die Story schon zweimal gehört habe, höre ich ihr nochmal zu.
Nachdem Robert geparkt hat, zeigen er und Cap uns die Überreste der Stadtmauer, das alte Rathaus und irgendwelche Brunnen. Auch wenn mich der Anblick von Cap mehr fesselt als alles andere, versuche ich trotzdem, so interessiert wie möglich zu tun. Es ist eigentlich peinlich, dass wir schon so lange hier leben und die ganzen Tourismus-Hotspots noch nicht kennen.
»Hattest du bisher schöne Ferien?«, fragt Mum, während Robert und Cap dabei sind, ein Restaurant fürs Mittagessen auszusuchen.
»Ja«, erwidere ich und lächele so breit, dass meine Wangen schmerzen.
»Wann kommt Tilo nochmal wieder?«
»Ich glaube nächste Woche.« Und wenn ich nur daran denke, bin ich schon ganz nervös. Für uns hat sich in diesen Ferien so viel verändert, was wir uns nur über Nachrichten erzählen konnten. Es wird Zeit, dass wir uns endlich richtig sehen.
Auch wenn das weniger Momente mit Cap bedeutet. Aber zum Glück muss er erst im Oktober zurück. Zumindest hat er gesagt, dass er in diesen Semesterferien länger in Mariengraben bleibt.
»Hier draußen wäre es doch schön«, schlägt Mum vor, als wir ein italienisches Restaurant passieren. Wenig später sitze ich neben Cap. Als er die Hand unter dem Tisch auf meinen Oberschenkel legt, könnte ich nicht glücklicher sein. Ich werfe ihm einen kurzen Blick zu, bei dem er mein Lächeln erwidert. Dann verwickelt Mum Cap in ein Gespräch und ich versuche, nicht ganz so offensichtlich und verträumt in seine Richtung zu schauen.
»Wie weit bist du denn jetzt mit dem Studium?«, fragt sie und schaut ihn dabei neugierig und interessiert an.
»Ich habe erst ein Semester im Master hinter mir. Also wenn alles klappt, dann noch drei.« Wenn mir unser Altersunterschied nicht schon jedes Mal schon auffallen würde, sobald wir keine Kleidung tragen, würde er mir spätestens jetzt auffallen. Während ich noch ein Jahr in die Schule muss, ist er dann schon fast fertig mit seinem Studium.
»Dann hast du ja gar nicht mehr so lange«, erwidert sie und setzt an, um ihn noch etwas zu fragen, doch da kommt die Bedienung schon mit unserem Essen. Als sie wieder geht, will ich gerade von meinem Abi erzählen, als mich Mum unterbricht.
»Hast du momentan eigentlich eine Freundin?« Dabei lächelt sie Cap ganz freundlich und unschuldig an.
Mir bleiben beinahe die Spaghetti im Hals stecken. Ich entgehe geradeso einem Hustenanfall und greife nach meiner Cola. Caps Griff um mein Bein wird für einen Moment fester.
»Nee«, antwortet er. »Willst du mir eine deiner Freundinnen vorschlagen?«, schiebt er noch unnötigerweise hinterher, woraufhin ich mit den Augen rolle.
»Cap. Bitte«, kommt es von Robert, weil es Mum die Sprache verschlagen hat.
»War nur ein Scherz. Ich bevorzuge dann doch jemanden, der jünger ist als ich.«
Und ich bin froh, dass ich meine Gabel nach Mums Einleitung nicht mehr angerührt habe, weil ich mich spätestens nach diesem Satz verschluckt hätte. Mum und Robert fällt es nicht auf. Mir schon. Er hat nur was zu dem Alter gesagt, nicht zum Geschlecht, das er favorisiert.
»Hauptsache volljährig. Das Thema hatten wir schon viel zu oft«, wirft Robert ein und ich weiß nicht, wie ich reagieren soll. Ich bin heute 18 geworden.
Aber Cap und ich wissen beide, dass das Alter nicht das Schockierendste sein wird. Cap seufzt nur, antwortet aber nicht. Das Thema ist wenig später erledigt, wobei mein Gesicht wahrscheinlich immer noch glüht.
Nach dem Essen brechen wir wieder auf, weil Mum und Robert ein Hotelzimmer für später gebucht haben. Seit sie uns das eröffnet haben, kribbelt mein ganzer Körper vor Aufregung. Vielleicht ist es heute Abend endlich so weit. Ich werfe einen kurzen Blick zu Cap, der aus dem Fenster schaut.
Vielleicht ist heute der Abend, an dem ich mein erstes Mal haben werde.
Tilo (14:02): Ich wünsche dir alles Gute zum Geburtstag! Ich freue mich so auf nächste Woche, dann holen wir den Tag heute nach, okay?
Dacre (14:32): Danke. Ja machen wir!