23
Geburtstag und Geschenke
Der Moment, auf das Motorrad zu steigen, fühlt sich beinahe weniger beängstigend an als noch vor wenigen Stunden. Beinahe
. Denn es dauert etwas, bis ich mich wieder an die lauten Geräusche und die fehlende Karosserie gewöhnt habe.
Kurz nachdem wir die Autobahn verlassen, biegt Cap rechts in einen geteerten Weg ab, anstatt den nächsten Ort zu passieren. Ich komme gar nicht dazu, mich zu fragen, was er vorhat, da hat er schon die Maschine ausgemacht. Vor uns erstreckt sich ein Waldstück, das von der untergehenden Sonne ganz in Rot- und Orangetöne getaucht ist. Als Cap sich dann mit offenem Visier zu mir umdreht, verliert die Natur sofort meine Aufmerksamkeit. Bevor ich nach meinem Helm greifen kann, öffnet er auch mir das Visier.
»Willst du mal fahren?«
Nein
. Ich schaue ihn entgeistert an.
»Setz die Füße ab, sobald ich abgestiegen bin.« Dann macht er genau das, wovon er gesprochen hat, und ich rutsche instinktiv nach vorne, um mit meinen Fußspitzen den Boden zu berühren, und die Maschine zu halten.
»Ich weiß nicht, ob ich das kann«, sage ich zögerlich. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich das nicht kann.
»Ich erkläre dir alles und du kannst dann entscheiden, ob du fahren willst. Okay?« Er nimmt seinen Helm ab und beginnt mit dem Einführungskurs.
Da er sich auch seine Handschuhe ausgezogen hat, spüre ich endlich jede seiner Berührungen und mir fällt es schwer, mich auf das Gesagte zu konzentrieren.
Ȁhnlich wie beim Auto, hat meine Maschine ein Schaltgetriebe. Die Kupplung ist der kleine Hebel hier an der
linken Seite.« Zur Demonstration nimmt er meine Hand und legt sie auf das warme Metall.
Dass ich mich dabei wie ein liebeskranker Idiot nur auf seine Fingerspitzen auf meiner Haut konzentriere, muss ich nicht extra erwähnen.
»Die Gänge sind unter deinem linken Fuß.« Ich blicke an der Seite runter und erkenne die Fußraste, die etwas anders aussieht, als die dahinter.
»Das Gas ist unter deiner rechten Hand. Das hast du aber sicherlich schon mitbekommen. Fehlt nur noch die Hinterradbremse unter deinem rechten Fuß.« Okay. Gas und Bremse auf
der rechten Seite wie beim Auto und links ist die Schaltung. So schwer hört sich das nicht an. Trotzdem bin ich nervös.
»Was sagst du? Willst du mal fahren?«, fragt er und lächelt mir liebevoll zu. Ich zögere. Will ich das? Was soll passieren?
»Kannst du dich vielleicht mit draufsetzen und im Notfall eingreifen?«
Er grinst noch breiter und steigt eine Sekunde später hinter mich. Seine Arme schlingt er dann um meine Mitte und ich vergesse für eine Sekunde, was ich als Nächstes machen wollte.
»Okay. Das Motorrad ist momentan im Leerlauf. Die Gänge sind ein bisschen anders verteilt als beim Auto. Der unterste ist der erste Gang, dann kommt der Leerlauf und dann die anderen Gänge. Um in den Ersten zu schalten, musst du mit der Fußspitze auf dem Pedal nach unten drücken, für alles höher nach oben. Du kannst nicht vom fünften in den dritten schalten, sondern musst die Gänge ausfahren. Die Kupplung hat aber genau wie beim Auto einen Schleifpunkt.«
Ich höre gespannt zu und versuche, mir alles zu merken und mich nicht von seinem Körper an meinem ablenken zu lassen.
»Jetzt macht sie mal an.«
»Was?«, frage ich leicht panisch.
»Du hältst die Kupplung gedrückt und startest den Motor mit dem Schlüssel. Lass die Kupplung auf keinen Fall los. Auch das Gas solltest du erst mal nicht anfassen.«
Ich nicke, weil meine Stimme wahrscheinlich vor Angst zittern würde, würde ich sie benutzen.
Ich drücke den Hebel unter meinen linken Fingern und drehe mit der rechten Hand den Schlüssel um. Das ohrenbetäubende Motorengeräusch erfüllt die Stille und ist fast doppelt so laut, weil ich mein Visier immer noch oben habe.
»Sehr gut«, höre ich seine Stimme und blicke im Seitenspiegel zu ihm.
»Wenn du so weit bist, drücke mit deinem linken Fuß das Pedal nach unten.«
Ich komme seiner Aufforderung nach und merke sofort, wie sich das Motorengeräusch ändert. Es wird irgendwie lauter und noch bedrohlicher.
»Okay. Gleich lässt du ganz langsam die Kupplung kommen und spielst vorsichtig mit dem Gas«, erklärt er weiter und mein Blick hängt weiterhin im Spiegel.
Behutsam lasse ich den Hebel los und drehe mit meiner rechten Hand ganz leicht am Gas. Nur wenige Sekunden später fängt das Motorrad an zu rollen.
»Lass die Kupplung trotzdem weiter vorsichtig los. Du machst das sehr gut.« Diesmal höre ich nur auf seine Stimme, weil ich auf meine Hände fokussiert bin.
Obwohl wir langsam fahren, fühlt es sich gut an. Richtig gut. Was ziemlich sicher an seiner Nähe liegt.
Ich fahre noch ein paar Meter bis zum Waldrand. Dann tauschen wir und er bringt uns nach Hause.
Beim Ausziehen des Helms in der Garage steht mein Körper noch immer unter Strom und ich bin absolut hingerissen von dem Gefahrenrausch und dem Freiheitsgefühl. Ich reiche ihm Helm und Jacke.
»Vielen Dank, Cap. Das war das schönste Geburtstagsgeschenk überhaupt.«
Dann grinse ich ihn an und würde ihn am liebsten küssen. Aber die Garage steht auf und das Licht ist an.
»Gern geschehen«, murmelt er. Dann greift er nach meiner Hand, was wenigstens ein kleiner Trost ist. Er macht das Tor zu und zieht mich hinter sich ins Haus. Jetzt gibt es nur noch einen Wunsch, den ich habe. Zumindest einen, der sich heute erfüllen lässt. Und ich hoffe, dass Cap sein Versprechen wahr macht. Doch anstatt mich näher zu sich zu ziehen, mich zu küssen und mir die Kleidung vom Leib zu reißen, lässt er meine Hand los, kurz bevor wir das Wohnzimmer betreten. Er dreht sich noch einmal zurück und schenkt mir ein scheues Lächeln.
Was ist hier los?
»Überraschung«, kommt es dann aus dem Zimmer und wenige Augenblicke später gehen die Lichter an. Ich weiß gar nicht, wo ich zuerst hinschauen soll. Zu all den Luftballons, Luftschlangen und Girlanden, die im Raum hängen, oder zu meinen Freunden. Doch ich habe nicht lange Zeit, mich zu entscheiden, weil Sara schon auf mich zukommt. Sie legt ihre Arme um mich und wenig später duftet alles nach Kokos, Sommer und Freundschaft.
»Happy Birthday, Dacre«, flüstert sie und hält mich noch einen Moment länger. Danach kommen auch Ruven, Camille und Maxi und gratulieren mir. Ich kann wahrscheinlich gar nicht zeigen, wie dankbar ich bin, weil sich der gesamte Tag wie ein einziger Traum anfühlt. Das ist also jetzt mein Leben.
Verdammt.
Und dann lache ich. Aber niemand guckt mich schräg an, macht sich lustig über mich oder hält mich für verrückt.
»O Mann, Leute! Das ist so krass.« Und ich meine es genauso so. Wie kann es sein, dass ich so viel Liebe verdient habe? So wundervolle Menschen, die mich einfach in ihren Freundeskreis aufgenommen haben? Und das, obwohl Cap anfangs so abweisend mir gegenüber war?
»Aber woher wusstet ihr, dass ich heute Geburtstag habe?« Doch schon als die Frage raus ist, kenne ich die Antwort. Ich drehe mich zu ihm um. Er lehnt immer noch am Türrahmen, viel zu weit weg von uns anderen.
»Das warst du, oder?«
Dann passiert etwas, mit dem ich bei Cap niemals gerechnet habe. Seine Wangen werden rot. Nicht tomatenrot wie bei mir, sondern natürlich ein zurückhaltender, hübscher Ton. Ich will zu ihm gehen und ihn küssen. Und ich bin bereits in seine Richtung unterwegs, halte mich aber im letzten Moment zurück und umarme ihn nur. »Danke, das bedeutet mir die Welt«, murmele ich an seinem Hals und löse mich wieder, bevor es zu auffällig wird.
Als ich mich zurück zu unseren Freunden drehe, treffe ich auf die unterschiedlichsten Gesichtsausdrücke. Der Skeptische von Maxi ist der Eindrücklichste. Wahrscheinlich war das mit der Umarmung keine so gute Idee, wie gedacht. Aber es ist mir egal.
Heute ist mein Tag. Auf der Girlande steht mein Name. Das sind meine Freunde. Und Cap ist mein … was? Wir haben nicht mal einen Namen für uns. Doch bevor ich mich von dem Gedanken runterziehen lasse, taucht ein Bier in meinem Blickfeld auf und wenig später stoßen wir alle zusammen an.
»Auf Dacre und darauf, dass du unseren Sommer vervollständigt hast«, kommt es von Camille und alle murmeln ein »Auf Dacre«. Selbst Cap hat ein Getränk in der Hand, obwohl er immer noch abseits steht. Ich lege meinen Arm um Camille und drücke ihr einen Kuss auf die Wange.
»Josh lässt sich entschuldigen, wir sollen dir aber auch von ihm Glückwünsche ausrichten.«
Eigentlich fehlt nur noch Tilo, dann wäre der Tag absolut perfekt.
»Kein Problem«, entgegne ich Ruven und nicke ihm dankbar zu. Mein Blick bleibt bei Maxi hängen, der verhältnismäßig
ruhig ist, und ich bin mir nicht sicher, woran es liegt. Dass ich Camille so nahe bin? Wobei ihm das als wir uns kennengelernt haben, immer egal war. Vielleicht versucht er auch einfach nur herauszufinden, was das mit Cap und mir ist.
Das wüsste ich auch gerne.
»Wir haben noch ein Geschenk für dich.«
»O ja«, kommt es von Sara, die aufgeregt in ihre Hände klatscht.
»Ihr habt mich doch schon mit der Party überrascht. Ihr hättet nicht noch extra was besorgen müssen«, entgegne ich kleinlaut. Dieses Mal ist es Rührung, die mir rot in die Wangen schießt. Dann überreicht Camille mir einen hellen Umschlag. Als ich diesen öffne, sehe ich das gleiche Ticket, das auch Camille geschenkt bekommen hat. Es ist eine Karte für das Festival nächste Woche.
»Wow. Danke«, sage ich und blicke in ihre Gesichter.
»Wir haben alle eine Karte. Auch Cap«, kommt es von Sara.
Ich freue mich darüber, wirklich. Aber eigentlich hatte ich Tilo versprochen, dass die letzten beiden Wochen ihm gehören.
»Sara, jetzt sag’s ihm schon.«
»Cap hat vorgeschlagen, dass wir auch noch deinen besten Freund fragen, ob er mitkommt, weil er dann ja wieder zurück ist.«
Ich schaue in seine Richtung. Er hat die Hände in den Taschen vergraben. Mit den Lippen forme ich ein ›Danke‹, weil ich ihm jetzt besser nicht nahe bin.
»Danke, das ist wirklich so cool. Und mit ganz weitem Abstand mein bester Geburtstag.«
Sara strahlt mich mit so viel Liebe in den Augen an, dass ich am liebsten auf Pause und erst wieder Play drücken möchte, wenn ich weiß, wie ich solche Momente für immer festhalten kann.
Wenig später tanzen Camille, Sara und ich zu Liedern, zu denen ich sonst keinen Bezug hatte. Die bei mir bis vor dem Sommer
nichts ausgelöst haben. Die mich jetzt alles fühlen lassen. Die nach Sommerregen und Zelten riechen. Nach stinkenden Clubtoiletten und Hinterhof-Romantik. Nach gestohlenen Momenten und Freundschaft.
Immer wieder, wenn ich zu Cap blicke, habe ich das Gefühl, dass ihn irgendwas bedrückt. Dass seine Stimmung abnimmt, während meine auf dem Höhepunkt ist. Ich habe keine Ahnung, was los ist. Wir haben uns schließlich nicht angefasst, bis auf die kurze Umarmung. Die anderen habe ich länger umarmt.
Vielleicht ist irgendwas passiert, das ich verpasst habe?
Irgendwann gesellen sich auch die anderen zu uns, Ruven legt seinen Arm um Sara und zieht sie für einen Moment an sich. Ein dumpfes Gefühl breitet sich in meiner Magengegend aus. Ich gönne Sara alles Glück der Welt. Auch Ruven.
Aber Cap und ich werden das nie haben. Er kann mich ja kaum anblicken, obwohl wir unter unseren Freunden sind. Wahrscheinlich würde niemand etwas sagen und trotzdem will er es nicht.
Ich schaue zu Camille, weil ich Cap nicht länger anstarren will. Auch ihr Blick klebt an Sara und Ruven. Ich kann nicht erkennen, was sie denkt. Aber die letzten Stunden haben sie und Maxi sich so weit voneinander ferngehalten wie den gesamten Sommer über nicht. Warum ist Liebe so unfassbar kompliziert, wo es doch so einfach ist, sich zu verlieben?
Irgendwann bringe ich alle zur Tür und verabschiede sie. Cap ist im Wohnzimmer geblieben. Sara ist die Letzte, die mich in eine Umarmung zieht.
»Ich hoffe, dir hat die Überraschung gefallen?«, murmelt sie und ich nicke nur, weil ich noch einen Moment ihre Wärme genießen will.
»Das war der perfekte Abschluss für meinen Geburtstag. Danke.«
Sie trennt sich von mir und guckt mich aus ihren großen,
grünblauen Augen an. »Du hast alles verdient. Vergiss das nicht.« Dann tritt sie auch nach draußen und lässt mich im Flur zurück. Sie hat recht. Ich weiß das.
Und ich weiß auch, was das bedeutet.
Tilo (00:02):
Sorry. Mann, ich freue mich total für dich.
Tilo (00:07):
Vielleicht sollte ich Cap doch mal ne Chance geben. Du kannst ihm aber schon ausrichten, dass er es mit mir zu tun bekommt, falls er dich verletzt.
Tilo (00:11):
Du hast wahrscheinlich jetzt die Karte bekommen, oder? Happy Birthday. Ich freue mich total darauf, endlich mal all die neuen Freunde in deinem Leben kennenzulernen.
Tilo (00:13):
Und darauf, dass dieses dumme Camp endlich rum ist.