24
Entscheidungen und Erinnerungen
Ich lehne für einen Moment den Kopf gegen das kühle Glas der Haustür. Alles
. Ich will alles.
Dann gehe ich zurück ins Wohnzimmer, in dem Cap immer noch steht. Zwischen den ganzen Luftballons und der restlichen Dekoration wirkt er verloren. Und ich weiß nicht, wieso. Den Ausdruck auf seinem Gesicht kenne ich nicht. Der verbissene Mund, die eingefallenen Wangen. Ich lasse den Blick über die angespannten Schultern und seine verkrampften Hände gleiten, bevor unsere Blicke sich verfangen. Warum war beim Sushi noch alles gut und jetzt nicht mehr? Was ist in den Stunden passiert, in denen unsere Freunde hier waren?
Ich mache zögernd einen Schritt auf ihn zu. Der nächste Kuss wird der letzte geheime sein. Ich weiß, dass ich mehr wert bin, als ein Geheimnis hinter verschlossenen Türen und unter Sternenhimmeln. Ich will, dass er es will. Mich will.
Genauso sehr, wie ich ihn begehre.
Genauso sehr, wie ich ihn liebe.
Denn in meinem Kopf existiert nur ein Wort. Eine Person. Caspar
.
Ich hebe meinen Kopf, sammele all den Mut, den ich irgendwo versteckt habe. Seine Haltung verändert sich nicht. In dem tiefen Blau seiner Augen liegt so viel Distanz, dass ich sie beinahe spüre.
Herausfordernd und mit mehr Selbstsicherheit, als ich mir vorher zugetraut habe, blicke ich ihn an.
Er erwidert meinen Blick mit einer Spur Ablehnung, die in Funken aus dem tiefen Blau seiner Augen praktisch zu mir herüber sprüht.
Ich lasse meine Finger über seine Arme wandern. Versuche,
ihm mit den Berührungen das zu sagen, was ich noch nicht formulieren kann. Das, was ich schon vor Tagen hätte sagen müssen. Wir folgen beide den Bewegungen meiner Hände.
Keiner sagt einen Ton. Nur sein angestrengter Atem ist zu hören. Warum? Will er das auch so sehr wie ich?
Meine Hände wandern höher. Über seine Schultern, bis hin zu seinen Schlüsselbeinen. Ich will sein Gesicht umfassen, ihn zu mir ziehen und küssen. Aber was ist, wenn er nicht will? Wenn ich der Einzige von uns beiden bin, der das fühlt? Dem das Herz schneller schlägt? Der dieses Flattern im ganzen Körper hat? Ich streiche mit meinen Händen seine Arme wieder hinab.
»Was ist heute Abend los mit dir?«, frage ich und umschlinge seine Finger mit meinen. Er lässt seinen Blick langsam über mein Gesicht gleiten. So, als müsste er sich jede Sommersprosse einprägen. So, als würde er etwas verpassen, wenn er es nicht tut. Ich schließe meine Augen, weil ich den gequälten Ausdruck in seinen nicht ertrage. Weil ich nicht mutig bin.
Weil ich weiß, was jetzt kommt.
Und die Hoffnung trotzdem so verdammt laut ist.
»Nichts«, erwidert er träge. Wir wissen beide, dass das gelogen ist. Dass er jetzt derjenige ist, der mir nicht in die Augen sehen kann.
»Weißt du, was ich nicht verstehe? Ich vertraue dir mein Leben an, indem ich auf dein Motorrad steige. Du kannst mir nicht mal so weit vertrauen, dass du mir die Wahrheit sagst.«
Er starrt mich an. Sein Blick ist wie ein Schatten von dem, was er sonst ist. Wenn wir zusammen sind.
Mein ganzer Körper steht unter Strom. Ich muss es jetzt tun.
»Ich kann das nicht mehr, Caspar.«
Einen Wimpernschlag später erkenne ich den Schmerz in seinem Gesicht. Leid, das er mir so zuvor nicht gezeigt hat. Auf seinen Lippen liegt ein falsches Lächeln. Ein Lächeln, das mich jedes Wort bereuen lässt.
»Was?«, fragt er und seine Stimme bebt leicht.
Ich schließe die Augen und schlucke einmal hart, bevor sich die nächsten Worte quälend langsam an meinen Stimmbändern entlang hangeln.
»Ich will aus uns kein Geheimnis mehr machen. Ich will dich küssen können, wann ich es will und nicht nur dann, wenn wir
alleine sind. Ich will dich anfassen können, vor unseren Freunden. Ich will deine Hand halten. Immer.« Ich räuspere mich. Will etwas ergänzen, was ich einen Atemzug später wieder vergessen habe, weil mich der Ausdruck in seinen Augen aus dem Konzept bringt. Weil nichts Hartes mehr seinen markanten Gesichtszügen liegt.
Ich hätte nichts sagen sollen. Es war doch alles gut. Wir haben eine unfassbar schöne Zeit. Heute war der perfekte Tag. Wir wären gleich zusammen schlafen gegangen. Und hätten vielleicht noch mehr machen können außer schlafen. Ich hätte auf seiner Brust gelegen. Seinen Herzschlag gespürt.
Stattdessen zerstöre ich alles. Meine Finger zittern. Mein ganzer Körper bebt. Zögernd mustere ich ihn. Die glasigen Augen, über die er sich mit dem Handrücken fährt. Was passiert hier gerade?
»Ich bin nicht bereit dazu«, flüstert er. Seine Stimme so dünn, wie ich sie noch nie gehört habe. Mein Herz rast, bevor es in sich zusammenfällt. Bevor ich realisiere, was das bedeutet.
»Was?«, frage ich zögernd nach.
»Ich kann keine Beziehung führen.« Mit dir.
Ich schließe meine Augen. Wir waren glücklich. Er hat mich zu einem Date eingeladen.
Als ich meine Augen wieder öffne, ist jedes Gefühl aus seinen gewichen.
»Was habe ich falsch gemacht?« Meine Stimme ist nur ein Hauch von dem, was sie zu Beginn war. All das Gefühl, das vor wenigen Stunden noch durch meinen Körper getanzt ist, ist
verschwunden. Wurde ausgelöscht. Von einem Satz.
Ich bin nicht bereit dazu.
»Wir haben uns mal darauf geeinigt, nur so weit zu gehen, wie wir beide bereit dazu sind. Du möchtest nicht mehr so weitermachen wie zuvor. Ich bin nicht bereit für eine Beziehung.« Seine Stimme ist tonlos. Die ganze Spannung ist aus seinem Körper gewichen. Er wirkt nur noch wie eine Hülle seiner selbst. »Also … werden wir das hier beenden.«
»Du gibst einfach so auf? Nach allem, was wir beide miteinander geteilt haben, willst du uns nicht einmal eine Chance geben?« Angst und Verzweiflung schießen durch meinen Körper. Brennen all die Hoffnung nieder, die sie finden können. Ich will schreien. Weinen. Ihn schütteln.
Aber ich schaffe es kaum, richtig Luft zu holen, weil mein Hals wie verschlossen ist. Weil mein Körper damit kämpft, das Brennen in meinen Augen zu verstecken.
»Wieso musst du es uns so schwer machen, Dacre?«
Der Kampf ist verloren. Tränen rinnen meine Wangen runter. Ich schnappe zitternd nach Luft. Warum gibt er einfach so auf? Warum läuft er weg? Warum kann er nicht zugeben, dass er auch so fühlt wie ich?
Weil er nicht so fühlt.
Der einzige Hinweis darauf, dass es an ihm nicht so spurlos vorüber geht, wie er mich glauben lassen will, ist seine zitternde rechte Hand. Ich will nach ihr greifen. Sie drücken und nie wieder loslassen. Ich will ihm alles sagen, was ich fühle. Damit er mir sagt, was er empfindet.
Ich will den ersten Schritt machen, damit er den zweiten machen kann.
»Kannst du dir das nicht denken?« Ich schlucke hart, bevor ich weiterspreche. »Ich liebe dich, verdammt.«
Er schließt die Augen. Im selben Moment keimt Hoffnung. Darauf, dass er es endlich erkennt. Dass er etwas erwidert. Doch
als er seine Lider öffnet, kommt nichts. Gar nichts. Er kann mir nicht mal in die Augen sehen. Nach allem, was wir miteinander geteilt haben. Nach allem, was er heute für mich getan hat.
»Verdammt. Jetzt guck mir in die Augen und sag mir, dass du keine Gefühle für mich hast.« Ich kann nicht mehr. Ertrage seine distanzierte Haltung nicht mehr.
Ich habe erwartet, dass er wütend wird. Dass ich ihn mit der Aussage provozieren kann. Vielleicht sogar, dass er mich schubst. Dass er mir sagt, dass er mich nicht liebt. Dass er mir sagt, dass er mich liebt, es aber nicht ausreicht.
»Lass gut sein. Ich gehe. Bevor du es tust«, kommt es von ihm.
Dann schenkt er mir noch einen letzten Blick und verlässt das Wohnzimmer. Lässt mich zurück mit den Überbleibseln vom schönsten Tag meines Lebens und der Hälfte meines Herzens.
Ich schließe die Augen, verweile im Wohnzimmer. In unserem Wohnzimmer. In seinem. Die Tränen laufen unaufhörlich meine Wangen hinunter. Tropfen auf mein Shirt. Auf das Shirt, an dem immer noch die Liebe meiner Freunde klebt. Irgendwann schaffe ich es irgendwie nach oben, lege mich in mein Bett und starre an die Decke. Alles fühlt sich taub an. Die Wohnzimmer-Szene läuft immer wieder vor meinem inneren Auge ab.
So, als müsste mein Hirn einen Fehler finden. Einen Ausweg. Dabei wusste mein Bauch schon vorher, dass es vorbei ist. Spätestens dann, als er so angespannt wie nie war, als ich ihn vor unseren Freunden umarmt habe. Sein ausdrucksloser Gesichtsausdruck. Sein mich meidender Blick. Ich hätte ihn nie vor die Wahl stellen dürfen, weil ich schon vorher wusste, was er sagen würde. Hätte ich mich doch nicht festgeklammert an der irrationalen Hoffnung, dass ich vielleicht auch mal ein Happy End im Leben verdient habe.
Ein unangenehmes Gefühl schnürt mir die Brust zu. Meine Augen sind immer noch feucht. Ich denke an all die schönen Momente, die wir gemeinsam erlebt haben. Die Angst, die er mir
heute genommen hat. Seine Hand in meiner. Seine Lippen auf meinen.
Was ist, wenn er wirklich geht? Wenn ich ihn nicht mehr zu Gesicht bekomme?
Alle möglichen Gefühle stürmen auf mich ein. Ich will mich hassen, dafür, dass ich ihm ein Ultimatum gestellt habe. Dass ich ihm offenbart habe, dass ich ihn liebe. Dass ich so naiv gewesen bin, zu glauben, dass er sich wirklich für mich entscheiden würde, wo er doch jeden haben könnte. Jede
.
Der Selbsthass brennt sich den Weg meine Speiseröhre hinauf. Zwischen all den Tränen und den schmerzhaften Erinnerungen scheint mich der Schlaf doch irgendwann übermannt zu haben, denn am nächsten Tag wache ich völlig erschöpft auf. Sein Geruch steigt mir in die Nase. Augenblicklich schlage ich meine Lider auf, nur um festzustellen, dass ich auf seiner Seite des Bettes schlafe. Da, wo er die letzten Wochen gelegen hat, wenn ich nicht bei ihm übernachtet habe.
Ich schlage meine Decke zurück, stolpere ins Bad und wasche mich in Windeseile. Vielleicht kann ich ihn doch überzeugen. Ich kann ihn zu seinen Bedingungen lieben.
Zitternd schließe ich die Tür hinter mir. Es ist still. Zu still.
Mit schnellen Schritten durchquere ich den Flur. Seine Zimmertür ist einen Spalt geöffnet.
»Es tut mir …«, beginne ich, als ich eintrete. Doch weiter komme ich nicht. Denn in seinem Raum ist niemand. Niemand außer dem getigerten Kater, der auf der dunkelblauen Bettwäsche liegt.
Ich lasse meinen Blick durch sein Zimmer gleiten. Er hat aufgeräumt. Der ganze Kram, der sonst auf seinem Schreibtisch liegt, ist nicht mehr da. Sein Bett ist gemacht. Keine Wäsche stapelt sich auf dem Boden. Mir bleibt beinahe der nächste Atemzug im Hals stecken.
Die Schiebetür seines Schranks ist offen und offenbart nichts
.
All seine Klamotten fehlen. Auch sein Bad ist leergeräumt. Nichts. Tränen rinnen mir die Wange runter.
Ich gehe, bevor du es tust.
Dann breche ich zusammen. Mitten in seinem leeren Zimmer, in dem mich alles an ihn erinnert. An unseren Streit, bei dem ich ihm gesagt habe, dass ich uns nicht aufgeben will. An die Nächte, in denen er mich gehalten hat. In denen er mir so viel anvertraut hat. In denen ich ihm so viel erzählt habe.
In den Nächten hatte ich immer das Gefühl, ihn zu kennen. Jetzt ist da nur noch Leere. Schmerzhafte, zerreißende Leere. Mein ganzer Körper zittert. Ich habe mich in ihm getäuscht. In uns.
Der Boden fühlt sich kalt und rau unter meinen Händen an. Und feucht. Nass, von den Tränen, die immer noch unaufhörlich aus meinen Augen bluten.
Ich will mich hassen, dafür, dass ich bereit war, mich für ihn aufzugeben. Ich bin beinahe froh, dass es nicht dazu gekommen ist. Wobei das eine Lüge ist. Ich hasse ihn dafür, dass er gegangen ist und einen Teil von mir mitgenommen hat.
Den Teil, den ich so liebgewonnen habe. Den selbstbewussten, mutigen Dacre. Den Dacre, der alles für die Liebe riskiert. Der Dacre, der sein Hobby aufgibt. Und seine Träume.
Tilo (1:20):
Ich hoffe, du hattest einen perfekten Abend und meldest dich deswegen nicht.