26
Rückkehrer und radikale Veränderungen
Ich mache mein Handy erst an, als mich Camille und Sara am Dienstag zuhause rauslassen. Doch ich komme gar nicht dazu, eine der unzähligen, ungelesenen Mitteilungen zu lesen, denn vor meiner Tür wartet der Absender der Nachrichten. Tilo kommt mir auf halben Weg entgegen, bevor ich mich in einer der überfälligsten Umarmungen überhaupt wiederfinde.
»Okay Shit, ich dachte nicht, dass ich dich so vermisse«, murmelt er und ich nicke nur stumm.
Irgendwann lassen wir uns los und ich mache ein paar Schritte zurück.
»Woher wusstest du, dass ich jetzt nach Hause komme?«
»Sara«, antwortet er schulterzuckend.
Meine Augen brennen und meine Brust zieht sich zusammen. Wann hat mein Körper endlich genug von all den Tränen?
»Sie hat es dir erzählt.«
»Musste sie nicht mal. Du hast nicht mehr geantwortet und dann wusste ich es. Tut mir leid, Mann.«
Dann nimmt er mich nochmal in den Arm.
»Was haben die im Mathe-Camp mit dir gemacht?«, frage ich heiser.
»Warum?«
»Wir haben uns seit wir uns kennen nicht so oft umarmt wie in den letzten zehn Minuten.«
»Arsch.«
»Spinner«, entgegne ich grinsend.
»Ich dachte, du wärst jetzt achtzehn und damit nicht mehr so kindisch.« Er trennt sich lachend von mir und ich boxe ihm halbherzig gegen den Oberarm.
»Lass uns reingehen. Eis essen und irgendeinen Film schauen.
Wobei, besser eine ganze Filmreihe«, schlägt er vor.
»Okay. Aber willst du nichts aus dem Camp erzählen?«
»Willst du über Cap reden?«
Ich verneine und mache mich auf den Weg zur Türe.
»Ich bin für Marvel.«
»Das sind 23 Filme«, erwidere ich lachend.
»Ich habe nicht vor in den nächsten Tagen über P– … das Camp zu reden.«
»Von mir aus.«
Nachdem wir uns Eis, Snacks und Getränke aus der Küche geholt haben, gehen wir nach oben.
»Ich glaube, ich habe dein Zimmer mehr vermisst als meins.« Tilo lässt sich einfach aufs Bett fallen und bleibt stöhnend liegen.
Ich stelle die Snacks auf den Nachtschrank und betrachte ihn für einen Moment. Dann wandert mein Blick zu meinem PC. Vielleicht könnte ich wieder anfangen zu spielen. Wieder das machen, was ich vor dem Sommer geliebt habe. Mit Tilo abhängen und Myrsky
zocken. Aber auch die epische Myrsky
-Musik, die wie eine alte Erinnerung in meinem Kopf tanzt, füllt nicht die Leere in meinem Körper. Das dumpfe Gefühl, dass etwas fehlt, bleibt. Jemand
.
Es fühlt sich an, als hätte er auch das mitgenommen. Meine Lebensfreude.
Ich blinzele die Tränen in meinen brennenden Augen weg. Vielleicht hätte ich doch noch eine Nacht bei Camille bleiben sollen.
»Das Eis schmilzt, kommst du?«
Ich schlucke hart, bevor ich mich neben Tilo lege. Er öffnet die App und startet einen Film, ohne dass wir darüber reden, dass meine Augen rot und mit Tränen gefüllt sind. Wir liegen einfach da, löffeln Eis und reden nicht über den Sommer, der uns beide verändert hat. Der Sommer, der immer noch brütend
heiß ist, nur dass ich jetzt nicht an irgendeinem See bin, um mich abzukühlen.
Ich wache schweißgebadet auf, als jemand an meiner Tür klopft.
Plötzlich rast mein Herz überraschend schnell. So, als hätte das Geräusch mir wieder Leben eingehaucht. Cap
. Es klopft ein zweites Mal und dann ist es Mums Kopf, der in der Türöffnung erscheint.
»O, ich wusste nicht, dass du Besuch hast.«
Ich versuche, mir ein Augenrollen zu verkneifen, weil sie garantiert das fremde Paar Schuhe im Flur gesehen hat.
»Kannst du bitte kurz mit nach unten kommen?«
Ich nicke und schaue über meine Schulter, bevor ich das Bett verlasse. Tilo liegt mit geschlossenen Augen und zerzausten Haaren an der Wand. Keine Ahnung, wie spät es ist und welcher Film gerade läuft. Ich rappele mich auf und folge meiner Mum nach unten. Im Esszimmer erwartet mich auch Robert, der nicht wie sonst am Kopfende, sondern auf Caps Platz sitzt.
Was ist, wenn ihm was passiert ist? Roberts Blick ist undefinierbar neutral, Mums ungewohnt ernst.
»Ist was passiert?«, hauche ich vorsichtig und ignoriere den schmerzhaften Stich und die Sorge in meiner Brust.
»Das wollten wir dich fragen.«
»O … okay?« Ich habe keine Ahnung, was sie wollen.
»Seit Sonntag haben wir kein Lebenszeichen von Cap und dir bekommen. Wir sind nach Hause gekommen und keiner von euch war da.«
»Ich habe dir doch eine Nachricht geschickt.«
»Ja, aber dein Handy war aus und wir haben heute Dienstag. Wo warst du?«
»Mum, ich bin achtzehn.«
»Du bist seit genau drei Tagen volljährig, das bedeutet noch lange nicht, dass du einfach so lange wegbleiben kannst, ohne dich ab und an zu melden oder Bescheid zu sagen, wann du
wiederkommst.«
»Karin, lass den Jungen …«
Doch Mum ignoriert Roberts Einwand. »Ich habe dich besser erzogen. Solange wir alle zusammen hier wohnen, möchte ich, dass darüber geredet wird. Robert und ich verschwinden schließlich auch nicht einfach so. Du musst mir auch nicht sagen, wohin du gehst, ich will aber wissen, wie lange du wegbleibst. Ich will wissen, dass du in Sicherheit bist.«
Ihre Stimme stockt. Tränen sammeln sich in meinen Augen. Ich reibe mir fest über die wunde Haut.
»Ist alles in Ordnung?«
»Ja«, bringe ich zitternd raus.
»Wo ist Cap denn?«
»Musste … zurück zur Uni.«
»Warum? Es sind doch Ferien.«
Aber ich zucke nur mit den Schultern zur Antwort. Was soll ich darauf sagen?
»Das ist wieder so typisch«, kommt es genervt von Robert. Niemand erwidert etwas, weil er recht hat.
Dann steht Robert auf und stellt sich neben meine Mum. Okay.
Was ist wirklich los? Mein Blick streift über die beiden. Als er bei Mums Hand endet, zerreißt es mir beinahe die Brust. Ich atme zitternd ein und schließe die Augen. Zähle die Sekunden, bis mein Leben weiter zerbricht. Bis ich realisiere, dass es keine Möglichkeit mehr gibt, die Zeit zurückzudrehen.
»Robert und ich wollten euch das eigentlich zusammen erzählen.«
Mich wundert es, dass mein Herz noch weiter schlägt, dass es meinen Körper, der nur noch eine leere Hülle ist, weiterhin mit Blut versorgt.
»Robert hat mich gefragt, ob ich ihn heiraten möchte. Ich habe ja gesagt.«
Ich spüre nichts mehr. Keinen Stich in meinem Herzen. Kein
Ziehen in meinem Magen. Nichts
.
Ich öffne die Augen. Bemühe mich, ihnen ein Lächeln zu schenken. Ein Lächeln, das er mir offenbar auch genommen hat. Denn für Mum habe ich nur noch eins übrig, das ich nicht fühle. Das ich nicht so meine.
»Das freut mich.«
Nicht
.
Zeitgleich will ich mich für sie freuen. Sie ist meine Mum. Das Einzige, was mir an Liebe bleibt. Die Person, die mich immer bedingungslos unterstützt. Die sich nur das Beste für mich wünscht. Aber selbst das schlechte Gewissen findet kein Fundament in dem toten Raum, der in mir übrig ist.
»Jetzt sind wir endlich eine richtige Familie«, ergänzt sie leise und löst damit etwas in mir. Gefühle überwältigen meinen Körper. Bezwingen ihn. Meine Augen beginnen zu tränen, mein Hals wird eng. Mir rutscht das falsche Lächeln von den Lippen.
»Okay«, bringe ich raus, bevor ich den Raum verlasse. Ich renne blind die Stufen rauf, stolpere beinahe über Sir Theobald, der es sich am Treppenabsatz gemütlich gemacht hat. Dann lasse ich mich auf den Flurboden gleiten und lehne meinen Rücken gegen meine Zimmertür. Ich weiß nicht, wo ich hinwill.
Tilo will nicht über den Sommer reden und ich auch nicht. Ich will einfach mal einen Moment allein sein. Luft bekommen. Nicht an heute denken und nicht an ihn. Einen Moment Stille.
Doch der Augenblick hält nicht lange. Ein pelziger Kopf drückt sich immer wieder gegen meine aufgestellten Beine.
»Was willst du?«, murmele ich leise.
»Miau.« Keine Ahnung, was das bedeuten soll.
Ich setze mich im Schneidersitz hin und wenig später springt er auf meinen Schoß. Bevor ich überhaupt protestieren oder aufstehen kann, hat er es sich schon gemütlich gemacht.
Unbeholfen tätschele ich seinen Kopf, spüre das weiche Fell unter meiner Haut. Wenig später beginnt er zu schnurren. Das Vibrieren hallt in meinem Körper wider. Es beruhigt meinen
Herzschlag. Lässt meine Gedanken verstummen. Ich streiche weiter über das getigerte Fell, denke an nichts und gleichzeitig an alles.
Keine Ahnung, woher er wusste, dass ich das hier brauchte. Dass ich einsam bin, obwohl mein bester Freund direkt hinter der Tür liegt. Irgendwann hebe ich Sir Theobald hoch und rappele mich auf. Von ihm kommt kein fieses Murren und so öffne ich die Tür und betrete den stickigen Raum, in dem irgendein Superhelden-Film läuft.
Ich lasse den Kater runter und öffne ein Fenster.
»Wo warst du?«, murmelt Tilo.
»Mum und Robert werden heiraten.«
»Scheiße.«
Yep
. Ich gehe zurück zum Bett und lege mich auf die Decke.
»Ich dachte, ich könnte ihn ändern. Ich dachte, ich müsste ihn nur genug lieben, damit er auch etwas fühlt. Damit er uns nicht aufgibt, auch wenn er noch nicht das gleiche für mich empfinden kann.«
Wir schweigen beide.
»Gott, ich komme mir so dumm vor, weil ich genau die Person aus den kitschigen Liebesfilmen bin, die meine Mum immer mit mir schaut … Nur, dass die ihr Happy-End bekommen.« Ich seufze laut auf und starre weiter die Decke über mir an. Ich will nicht sehen, was Tilo denkt. Dass er mich für schwach hält. Und erbärmlich. »Ich frage mich, ob Sara und Camille so lieb zu mir sind, weil sie Mitleid mit mir und das alles so schon kommen gesehen haben.«
»Mach mal einen Punkt, Dacre.«
Ich drehe mich in seine Richtung. Er hat die Brauen hochgezogen, aber in seinen Augen liegt kein ablehnender Ausdruck. Keine Spur davon, dass er meine Gedanken lächerlich findet.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie das denken. Ich glaube
eher, dass sie, genau wie du, gehofft haben, dass Cap endlich zur Vernunft kommt. Selbst ich habe mir das gewünscht, dabei kenne ich sein schlechtes Verhalten dir gegenüber ja schon zu genüge.«
Ich fahre zusammen, weil der Kater im selben Moment aufs Bett springt. Wahrscheinlich hat er mitgehört, wie schlecht wir über sein Herrchen reden, und will uns jetzt wehtun. Aber er legt sich nur auf den Platz zwischen Tilos und meinen Füßen.
»Hast du keine Angst, dass er dich killt, wenn du die Augen schließt?«
»Doch.« Aber dann müsste ich nicht mehr an Cap denken.
Tilo legt den Kopf schräg, als hätte er meine Gedanken gehört. »Cap hat nicht erkannt, wie großartig du bist, und das ist sein Pech, weil ihm nie wieder jemand Besseres begegnen wird. Ich weiß, dass es scheiße ist, aber du musst nach vorne schauen.«
»Ich weiß nicht, wie das gehen soll.«
Er seufzt laut. Und ich verstehe ihn.
»Ich glaube, ich habe mich ein kleines bisschen in Paul verknallt …«
»Ein bisschen?«
»Ja … Als wir uns das erste Mal geküsst haben, hatte ich keine Ahnung, dass ich das fühle. Dass es sich so gut anfühlen wird. Gleichzeitig wussten wir beide, dass es nur für einen begrenzten Zeitraum sein wird.«
Wahrscheinlich wie bei Cap, der das auch die ganze Zeit wusste. Nur ich nicht. Zumindest wollte ich nicht daran denken, dass wir ein Ablaufdatum haben.
»Weißt du, ich habe mich geärgert, dass ich es erst so spät realisiert habe … Dass wir deswegen nur so wenige Tage hatten. Gott, es hat so scheiße wehgetan, heimzufahren. Wir haben gesagt, wir bleiben in Kontakt, aber wir wissen alle, wie lange das hält.
Vielleicht sind wir zu jung, jetzt schon jemanden zu finden, bei
dem es sich so anfühlt. Vielleicht war es aber auch der falsche Zeitpunkt, wer weiß das schon. Weißt du, wobei ich mir sehr sicher bin?«
»Nein«, flüstere ich.
»Egal wie scheiße weh es tut, es wird besser. Außerdem haben wir uns. Und du hast diese unfassbar coolen, neuen, älteren Freunde, die ich unbedingt kennenlernen will.«
Ich schenke ihm ein mattes Lächeln. »Ich hoffe, du hast recht.«
»Habe ich immer.«
»Klugscheißer.«
»Das nehme ich als Kompliment.«
»Dir ist das Camp wohl zu Kopf gestiegen«, sage ich und boxe ihm spielerisch gegen die Schulter.
»He.«
»Jetzt stell dich nicht so an.«
Einen Wimpernschlag später rollt er sich auf mich und schlägt mir mit dem Kissen ins Gesicht. Dann ertönt ein miauendes Fauchen und Sekunde später taucht Theo zwischen uns auf. Seine Augen funkeln genauso angriffslustig wie sonst. Ich befreie meine Hände und hebe sie ergebend.
Doch Sir Theobald miaut so lange, bis Tilo von mir runterklettert und sich wieder zurück auf seinen Platz legt.
»Das ist unfair, dass die Katze auf deiner Seite ist.«
»Ich glaube nicht, dass er irgendeine Seite wählt.«
»Miauu.«
»Wahrscheinlich ist er traurig, weil er lieber jemanden von uns angegriffen hätte«, kommentiere ich lachend. Doch anstatt seine Pfoten zum Kampf zu heben, tapst Theo weiter nach unten und kringelt sich vor meinem Bauch zusammen.
»Wäre er nicht so scheiße beängstigend, wäre das da fast schon süß.«
»Na ja«, erwidere ich und betrachte das Fellknäuel skeptisch.
»Weitergucken?«
»Ich habe keine Ahnung, wo wir stehen geblieben sind.«
»Wir starten einfach mit Thor«, schlägt er vor und startet den Film. Ich reiche ihm die Snacks und wenig später befinden wir uns mitten in einer Schlacht, die einen fiktiven Planeten zerstören soll.
»Vielleicht mag ich Mädchen immer noch«, kommt es ganz leise von Tilo.
»Okay«, erwidere ich. Ich erzähle ihm nicht, dass ich Mädchen noch nie
so
mochte. Aber ich glaube auch nicht, dass das wichtig ist für ihn oder für mich.
Dacre (01:23):
Danke.
Tilo (01:25):
Nicht dafür.