27
Glitzer und Gemeinsamkeiten
»Ich sollte nicht gehen.«
»Miau.«
Ich schaue von meinem Spiegelbild zurück zu dem Kater, der mich in den letzten Tagen keine Sekunde aus den Augen gelassen hat. »Ich weiß nicht, ob du dazu befähigt bist, mir Ratschläge zu erteilen.«
»Miau, miau.«
»Was ist, wenn er nicht da ist?« Was ist, wenn er da ist? Wenn ich die Möglichkeit bekomme, nochmal mit ihm zu reden? Ihn zu sehen? Ihm zu sagen, dass es ein Fehler war, ihn vor die Wahl zu stellen? Auch wenn das nicht stimmt. Es war kein Fehler. Aber ich will ihn zurück.
»Miauuu.«
»Du hörst dich schon an wie Sara. Oder Camille.« Wenn die hören würden, dass mir der Preis egal wäre, Hauptsache, Cap kommt zurück zu mir, würden sie mich wahrscheinlich hier einsperren.
»Miau.«
»Ich finde, du solltest aufhören, so schlecht über dein Herrchen zu reden.«
Daraufhin leckt sich Theo nur die Pfote und schenkt mir keinen Blick mehr. Ich fahre mir gerade durch die Haare, als es an der Tür klingelt. Mist.
Ich hätte mich nicht so lange von Theo ablenken lassen und mich lieber um meine Locken kümmern sollen.
Ich laufe nach unten, dicht gefolgt von meinem pelzigen Freund.
»Dacre!«
»Ist für mich, Mum!«, antworte ich ihr rufend und öffne im selben Moment die Haustür.
»Hey.« Saras warmes Lächeln empfängt mich, genau wie ihre Arme einen Moment später.
»Hey.«
»Du riechst gut«, sagt sie und löst sich grinsend von mir.
Hitze kriecht in meine Wangen, die ich einfach ignoriere. »Danke. Kommst du noch kurz mit rein? Ich muss damit noch was machen.« Ich zeige auf das rote, lockige Gestrüpp auf meinem Kopf, das heute besonders widerspenstig ist. Vielleicht hätte ich doch auf Mum hören und noch einen Haarschnitt machen lassen sollen.
»Na klar, Camille wollte sowieso noch irgendwas aus dem Auto holen. Glitzer oder so.« Sara streift sich die Schuhe ab und folgt mir durch den Flur.
»Hallo Sara, wie schön, dass du vorbeikommst.«
»Hi, Karin.«
Natürlich ist Mum nicht im Wohnzimmer geblieben. Ihr Blick fällt zu mir und ich schüttele stumm mit dem Kopf. Daraufhin reißt sie ihre Augen auf und schenkt mir ein unschuldiges Lächeln. Ich rolle mit den Augen.
»Kannst du Camille gleich reinlassen, falls die Tür zufällt?«
»Ja, Spatz.«
»Mum.«
»Ja, ja.«
In meinem Zimmer angekommen, nimmt Theo Sara direkt in Beschlag. Er miaut, streicht um ihre Beine und reckt sein Köpfchen, als hätte er die letzten Tage nicht genug Streicheleinheiten von mir erhalten. Selbstverständlich fällt Sara auf sein aufmerksamkeitserhaschendes Programm rein und kniet sich neben dem getigerten Kater nieder.
»Ich gehe dann mal ins Bad.«
»Ich komme gleich nach. Ja, du bist ein feiner …«
Den Rest ihrer Liebkosungen höre ich nicht mehr, weil ich wieder zurück vor den Spiegel trete. Bewaffnet mit Wachs und Haarspray versuche ich, der Matte auf meinem Kopf Form zu geben. Meine Finger hängen auch Minuten später immer noch in der Luft, weil ich eigentlich keine Ahnung habe, was ich hier mache.
Sara erscheint im Türrahmen. »Wasch dir die Hände und setz dich auf deinen Stuhl, ich übernehme ab hier.«
Ich seufze erleichtert auf und folge ihren Anweisungen.
Als Camille meinen Raum betritt, hat Sara bereits ihre Finger in meinen Locken vergraben.
»Wie kommt es, dass ich noch nie in deinem Zimmer war?«
Ich lasse einen schnellen Blick durch den Raum gleiten. Da ich wusste, dass die beiden vorbeikommen, habe ich heute ausnahmsweise mal aufgeräumt.
»Meistens haben wir uns bei dir getroffen«, erwidere ich und ein Schauer läuft meinen Rücken runter, als Saras Fingernägel über meine Kopfhaut gleiten. Mir fehlen Berührungen. Und Cap. Vor dem Sommer war Mum die einzige Person, die ich regelmäßig umarmt habe.
»Okay, ich habe uns einiges mitgebracht.«
»Das sehe ich«, kommentiert Sara beim Anblick der Dinge, die Camille auf meinem Bett ausgebreitet hat. Auch Sir Theobald
scheint das alles interessant zu finden, denn er hockt wenig später neben Camille.
»Camille, was sagst du zu den Haaren?«, fragt Sara etwas später und löst ihre magischen Finger von meinem Kopf. Dabei war ich gerade kurz davor, so zu schnurren wie Theo, nur damit sie sie noch ein bisschen länger an Ort und Stelle lässt.
»Sehr gut. Dann können wir ja mit dem Glitzer starten.« Wenig später schimmern nicht nur Camilles und Saras Wangen, sondern vor allem Theos Fell.
»Der arme Kater«, murmele ich, als Camille mit den Händen in den Hüften vor mir steht.
»Glitzer, Dacre?«
»Nein, danke«, erwidere ich, obwohl ich finde, dass es den beiden wirklich gut steht.
»Sicher? Ich würde es auch dezent auftragen, vielleicht nur ein bisschen was auf den Wangen?«
Will ich zusätzlich zu meinen Haaren und dem nervigen Körperbau, der mich heute schon beinahe zweimal absagen gelassen hätte, anderen noch mehr Futter geben, über mich zu lachen? Ich betrachte die glitzernde Haut der beiden. Was würde Cap dazu sagen? Was ist, wenn wir es ausprobieren und es mir nicht gefällt? Was ist, wenn es mir gefällt?
»Dacre, wir können es einfach testen und wieder abwaschen, wenn du es doch nicht möchtest.« Woher auch immer Sara weiß, was mir gerade durch den Kopf geht.
»Okay«, erwidere ich leise und schaue zu Camille, die heute beinahe noch schöner aussieht als sonst. Sie hat den oberen Teil ihrer Haare in einem Zopf zurück geflochten und selbst auf ihren dunklen Strähnen klebt Glitzer. Sie trägt zerrissene Jeansshorts, ähnlich wie meine, nur kürzer. Darüber trägt sie ein schwarzes Oberteil, das ein bisschen wie Unterwäsche aussieht.
Ich wette, sie wird sich heute vor Angeboten kaum retten können. Was Maxi wohl dazu sagen wird?
Der Pinsel, der feucht über meine Haut gleitet, reißt mich aus den Gedanken. Das fühlt sich richtig angenehm an. Ich schließe die Augen und bin beinahe traurig, als sie mit den Fingern über die Stellen tupft, wo zuvor noch der Pinsel gewesen ist.
»Fertig.«
Ich öffne die Augen und treffe auf ihre dunkelbraunen, die nur so vor Zufriedenheit sprühen. Okay
. Bevor ich aufstehen kann, drückt sie mich wieder zurück ins Polster.
»Ich liebe die Shorts, Dacre, aber hast du nicht ein Shirt, das ein bisschen … figurbetonter ist?«
Sie will noch betonen, dass ich dünner und jünger aussehe?
»Ich glaube, damit würde ich mich nicht wohlfühlen«, murmele ich.
»Okay, Angebot: Ich suche dir was raus, du ziehst es an und wenn es dir unangenehm ist, dann trägst du das Outfit, in dem du dich wohlfühlst.«
Hilfesuchend schaue ich zu Sara, die gerade Theos glitzernden Kopf krault und von Camilles Aussage wahrscheinlich nichts mitbekommen hat.
»Ehm … okay«, erwidere ich ergeben.
»Darf ich an deinen Schrank?«
Ich nicke nur und lehne mich in meinem Stuhl zurück.
»Was hältst du hiervon?« Sie hat ein weißes Unterziehshirt in der Hand, das mir schon seit Jahren nicht passt, und das Kurzarmhemd mit den Blumen drauf, das Mum mir aus irgendeinem Urlaub mit Robert mitgebracht hat.
»Das ist mir zu klein. Und das hatte ich noch nie an«, sage ich und nicke zu dem Hemd.
»Zieh es bitte mal zusammen an.« Ich seufze fügsam, greife nach beiden Teilen und ziehe mich im Bad um. Wie erwartet sitzt das Unterhemd enger als alles, was in meinem Schrank ist, und ich müsste die Shorts so hochziehen wie Camille ihre, damit man meinen Bauch nicht sieht. Dann drehe ich mich zum Spiegel und
erstarre. Ich sehe … gut aus. Meine Locken fallen mir unperfekt geordnet in die Stirn.
Der Glitzer auf den Wangen ist unauffälliger als bei den beiden und sieht cool aus. Das Hemd passt perfekt zu dem Rotton auf meinem Kopf und meiner blassen Haut. Einzig meine Augen wirken viel kleiner und unscheinbarer aus als sonst.
Ich ziehe das Unterhemd noch ein Stück runter, als ich den Raum verlasse, aber es hilft nichts.
»O mein Gott, du siehst so hübsch aus«, kommt es von Sara, die immer noch neben Theo auf dem Bett sitzt.
»Beinahe perfekt«, murmelt Camille und kommt auf mich zu.
»Darf ich?«, fragt sie und hat wenig später die Hand schon an dem weißen Shirt. Sie schiebt es noch ein Stück hoch und tritt ein paar Schritte zurück.
»Perfekt. Hast du eine Schere hier?« Ich lege meine Hände auf den Bauch.
»Ja … warum?«
»Zieh das Unterhemd nochmal aus und gib es mir.« Ich gehe zurück ins Bad und gebe es ihr. Wenig später stehe ich mit offenem Hemd und zerschnittenen Shirt, das kurz über meinem Bauchnabel endet, vor den beiden.
»Das sieht so heiß aus, Dacre«, kommentiert Sara und strahlt mich breit an.
»Ich weiß nicht«, erwidere ich und fahre immer wieder über den Stoff des Shirts.
»Also, wenn jemand Crop-Tops tragen kann, dann du. Du hast die perfekte Figur dafür. Ich bin richtig neidisch.«
Camille verarscht mich, oder?
»Das kannst du nicht wirklich ernst meinen.«
»Warum sollte ich dich anlügen?«
Um mir ein gutes Gefühl zugeben, damit sich jemand anderes über mich lustig machen kann und es noch mehr wehtut?
»Dacre, erzähl uns doch einfach, wovor du Angst hast.« Sara ist
aufgestanden und steht neben Camille.
»Ihr seht es doch selbst. Was soll ich dazu noch sagen? Ich bin dünner und kleiner als die anderen. Außerdem sehe ich aus wie vierzehn. Ich verstehe nicht, was daran schön sein soll.«
»Du bist außergewöhnlich, ja, aber warum solltest du deswegen nicht schön sein?« Camille blickt zu Sara, die zustimmend nickt.
»Was Camille sagen will, ist, dass du wunderschön bist. Deine Haare, die grünen Augen, die Sommersprossen und deine Figur ergeben ein perfektes Gesamtkunstwerk. Zusätzlich bist du ein großartiger Mensch. Das heißt, du bist innen und außen toll. Wenn du willst, mache ich dir noch mehr Komplimente … Aber ich möchte dich nicht weiter in Verlegenheit bringen.«
Mein Kopf muss mittlerweile den gleichen Farbton wie mein Haar angenommen haben. Mein Herz schlägt ungewohnt schnell.
»Danke«, murmele ich und schlucke hart.
»Gern geschehen. Was sagst du zum Glitzer und den Haaren?«
»Ich mags. Aber … meine Augen sehen so klein aus.«
Daraufhin grinst Camille so breit wie noch nie. »Vertraust du mir?«
Ich schaue an mir herab. Zu dem bunten Hemd, das ich sonst nie tragen würde. Und zu dem bauchfreien Oberteil, das sich ungewohnt eng an meinen Körper schmiegt.
»Ja«, erwidere ich und setze mich zurück auf meinen Schreibtischstuhl. Camille kramt nach irgendwas in ihrer Handtasche und kommt wenig später mit einem braunen Stift in der Hand auf mich zu. Sie legt ihre Hand an mein Kinn und hebt es ein Stück.
»Guck mal nach oben zu deinen Locken.« Der Stift gleitet unerwartet weich über die Haut unter meinem Auge. Dann wechselt sie zu dem anderen.
»Okay, schau mich mal an.« Ich blicke in ihr konzentriertes Gesicht.
»Schließ die Augen.«
Ein paar Minuten später stehe ich vorm Spiegel und kann kaum glauben, wie meine Augen leuchten. Nichts mehr übrig von den glasig roten Augen der letzten Tage. Selbst die dunklen Schatten sind nur noch blass zu erkennen. Unmerklich, weil das Grün meiner Iris so ausdrucksstark ist wie nie zuvor.
»Wie hast du das gemacht?«, frage ich, als ich zurück ins Zimmer trete.
»Ein bisschen Zauberei und Kajal. Ich zeig es dir gerne beim nächsten Mal, aber wir sollten dringend los, die anderen warten schon.«
Tilo. Mist, ich hatte ihm gar nicht mehr geschrieben. Er ist garantiert auch schon auf dem Gelände.
Tilo (11:30):
Wir fahren jetzt los. Wie sieht‘s bei euch aus?
Tilo (12:20):
Ich warte wie besprochen am Eingang.
Tilo
(12:40): Dacre?
Tilo (12:42):
Seid ihr schon losgefahren?
Dacre (13:01):
Kommen jetzt. Sorry.