28
Festivals und Fehlentscheidungen
Auf dem Weg zum Festivalgelände versuche ich, das Unterhemd noch ein Stück weiter runterzuziehen. Das war eine schlechte Idee. Eine ganz miese.
»Du bist wunderschön«, kommt es von Sara, die nach meinen Händen greift und ihre Finger mit meinen verschränkt. »Wenn es gar nicht mehr geht, knöpfst du einfach das Hemd zu, okay?«
»Okay«, antworte ich und drücke ihre Hand.
»O mein Gott, ich habe was vergessen.« Camille dreht sich so schnell zu uns um, dass mir dabei beinahe schlecht wird. Wenn das Gefühl in meinem Bauch nicht sowieso schon verursacht, dass ich mich jeden Moment übergeben muss. Dann kommt Camille auf uns zu, greift nach meinem freien Handgelenk und malt mit einem dicken, schwarzen Stück Plastik irgendwas auf meinen Arm. Ich drehe ihn, nur um Regenbogenfarben auf der blassen, sommersprossenbesprenkelten Haut zu sehen.
»Meinst du nicht, dass der Glitzer und das Shirt schon auffällig genug sind?«
Aber Camille schüttelt nur lachend den Kopf und malt auch
Sara und sich bunte Farben auf den Arm. »Jetzt sind wir bereit.« Sie steckt den Stift wieder zurück in ihre Bauchtasche und nimmt meine andere Hand.
Wenig später kommen wir bei Tilo an, der nur ein paar Meter entfernt von den Jungs steht. Aber da sie sich untereinander noch nicht kennen, ist mein bester Freund ganz alleine.
»Okay krass! Ich will auch Glitzer!«, sagt er, nachdem er mich mit einer Umarmung begrüßt hat. Bevor Camille zur Tat schreiten kann, stelle ich erst mal alle einander vor. Mein Blick verbleibt aber nicht lange bei Ruven, Maxi und Josh, weil er weiter über die Menge gleitet. Weil mein Herz plötzlich in einem ganz anderen Takt schlägt. In einem, der noch vor wenigen Tagen mein Lieblingsrhythmus war. Ich wische mir die schwitzigen Hände, die sicherlich nicht von dem bewölkten Sommertag kommen, an meiner Shorts ab.
Was ist, wenn er mich wieder ignoriert? Wenn er deswegen noch nicht hier ist? Was ist, wenn er schon vorgegangen ist, weil er jemanden mitgebracht hat?
Ich wünschte, ich hätte mehr Mut. Dann würde ich Sara einfach fragen, wo Cap bleibt. Aber ich ertrage ihren Blick nicht mehr, mit dem sie mich dann immer betrachtet. Dieser mitleidige Ausdruck, bei dem ich mich noch jünger fühle als sowieso schon. Bei dem mir klar wird, dass es nicht okay ist, alles und sich selbst für die Person aufzugeben, die man liebt.
Also warte ich. Betrachte die Menschen um uns herum und merke, dass mein Outfit unter den anderen, sehr wilden und außergewöhnlichen, beinahe untergeht.
»Alles klar bei dir?«, fragt Sara leise und kommt mir ein Stück näher. Ich schlucke hart. Vielleicht sollte ich sie einfach fragen. Ihr davon erzählen, dass ich hoffe, dass er kommt. Dass ich nochmal mit ihm reden kann. Ihn darum bitten kann, uns nochmal eine Chance zu geben.
Aber der Moment ist vorüber, als Camille uns mit sich zieht und
wir zusammen mit Tilo den Jungs aufs Festivalgelände folgen.
Und dann lasse ich mich mitreißen, von all den Menschen um uns rum. Von dem salzigen Geruch nach Sommer, Sonne und Freiheit.
Lass mich ablenken von der Leere in meinem Inneren, die wenig später von dem Bass, der über das Gelände tönt, gefüllt wird.
Die Stimmung ist ausgelassen und für einen Moment spüre ich es, als wäre es meine eigene Freude. Meine eigene Begeisterung. Meine Vorfreude.
Wir lassen uns treiben, folgen dem Menschenstrom, der sich in Richtung einer Bühne bewegt. Ich greife mit meiner freien Hand nach Tilos, weil ich Angst habe, ihn zu verlieren. Weil ich ihn nicht wieder alleine lassen will. Er drückt meine Hand zur Antwort. Je näher wir der Bühne kommen, desto lauter wird die Musik. Desto mehr spüre ich das Bedürfnis, meine Beine im Takt zu bewegen.
Camille redet mit den Jungs über irgendeinen Wellenbrecher und wenn ich sie richtig verstehe, sind das Bereiche in die das Publikum eingeteilt wird. Aber meine Aufmerksamkeit wird wenig später von dem DJ eingefangen, der einen bekannten Popsong in eine Hardstyle-Hymne verwandelt. Es klingt überraschend gut. Wahrscheinlich würde ich mir das privat nicht anhören. Aber hier zwischen all den Menschen, die die Musik genauso fühlen wie ich, kann ich mir nichts Passenderes vorstellen.
Die Sonne bricht durch die Wolken und offenbart vor, hinter und neben uns ein Meer aus glitzernden Menschen. Wie Wellen bewegen sie sich zum Takt, den der DJ vorgibt. Und ich. Ich tanze mit Sara. Mit Tilo. Mit Camille. Nehme den Becher entgegen, den mir Josh hinhält. Das Bier ist genauso warm wie der Sommertag, aber das ist mir egal.
Ich lache, als Tilo den Drop verpasst und als Letztes am Boden
bleibt. Lasse mich mitreißen, als Camille mich zwischen sich und Maxi zieht. Schließe die Augen als ein Hit von Avicii läuft, weil er mich an den einen Discoabend erinnert, der sich anfühlt, als stamme er aus einem anderen Leben.
Weil er mich daran erinnert, dass, egal wie vollständig ich mich gerade fühle, immer ein kleines Stück fehlt.
Weil eine ganz bestimmte Person nicht da ist. Caspar.
Ich drehe mich zu Tilo um, weil ich will, dass er Sara für mich fragt. Als ich ihn entdecke, lege ich meinen Arm um seine Schultern und ziehe ein Stück zu mir heran. Doch er kommt mir zuvor. Sein Atem trifft warm auf mein Ohr.
»Meinst du, ich habe eine Chance bei Josh? Du hast nicht geschrieben, wie heiß er aussieht.«
Ich lache nur und schüttele mit dem Kopf.
»Nein?«, fragt er nochmal und schreit mir dabei ins Ohr. Ich reibe über die Stelle und zucke mit den Achseln.
»Wärst du mir böse, wenn ich’s mal versuche?«
»Nein«, erwidere ich und nicke dann bekräftigend. Keine Ahnung, wie Tilo das macht. Wie er so kurz nach dem Camp an jemand anderen denken kann. Bevor er sein Vorhaben in die Tat umsetzt, ziehe ich ihn nochmal zu mir.
»Weißt du, ob Cap noch kommt?«
»Ich habe Camille eben gefragt, die wusste leider auch nichts. Also wirklich nicht. Sonst hätte ich dir doch was gesagt.«
Ich lasse Tilos Finger los und ihn gehen. Das heißt nicht, dass Cap nicht mehr kommt. Vielleicht will er einfach nur die DJs sehen, die heute Abend auflegen. Vielleicht könnte ich ihm einfach eine Nachricht schicken?
Ich greife nach meinem Handy. Doch bevor ich überhaupt unseren Chatverlauf öffnen kann, greift jemand nach dem Gerät und nimmt es mir aus der Hand. Camille.
»Du bekommst dein Handy wieder, aber schreib ihm bitte nicht. Er ist es echt nicht wert.«
»Lass mich meine eigenen Fehler machen.«
»Wenn er hierherkommt, dann nur, weil er es will, nicht, weil du ihm schreibst.« Sie schaut mich traurig an und ich weiß, dass sie recht hat. Ich will ihr am liebsten wütend
irgendwas entgegnen. Dass sie nicht weiß, wie er zusammen mit mir ist.
Aber wir wissen beide, dass er nur an sich selbst denkt.
»Es tut mir leid«, sagt sie so leise in mein Ohr, dass ich sie kaum verstehe. Dann schiebt sie mir das Handy zurück in die Hosentasche und greift nach meiner Hand. Sie zieht mich zu Sara, die gerade mit Ruven tanzt. Aber das scheint weder die beiden noch Camille zu stören, denn wir schließen uns ihnen einfach an. Ich beobachte die drei, wie sie sich wild zum schnellen Takt bewegen. Ignoriere den Stich in meiner Brust und den Teil meines Herzens, der nicht mehr da ist. Lasse Musik und Bier durch meine Adern fließen. Genieße das Gefühl, dass meine Gedanken langsamer und meine Bewegungen unkoordinierter werden.
Ich beobachte die Farben des Himmels, der in Rot- und Orangetönen leuchtet. Dann fällt mein Blick auf einen Jungen, der mir schon mehrfach aufgefallen ist. Rabenschwarzes Haar. Unnatürlich helle Augen, die schon wieder an mir hängen. Er legt den Kopf schräg, als ich ihn noch einen Moment mustere. Hitze prickelt durch meinen Körper und ich wende mich wieder Camille zu. Sie legt den Arm um meine Schultern und zieht mich näher.
»Er findet dich heiß.«
»Garantiert nicht«, erwidere ich und schüttele vehement den Kopf. Dann hüpfen wir zum Beat. Zu den bunten Lichtern, die über das Meer an Menschen tanzen. Ich weiß nicht, wie lange wir schon hier sind. Das wievielte Bier ich in den Händen halte. Den wievielten feuchten Kuss mir Sara schon auf die Wange gedrückt hat. Den wievielten liebevollen Blick Ruven Sara zugeworfen hat. Die wievielte Abfuhr Camille Maxi schon erteilt
hat.
Ich habe keine Ahnung, wem die Kappe auf meinem Kopf gehört. Warum Cap nicht gekommen ist. Wo Tilo ist. Und dann ist es, als würde der Beat meinen Körper verlassen. Als würde das Gefühl wieder zurück in meinem leeren Körper kommen.
Wo zur Hölle ist Tilo? Vor uns sind Menschen, hinter uns und neben uns. Niemanden von ihnen kenne ich. Niemand hat blonde Haare und ist mein bester Freund.
»Weißt du, wo Tilo ist?«, frage ich Sara, die mich fragend mustert.
»Tilo«, brülle ich nochmal etwas lauter.
»Trinken holen mit Josh.«
Oh.
»Okay«, erwidere ich und schaue mich nochmal um, aber wenn die Lichter nicht bis hierhin kommen, ist kaum etwas zu erkennen. Nur Schemen. Menschen, die sich in den Armen liegen. Die tanzen. Die die Zeit ihres Lebens haben.
Und wer hätte gedacht, dass ich dazugehöre. Dass ich alles fühle und das nach allem, was gewesen ist. Ich sauge den Moment auf. All die schönen und unangenehmen Gerüche. Nach Bier, Sommer, Gras und Schweiß in allen Facetten, die man sich vorstellen kann.
Der vorletzte Act kündigt sich an und Camille schaut enttäuscht zu Sara, die neben mir steht.
»Warum haben wir uns nur eine Karte für Samstag besorgt? Ich könnte das hier jeden Tag machen.« Sie schnappt sich die Kappe von meinem Kopf und setzt sie sich auf.
»Weil das Line-Up morgen schwach ist«, antwortet Sara laut. »Also so schön das ist, aber jeden Tag? Niemals. Ich liebe Menschen, aber nicht so viele auf so engem Raum.« Das weiße Kleid, das sie heute trägt, scheint in den unzähligen Farben, die von der Bühne strahlen. Ruven hat die Arme um sie gelegt und küsst sie immer wieder. Und ich bin froh, endlich wieder richtige Freude für sie zu empfinden. Nicht wie für Mum. Mum,
die …
»Mum und Robert heiraten.« Für einen Moment hoffe ich, dass es in dem Beat untergeht, aber als wäre es geplant, ist genau in dem Moment die Musik leiser.
Super.
»Was?«, schreit Camille und reißt die Augen weit auf.
»Cap und ich werden Brüder. Und Mum wird den gleichen Nachnamen haben wie Cap.« Ich hebe den Becher zum Himmel, stoße still auf mein Schicksal an und trinke das warme Bier dann auf ex. Keiner sagt mehr etwas. Was sollen sie darauf auch erwidern.
Mein Becher, den ich vor wenigen Sekunden oder Minuten oder Stunden, wer weiß das schon, auf den Boden geworfen habe, wird wenig später ersetzt. Endlich taucht Tilo neben mir auf.
Ich kann seinen Gesichtsausdruck nicht lesen. Entweder habe ich schon zu viel getrunken oder wir haben uns beide in den letzten Wochen so verändert, dass ich ihn nicht mehr deuten kann.
»Und?«, frage ich und drücke mich noch ein Stück näher an ihn.
»Ich habe keine Ahnung, wie ich Kerle anmachen soll. Und Josh ist so still.« Seine letzten Worte kommen nur noch gelallt bei mir an, aber ich verstehe ihn trotzdem. Wahrscheinlich, weil wir einen ähnlichen Pegel haben.
»Tilooo«, ruft Camille laut und schließt uns beide in die Arme, als hätte sie uns Wochen nicht gesehen. Aber ich beschwere mich nicht. Ich liebe Berührungen. Liebe es, dass Tilo so gut mitaufgenommen wurde. Ich liebe den Rhythmus des aktuellen Lieds. Liebe es, dass Camille immer noch nach einem Garten voller Blumen und nicht nach dem Schweiß anderer riecht. Wie macht sie das? Bevor ich sie fragen kann, läuft Bier über meinen Arm.
Scheiße.
»Tilo, sag Dacre endlich, er soll den heißen Schwarzhaarigen klarmachen, der ihn seit Stunden beobachtet.«
»Was?«, fragen wir gleichzeitig.
»Dreht euch nicht um.«
Ich würde wahrscheinlich eh nichts sehen.
»Dacre, willst du mich verarschen? Ich versuche seit Stunden, jemanden anzuflirten, und dir werden Optionen auf dem Silbertablett serviert. Worauf wartest du noch?«
Auf Caspar.
Keine Ahnung, ob ich es laut gesagt habe, oder ob sie es mir aus meinem Gesicht ablesen können, aber ihre Mienen werden sofort ernster.
»Okay, Dacre. Du musst nichts machen, was du nicht willst. Aber geh doch einfach mal hin und guck, was passiert.«
Ich nicke nur. Weil sie recht hat. Weil Cap wahrscheinlich gerade mit jemand anderem in seinem Bett liegt. Mit irgendeinem Mädel. Er würde wahrscheinlich keine Sekunde zögern und dabei nicht an mich denken.
Camille lässt mich los, nickt aufmunternd und wendet sich dann Tilo zu.
»Wen hast du denn heute im Visier?«
Seine Antwort höre ich nicht mehr, weil ich mich von meinen Freunden entferne. Der Typ mit den eisblauen Augen steht bei einer Gruppe von Kerlen und sieht mich nicht. Vielleicht sollte ich wieder zurückgehen. Ich habe nicht mal eine Ahnung, was ich sagen soll. Tippe ich ihm auf die Schulter? Stelle ich mich vor? Frage ich, warum er mich die ganze Zeit beobachtet?
Sage ich ihm, dass er ganz anders aussieht als Cap und ich ihn deswegen anspreche?
Letzteres besser nicht. Die Musik und der Alkohol lassen mich mutiger werden, zumindest glaube ich, dass es daran liegt. Ich stolpere mehrmals, bleibe an anderen hängen, entschuldige mich lächelnd, aber niemand schenkt mir mehr als einen Blick.
Außer er. Denn sein Blick haftet wieder auf mir. Hitze klettert über meine Haut. Mein Herz schlägt immer schneller, je näher
ich ihm komme. Seine Augen sind jetzt nachtschwarz und ich würde am liebsten wieder gehen, weil sie mich an Caps erinnern.
»Das hätte ich nicht gedacht«, sagt er laut und beugt sich zu mir. Sein Atem kitzelt über meine feuchte Haut und ich habe keine Ahnung, was ich darauf sagen soll.
»Ich bin David. Dein Outfit gefällt mir.«
»Danke«, erwidere ich und bemerke erst jetzt, dass in meinem Kopf mehr Alkoholnebel als Höflichkeitsfloskeln vorhanden sind.
»Kein Name. Geheimnisvoll. Gefällt mir.«
Ich will irgendwas erwidern, aber da drückt er mir schon ein Getränk in die Hand und lächelt mich auffordernd an. Er legt den Arm um mich und zieht mich näher zu sich, während ich von dem Getränk nehme. Es schmeckt anders, aber ich kann nicht sagen, warum, weil mich sein Blick, der an meinen Lippen klebt, ablenkt.
Meine Beine stehen zwischen seinen, während wir uns zu dem Lied bewegen. Langsamer als mit Camille und Sara. Enger.
»Du bist so heiß«, flüstert er und leckt nur Sekunden später über die Haut unter meinem Ohr.
Shit.
Ich schließe die Augen. Großer Fehler.
Seine Finger, die über meinen Bauch streichen, fühlen sich an wie Caps. Seine Lippen. Seine Zunge. Seine Stimme, die mir irgendwas ins Ohr flüstert, das ich nicht verstehe.
Ich sollte gehen. Das hier war eine ganz blöde Idee. Ich schlage die Augen auf und er legt seine Lippen auf meine.
Er schmeckt nach Alkohol und Rauch. Anders. Egal, wie sehr mein Kopf will, dass es Cap ist. Ich lege meine Hände an seine Brust und drücke ihn von mir.
»Wir …«
»Zu viel getrunken?«, fragt er, bevor ich etwas sagen kann.
Ich nicke.
»Warum?«
Was?
»Warum hast du so viel getrunken?«
»Wollte vergessen«, antworte ich, ohne darüber nachzudenken. Vielleicht hätte ich das nicht sagen sollen. Aber er grinst nur. Entblößt weiße Zähne, die im starken Gegensatz zu seinen Haaren und Augen stehen. Am liebsten würde ich ihn fragen, wohin das Eisblau verschwunden ist, aber das macht man glaube ich nicht.
»Ich kenne da eine bessere Methode.«
Für was?
»Um zu vergessen.« Dann nimmt er meine Hand und zieht mich weg von seinen und meinen Freunden. Aber das ist für den Moment egal, weil ich nichts anderes will, als Cap zu vergessen. Ich will mit meinen Freunden Spaß haben, ohne mir immer vorzustellen, dass er jeden Moment kommen könnte. Wir verlassen den Teil, wo die Bühnen sind. Keine Ahnung, wohin er will, aber ich müsste nochmal aufs Klo.
»Wohin gehen wir?«
»Wart’s ab. Wird sich lohnen, versprochen.« Dann schenkt er mir noch einen Blick aus seinen dunklen Augen, den ich nicht deuten kann. Wir kommen an den Dixi-Klos vorbei und ich ziehe stärker an seiner Hand.
»Geduld ist nicht dein Ding, oder?« Darauf sage ich nichts mehr. Schließlich kann ich gleich immer noch zur Toilette. Wir gehen zwischen den Dixis durch und wenig später erkenne ich kaum noch die Hand vor Augen. Die Lichter vom Festivalgelände sind hinter uns. Irgendwo weiter weg laufen Leute, die nur wie Schatten durch die Dunkelheit schweben. Gänsehaut legt sich über meinen Körper. Ein Schauer läuft mir den Rücken runter. Ich stolpere und alles schwankt gefährlich. Keine Ahnung, ob es die fehlende Sicht oder der Alkohol ist. Alles dreht sich. Ich lasse seine Finger los. Drehe mich mit den Bewegungen. Die Übelkeit, die in mir aufsteigt, wird von seinem
festen Griff um mein Handgelenk gebremst. Als ich das nächste Mal blinzele, steht er direkt vor mir.
»Können wir einfach wieder zurück?«, frage ich. Will ich fragen. Ich bin mir nur nicht sicher, ob die richtigen Worte meinen Mund verlassen haben, weil sich meine Stimme ganz komisch anhört.
Doch er presst schneller seine Lippen auf meine, als ich meinen nächsten Atemzug nehmen kann. Sein Kuss ist hart. Anders als eben. Irgendwas klopft gegen meinen Brustkorb. Ich weiß nicht, ob von außen oder innen. Ob das mein Herz, die Angst oder seine Hand ist.
Ich stemme meine Hände gegen seinen Körper, aber er legt seine um mich und drückt mich dichter an sich. Seine Lippen liegen immer noch auf meinen. Schmerzhaft. Unerbittlich.
Weg ist der Geschmack nach Rauch und Bier. Bitterkeit steigt mir die Kehle rauf, legt sich auf meine Zunge. Von weit her ist der Bass immer noch zu hören. Wobei ich mir gerade nicht sicher bin, ob es nicht doch das Blut ist, das durch meine Adern rauscht. Shit.
Ich muss hier weg.
Ich mache einen Schritt zurück, versuche, ihn weiter wegzustoßen. Doch er lässt mich nicht.
Ich verliere den Halt und falle.
Falle. Falle. Falle.
Ich lande hart, alles dreht sich, bis mir wenig später all der Sauerstoff aus den Lungen gepresst wird. Dann liegt sein Mund wieder auf meinem. Alles fühlt sich komisch an. Ich weiß nicht, ob er sich bewegt oder der Boden unter mir. Ich japse nach Luft, die er mir wenige Sekunden später wieder verwehrt. Ein dumpfes Klopfen lenkt mich ab. Aber nur so lange bis sich mein Brustkorb schmerhaft zusammenzieht.
Verzweifelt drücke ich mich vom Boden ab, versuche, ihn von mir zu schieben, aber er ist stärker.
Nur gemurmelte Hilfeschreie verlassen meinen Mund, weil er
die übrigen Laute schluckt. Ich beiße ihm in die Unterlippe und schmecke Blut. Das hält ihn aber nicht auf.
Ich kralle die Hände ins Gras. Heiße Tränen laufen mir über die Wangen. Ich schließe die Augen. Das hier passiert nicht wirklich. Das kann nicht sein. Gleich kommt irgendwer. Irgendwer. Cap.
Er muss kommen. Cap hat mich beim letzten Mal auch gerettet. Alles dreht sich.
Ich atme tief durch die Nase ein. Konzentriere mich nur darauf, dass es gleich vorbei ist.
Dass Cap ihn gleich so verprügelt wie Kreuzkette. Ich denke an ihn. Die blonden strubbeligen Haare. Die dunkelblauen Augen. Seine kratzige Stimme nach dem Aufstehen. Seine Berührungen. Er muss einfach kommen.
Lass mein Leben nur einmal wie ein Film sein. Ein einziges Mal.
Davids Geruch, der all meine Sinne infiltriert, reißt die Hoffnung mit sich.
Nur wenig später spüre ich seinen Ständer an meinem Bauch. Beißende Übelkeit steigt in mir auf. Mir wird heiß und kalt.
Ich schlage mit den Fäusten gegen seinen Körper. So fest wie ich kann. Er stöhnt mir in den Mund. Ich weiß nicht, ob vor Schmerzen oder Lust. Meine Hände gehorchen mir nicht mehr. Treffen ihn nicht mehr. Liegen schlapp neben meinem Körper. Was passiert hier? Panik rast durch meinen Körper, gefolgt von Atemnot, weil er mit dem Gesicht meine Nase zudrückt.
»Nein!«, schreie ich in seinen Mund und schnappe nach Luft. All meine Versuche ihn zu schlagen oder von mir zu schieben, scheitern. Treiben mir Tränen in die Augen. Ich brauche Hilfe. Ich schaffe das nicht allein.
Als er endlich von mir ablässt, japse ich mehrmals verzweifelt, um meine Lunge mit Sauerstoff zu füllen. Grelle Lichter tanzen durch meine Sicht. Alles dreht sich. Egal, ob ich die Augen öffne oder nicht. Mein Herz pumpt so schnell, dass es mir jeden Moment aus der Brust springen müsste.
Ich will mich aufrappeln. Aber meine Arme versagen. Als ich es das zweite Mal versuche, drückt mich jemand fester ins Gras. Nicht jemand. Er kniet auf meinen Schultern und meiner Brust. Ich reiße die Augen auf. Zwischen all den Flecken in meiner Sicht, sehe ich, dass seine Hose offen ist.
»Hilfe! Hilfe!«, schreie ich so laut ich kann.
Doch nur wenige Sekunden später schiebt er mir seine Erregung in den Mund. Und dann geht alles schnell.
So schnell, dass ich mich frage, ob es nicht doch langsam ist.
Wie Zeit in Extremsituationen verläuft? Warum mein Herz nicht abhebt, obwohl es so schnell schlägt? Warum mir plötzlich heiß wird? So verdammt heiß, dabei liege ich doch auf dem kalten Boden. Liege ich überhaupt noch? Stehe ich? Fliege ich?
Mit einem Schlag wird mir schlecht. Irgendwas ist in meinem Mund. An meiner Nase. Ich bekomme kaum Luft. Sehe nichts. Höre nichts. Fühle mich leer. Bis alles wieder zurück ist. Das Klopfen. Die Übelkeit. Saure Flüssigkeit brennt sich durch meinen Körper. Sammelt sich in meinem Mund.
Ich würge, würge, würge.
Und dann bekomme ich keine Luft mehr.
Ich reiße die Augen auf. Sehe Sterne.
Viele Sterne. Zu viele Sterne.
»Scheiße«, ruft irgendwer, ich kenne seine Stimme aber nicht. Flüssigkeit läuft aus meinem Mund und wenig später wird alles schwarz.
Schwarz. Schwarz.
Tilo (00:25):
Dacre, wir wollen heim, wo bist du?
Tilo (00:41):
Wir fahren nicht ohne dich. Wo bist du?
Tilo (00:43):
Dacre? Geh bitte an dein Handy.
Sara (00:50):
Wir machen uns Sorgen. Melde dich bitte bei irgendwem.
Camille (00:52):
Dacre, sag uns einfach nur Bescheid, dass alles gut ist, dann brechen wir ohne dich auf.
Sara (01:10):
Wir gehen dich jetzt suchen, nur damit du Bescheid weißt. Ich mache mir Sorgen.
Tilo (01:14):
Shit, Dacre! Ich habe richtig Angst. Hoffentlich ist nichts passiert.
Camille (01:22):
Melde dich bitte!