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Vergessen vergessen
Mir ist kalt. Ganz kalt. Ich weiß nicht, wann mir das letzte Mal so kalt war. Mein ganzes Bett zittert. Und ich. Ich bin nicht mal richtig wach und trotzdem noch müde. So müde, als hätte ich keine Sekunde geschlafen. Dabei habe ich nicht mal die Augen geöffnet. Bin nicht aufgestanden. Ich liege hier. In meinem Bett. Oder?
Es wird hell. So hell, dass ich nicht mal die Augen öffnen muss. Ich hasse den Sommer. Aber warum ist mir immer noch so kalt? Ich versuche, mich zu bewegen.
Gemurmel dringt an meine Ohren. Es ist dunkel und mir ist nicht mehr kalt. Aber ich bin so müde. Müde. Müde.
»Dacre?«
Ich versuche, Mum zu antworten. Ihr zu sagen, dass ich noch weiterschlafen will. Wir haben Ferien. Ich muss nicht aufstehen. Ich muss nie wieder aufstehen, wenn ich nicht will.
»Dacre.«
Warum klingt ihre Stimme so besorgt? Ist was passiert? Ich öffne die Augen. Helligkeit flutet meine Sicht und ich muss mehrmals blinzeln, um irgendwas zu erkennen. Kopfschmerzen pochen gegen meine Stirn. Meine Augen brennen und tränen wenig später. Ich sollte aufhören, bis spät in die Nacht zu zocken. Ich habe doch gestern Myrsky gespielt, oder? Avicii. Musik. Glitzer. Gestern war das Festival.
Wie bin ich eigentlich nach Hause gekommen?
»O Gott, Dacre.« Mum ist mir plötzlich ganz nah. Sandelholz und Patschuli. Zuhause. Mir laufen Tränen die Wangen runter und ich weiß nicht warum. Weiß nicht, warum sie weint. Woher das Piepsen in meinem Zimmer kommt. Warum meine Bettdecke weiß ist. Ich habe keine weiße Bettwäsche.
Rabenschwarze Haare. Eisblaue Augen. Augen, die plötzlich schwarz werden.
Mir wird schlecht. So schnell, dass ich mir die Hand vor den Mund halte.
Ich würge. Würge. Würge. Breche in eine graue Schale, die Mum mir hält. Finger streichen durch meine Haare. Ich will das nicht.
»Hör auf.« Jeder Buchstabe tut weh. Jedes Wort schmerzt. Meine Stimme klingt nicht nach mir.
Erschöpft lehne ich mich zurück. Warum bin ich im Krankenhaus? Wie bin ich hierhergekommen? Warum weint Mum?
Mein Herz zieht sich zusammen. Es tut so weh. Wann hört das endlich auf? Warum schmerzt jede meiner Bewegung? Warum kann ich meine Hand nicht schneller heben, um sie auf ihre zu legen?
Nur schemenhaft fluten Erinnerungen und Bildfetzen mein Bewusstsein. Und jeder Gedanken befeuert meine Kopfschmerzen. Ich stöhne auf, fahre mit den Fingern über meine Kopfhaut. Feste.
Erinnerungen an andere Finger in meinen Haaren. Männliches Stöhnen.
Du stehst doch drauf.
Und dann falle ich. Falle. Falle. Falle.
Ein Schluchzen zerreißt die Stille. Tränen laufen mir die Wangen runter. Ich schließe die Augen. Will nicht mehr daran denken, was mir passiert ist. Wen ich geküsst habe. Was ich im Mund hatte.
Irgendwas berührt meine Brust und ich schreie. So laut, dass mir der Kopfschmerz die Sinne zerreißt. Dass mein Hals brennt, als hätte ich Feuer geschluckt. Noch mehr weinen. Ich weiß nicht, ob ich träume oder wach bin. Ich hoffe, dass ich träume. Dass das alles nicht passiert ist.
Dass ich neben Cap im Bett aufwache. Cap, der nicht gekommen ist. Der mich verlassen hat.
»Dacre.« Sara? Warum ist sie hier?
Ich will mit niemanden sprechen. Niemanden sehen. Keinem erzählen, dass ich schwach war. Dass ich mich nicht wehren konnte. Dass ich darauf gewartet habe, gerettet zu werden. Ich drehe mich weg. Jede Bewegung schmerzt. Jeder Knochen tut mir weh. Aber ich will sie nicht sehen. Will schlafen. Schlafen. Schlafen.
Als ich das nächste Mal aufwache, muss ich ganz dringend auf Toilette und habe gleichzeitig totalen Durst. Es ist dunkel.
Ich richte mich auf. Stelle die Beine auf den kalten Krankenhausboden. Alles dreht sich. Lichter tanzen vor meinem inneren Auge und erinnern mich an schwarze Erinnerungsfetzen. Schmerzhafte Bruchstücke, die in Einzelteilen durch mein Bewusstsein schweben.
»Dacre.«
Ich zucke vor Schreck zusammen und halte mich an dem Bett fest, um nicht umzufallen.
»Mum.« Jeder Ton tut weh.
Und dann weint sie leise. Mein Herz bricht noch ein Stück, obwohl ich nicht dachte, dass er noch etwas zum Brechen dagelassen hat.
»Soll ich dir zur Toilette helfen?« Ihre Stimme zittert und meine Augen brennen. Tun scheiße weh, aber ich will nichts sagen. Ihr nicht noch mehr Sorgen bereiten.
»Ja.«
»Darf ich deinen Arm halten?« Tränen laufen meine Wange runter. Ich nicke. Und dann umgreift sie meinen Unterarm.
Ich schließe die Augen. Versuche mich auf den festen Boden unter meinen Füßen zu konzentrieren. Alles dreht sich langsamer. Ich atme zitternd ein. Bemühe mich, die Bilder zu ignorieren. All die Erinnerungen daran, wer mich zuletzt berührt hat.
Wir gehen langsam zur Toilette und langsam wieder zurück. Warum kann die Zeit nicht schneller laufen? Warum bin ich noch nicht zuhause? Warum schmerzt meine Brust immer noch, dabei wollte ich doch vergessen. Vergessen, dass ich verlassen wurde. Dass ich nicht geliebt wurde. Dass ich nicht genug war.
Und jetzt will ich das Vergessen vergessen.
Was ist, wenn Mum weiß, was passiert ist? Ich will sie nicht fragen, weil ich ihr so schon nicht in die Augen gucken kann. Weil ich nicht erleichtert seufzen will, wenn sie meinen Arm loslässt.
»Trinken?«, frage ich und muss mich mehrmals räuspern.
»Auf dem Nachtschrank steht ein Becher. Du sollst langsam und schluckweise trinken, damit dir nicht wieder schlecht wird.« Sie versucht, ihre Stimme ruhig zu halten, aber ich höre ihr Weinen trotzdem.
Zitternd greife ich nach dem Becher. Kühles Nass benetzt meine Lippen. Spült den ekligen Geschmack von meiner Zunge.
»Soll ich dir deine Zahnbürste aus dem Bad holen?«
Ich nicke nur und wenig später hält sie mir die Bürste samt Zahnpasta hin. Ich greife danach. Bemühe mich, ihre Finger nicht zu berühren. Dabei ist das meine Mum. Tränen laufen weiter über mein Gesicht, während ich versuche, den Mund zu öffnen. Als der Bürstenkopf meine Zähne berührt, muss ich würgen. Alles zieht sich schmerzhaft in mir zusammen. Ich schließe die Augen. Öffne meinen Mund wieder und atme zitternd ein. Ich bekomme Luft. Alles ist gut.
Ich putze mir die Zähne mit offenem Mund und ignoriere die Paste, die mein Kinn herunterläuft. Mum reicht mir unter Tränen ein Papiertuch, das ich mir an den Mund halte.
Ich spucke in eine Schale, die sie mir hinhält, dann reiche ich ihr die Zahnbürste und nehme noch ein paar Schlucke von dem Wasser. Langsam lege ich mich zurück in die Kissen und schließe die Augen. Alles schmerzt. Zeitgleich fühlt es sich taub an.
»Schlaf noch ein bisschen.« Ja.
Als ich das nächste Mal aufwache, steht noch ein Bett in dem Raum, auf dem irgendein Mann liegt. Mum sitzt immer noch in dem Stuhl direkt neben meinem Bett. Sie hat die Augen geschlossen und ihr Kopf lehnt an der Wand. Ich schlage die Decke zur Seite und stehe langsam auf. Mit wankenden Schritten, aber deutlich schneller als gestern, gehe ich zur Toilette. Ich putze meine Zähne am Waschbecken. Halte mich mit einer Hand am Beckenrand. Zahnpasta läuft mir aus dem Mund. Aber ich kann atmen. Und ich muss nur zweimal würgen.
Dann wasche ich mich und packe die Zahnbürste zurück in die blaue Tasche, mit der ich im letzten Jahr zu meinen Großeltern nach Großbritannien gereist bin. Ich gehe mit der Tasche unter dem Arm zurück ins Zimmer, öffne die Schranktüren und werde hinter der zweiten fündig. Ich greife nach einem Shirt und einer Jogginghose. Dann stecke ich die Badezimmertasche in meinen Rucksack.
Zurück im Bad werfe ich das Krankenhaushemd auf den Boden und ziehe mir die Hose an. Als ich mit nacktem Oberkörper vor dem Spiegel stehe, schließe ich zitternd die Augen. Tränen, die ich nicht aufhalten kann, quellen unter den geschlossenen Lidern hervor. Ein dumpfes Gefühl breitet sich in meinem Magen aus, das nur ein Abklatsch von der Übelkeit ist, die ich die letzten Tage gespürt habe.
Ich atme vorsichtig aus, bevor ich die Augen wieder öffne. Mein blasser, sommersprossengesprenkelter Oberkörper ist übersät von blauen Flecken. Großen. Kleinen. Alle leuchten in der gleichen Farbe. Dunkelbau. Blutblau.
Ich halte mir die Hände vors Gesicht und sehe erst jetzt die Fingerabdrücke, die sich unnatürlich dunkel auf meinen Handgelenken abmalen. Ich lasse meine Arme sinken.
Rotgeweinte, schlammgrüne Augen blicken mir entgegen. Meine Sommersprossen wirken auf der fahlen Haut beinahe noch dunkler. Nichts ist mehr zusehen von dem Glitzer auf meinen Wangen, das ich so mochte. Meine Haare kleben an meinem Kopf, als wäre ihnen das Leben ausgesaugt worden. Ich fahre mir vorsichtig durch die roten Strähnen.
Meine Finger. Meine Finger. Meine. Finger.
Ich lasse das Krankenhaushemd auf dem Krankenhausboden liegen, als ich das Badezimmer verlasse. Dann greife ich nach Mums zarter, warmer Hand.
»Ja?« Ihre Stimme klingt müde und abgeschlagen.
»Ich will nach Hause.«
Sie richtet sich im Stuhl auf, schaut mich aus verschlafenen kleinen Augen an. Augen, die meinen so ähnlich sehen und doch ganz anders sind.
»Ich sag den Schwestern Bescheid. Aber wir müssen bestimmt noch die Visite abwarten.«
Wenige Stunden später steht eine Ärztin in einem weißen Kittel vor mir und erzählt mir etwas von Proben. Gewebeproben. Urinproben. DNA-Proben. Blutproben. GHB. Mögliche Verunreinigungen. Alkoholintoxikation.
Ich frage nach, was GHB ist, weil es nach einer Abkürzung aus dem Chemie Unterricht klingt, es aber bestimmt eine andere Bedeutung hat. 4-Hydroxybutansäure . Liquid Ecstasy .
Ich sage nichts mehr. Verstehe kaum noch, was sie mir sagt, weil ich einfach nur nach Hause will. Weil ich Liquid Ecstasy aus irgendwelchen Zeitungsartikeln über K.O. Tropfen kenne.
Vergewaltigungsdroge.
»Haben Sie das verstanden?«
Ich nicke nur. Keine Ahnung, was sie will. Warum mir das passiert ist. Warum ich hier bin.
Sie erzählt mir mit eindringlicher Stimme, dass ich mir Hilfe suchen soll. Ich weiß nicht, warum ich Hilfe brauche, es ist doch alles vorbei. Das Schlimmste habe ich ohne Hilfe geschafft. Ohne dass er mich beschützt hat.
Sie versucht mich darüber aufzuklären, was Drogen anrichten können. Was psychische und körperliche Abhängigkeiten bedeuten. Dass ich Glück im Unglück hatte, weil der Alkohol die negativen Wirkungen verstärkt.
Wenn sich Drogen so anfühlen, will ich nie wieder in Kontakt mit ihnen kommen. Sie lächelt müde. Keine Ahnung, ob ich das laut gesagt habe. Ich schaue hilfesuchend zu Mum, der Tränen die Wangen runter laufen. Was habe ich ihr nur angetan? Und mir?
Ich will die Ärztin fragen, wie ich ins Krankenhaus gekommen bin, aber sie erzählt gerade etwas von Atemstillstand und Erinnerungslücken.
Irgendwann ist ihr Vortrag vorbei und sie entlässt mich mit einem besorgten Ausdruck auf den Gesichtszügen.
Robert holt uns ab und schweigt die ganze Fahrt über. Zuhause angekommen, macht er die Tür auf und reicht mir seine Hand. Ich schüttele nur stumm mit dem Kopf und versuche mich mit eigener Kraft aus dem Auto zu drücken. Es dauert, aber irgendwann habe ich es geschafft.
Robert nimmt meinen Rucksack von der Rückbank und Mum fragt, ob sie meine Hand nehmen darf. Ich halte ihr stattdessen wieder meinen Unterarm hin. Ihr Blick bleibt bei den roten Striemen an meinem Handgelenk hängen. Ich schlucke hart.
Niemand sagt etwas. Auch nicht, als ich mich mit dem Rücken zur Tür ins Bett lege. Selbst Sir Theobald macht kein Geräusch, als er aufs Bett springt und sich neben mir einrollt. Zaghaft streiche ich mit den Fingern über sein weiches Fell. Sein Schnurren macht mich müde. So müde.
Tilo (09:12): Ich weiß gar nicht, was ich schreiben soll.
Tilo (10:15): Ich hätte dich nicht bestärken sollen.
Tilo (11:21): Ich hätte auf dich aufpassen müssen, so wie du auf mich.
Tilo (11:25): Es tut mir so leid.
Tilo (20:22): Melde dich bitte, wenn du zu Hause bist.
Tilo (20:45): Ich will nur wissen, ob es dir gut geht.
Sara (10:39): Ich bin immer da für dich. Ich habe dich lieb. Melde dich bitte, wenn irgendwas ist.
Maxi (18:20): Dacre? Ich habe mit deiner Mum gesprochen, Josh und ich kommen morgen vorbei.