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Ferienhausrealität und Freundschaft
Als es klingelt, denke ich nur für wenige Millisekunden an Cap. Schließlich könnte es immer noch sein, dass er seinen Schlüssel verloren hat und sich deswegen nicht blicken lässt. Aber spätestens, als ich Sara die Tür öffne, bricht die Realität über mir zusammen. Eine Realität mit einem gebrochenen Herzen und einem Trauma.
Zumindest glaube ich, dass es eins ist, weil Mum und ich die letzten Tage immer wieder nach Therapeuten gesucht haben, die auf Traumata spezialisiert sind. Wir haben mehrere abtelefoniert, den frühesten Termin aber erst für Dezember bekommen. Also habe ich das gemacht, was ich nicht tun wollte. Ich habe Josh geschrieben. Der für mich seinen Vater gefragt hat, obwohl das Verhältnis der beiden nicht gut ist.
Den ersten Termin mit meiner Therapeutin habe ich in zwei Wochen und ich weiß nicht wirklich, was mich erwartet.
»Fertig?« Saras Stimme reißt mich aus den Gedanken und ich halte zur Antwort meinen Rucksack hoch. »Perfekt.«
Auf der Fahrt erklären mir die beiden, dass wir in ein
Ferienhaus von Camilles Eltern fahren, das in den Bergen liegt.
»Tilo kommt übrigens morgen nach der Schule nach. Im Ort gibt es einen Bahnhof, da hole ich ihn dann ab.«
Ich grinse Camille im Spiegel dankbar zu. Hätte sie mich vorher gefragt und nicht überrumpelt, hätte ich abgelehnt und mich in meinem Bett verkrochen. Aber so hatte ich überhaupt nicht die Möglichkeit, ihnen abzusagen.
»Sara hat am Montag mit deiner Mum telefoniert, was sie von der Idee und dem Kurzurlaub hält, und sie war begeistert. Es war also alles von langer Hand geplant, nur eben ohne dich. Ich hoffe, du bist nicht allzu böse.«
Ich schüttele den Kopf, weil es mich nicht wundert. Weil Mum in den letzten Tagen erstaunlich gut gelaunt war, dabei höre ich sie abends manchmal immer noch weinen.
»Wo sind die Jungs?«, frage ich und bereue es Sekunden später. Zu den Jungs zählt schließlich auch immer Cap. Cap, der sich, wie Camille letzte Woche geschrieben hat, bei keinem gemeldet hat. Selbst bei Ruven nicht.
»Josh und Maxi haben im September noch Prüfungen. Ruven ist letzte Woche schon gefahren.«
Ich will sie fragen, warum sie nicht mit ist. Aber ich will nicht, dass Sara mir ins Gesicht sagt, dass sie wegen mir geblieben ist. Das muss sie auch gar nicht aussprechen, weil wir das auch so wissen.
»Hast du keine Prüfungen?«, frage ich, um die eigentliche Frage zu umgehen.
»Doch, aber erst in zwei Wochen und ich muss nicht in Tannstein sein, um zu lernen. Ich bin gerne hier.« Dann wirft sie einen Blick über ihre Schulter und lächelt mir liebevoll zu.
Ich schlucke den Kloß im Hals runter und schaue die restliche Fahrt aus dem Fenster. Beobachte, wie sich der Sommer ganz langsam verabschiedet. Wie sich immer wieder Wolken vor die Sonne schieben. Wolken, die aussehen wie Chips und
Katzenköpfe. Wolken, die so schnell vorbeiziehen wie der Sommer meines Lebens.
Als wir am Ferienhaus ankommen, staunen Sara und ich nicht schlecht. Denn auch meine beste Freundin war zuvor noch nicht hier. Während ich mir eine größere Holzhütte in den Bergen vorgestellt habe, stehen wir vor einem Glas- und Betonanwesen, das Camilles Wohnhaus in keiner Weise nachsteht.
»Wie kommt es, dass wir noch nie hier waren, Camille?«
»Ist zu abgelegen.«
»Zu abgelegen. Als wenn das ein Problem ist«, murmelt Sara und wir folgen Camille ins Haus. Dabei greift sie nicht nach meiner Hand, wie sie es sonst immer tut. Vielleicht fällt es mir aber auch nur auf, weil ich Angst habe, dass sich ihre Berührungen auch nicht mehr gut anfühlen.
Wir räumen aus und gucken noch einen Film zusammen, bevor wir uns schlafen legen. Obwohl das Haus genug Zimmer hat, hoffe ich, dass Tilo bei mir übernachtet.
»Ich bin für Wahrheit oder Pflicht«, schlägt mein bester Freund vor, als wir uns am nächsten Abend im Wohnzimmer treffen. Bis auf den kleinen Spaziergang heute Morgen und die Fahrt zum Bahnhof haben wir heute noch nicht das Haus verlassen. Wir waren draußen im Pool und Sara und ich haben Wasserball gespielt, während Camille sich gesonnt und irgendeinen Podcast gehört hat.
»Keine Partyspiele«, werfe ich ein, bevor ich wieder irgendwas machen muss, worauf ich keine Lust habe.
»Das ist eh langweilig. Wir wissen doch alles voneinander.«
»Ich weiß nicht mal, wie alt ihr seid«, wirft Tilo ein und verschränkt die Arme vor der Brust.
»Einundzwanzig«, antwortet Camille und trinkt von ihrem Bier.
»Okay und was studiert ihr?«
»O das ist ein guter Einwand, Tilo, wir könnten die beiden
fragen, was du studieren kannst.«
»Weißt du noch nicht, was du nach dem Abi machen willst?«, fragt Sara und mustert Tilo interessiert.
»Na ja, eigentlich weiß ich nur, was ich nicht machen will. Anwalt werden, oder Arzt. Nicht, dass ich was gegen Maxi oder Josh habe. Vor allem nichts gegen Josh.« Daraufhin läuft Tilo so rot an, wie ich es noch nie zuvor bei ihm gesehen habe.
»Was ist mit Josh?«
»Gute Frage, Sara, da klingelt irgendwas in meinem Hirn. Hast du nicht versucht mit ihm zu flirten auf dem Festival? Was ist daraus geworden?«, hakt Camille nach.
Ich versuche die beißende Kälte, die mich bei dem Wort Festival
überfällt, zu ignorieren. Ich will nicht jedes Mal zusammenzucken müssen, wenn der Abend erwähnt wird. Es war so cool, bis ich David begegnet bin.
Ich will nicht, dass das mein letztes Festival bleibt, nur weil ich Angst habe, dass mir sowas nochmal passiert. Dann dürfte ich gar nicht mehr vor die Tür gehen, schließlich hätte das beinahe überall passieren können. Auch im Nachtcafé oder in irgendeinem Studentenclub, den ich mich nächstes Jahr hoffentlich traue zu betreten.
»Ich wusste nicht, dass Josh auch auf Jungs steht«, wirft Sara ein und schaut zu Camille.
»Na ja, eher Josh als Maxi. Ich habe keine Ahnung warum, aber sobald sich das Thema nur in die Richtung von LGBTQIA+ bewegt hat, hat er sofort zugemacht. Und du weißt,
wie wichtig es mir ist, dass die Menschen um mich herum meine Einstellung dazu kennen. Dass Liebe zwischen zwei Menschen immer Liebe bleibt, egal welchem Geschlecht sie angehörig sind.«
»Zurück zu Tilo und Josh.«
»Danke, dass ich wenigstens noch zu Ende reden konnte«, kommentiert Camille und wirft ein Kissen nach Sara. Die duckt sich lachend weg, verschüttet dabei aber ihren Cocktail auf der
Tischplatte.
»Wenn ich zurück bin, will ich alles von Josh und Tilo wissen«, kommt es von Sara.
»Da gibt es eigentlich nichts zu erzählen. Ich habe noch nie mit einem Jungen geflirtet und er hat meine Fragen nur einsilbig beantwortet. Wir haben keine Handynummern ausgetauscht und nur kurz miteinander getanzt. Und das wahrscheinlich auch nur aus Versehen.«
»Nimm das nicht persönlich, Josh ist nicht so gesprächig, wenn er was getrunken hat. Schade, dass das nichts geworden ist«, sagt Sara und wischt mit dem Tuch, das sie aus der Küche geholt hat, den Tisch ab.
Ich schaue von Sara zu Tilo zu Camille. Wärme flutet meinen Körper. Ich bin so froh, hier zu sein. Dass Camille und Sara Tilo so aufnehmen, wie sie es mit mir gemacht haben.
»Ich glaube, ich habe von Flirts, der Liebe und Männern erst mal genug«, erwidert Tilo und fährt mit den Fingern über den Hals seiner Bierflasche.
»Darauf einen Toast.« Camille erhebt ihr Glas, genau wie Tilo. Und ich. Wobei in meinem nichts Alkoholisches mehr ist.
»Auf uns. Jeden von uns. Wir brauchen keine Flirts, Liebe oder Männer, um glücklich zu sein.«
»Prost.«
»Cheers.« Gläser klirren, Tilos Bier schwappt in Saras Cocktail, den er daraufhin trinken muss, weil er Sara nicht mehr schmeckt.
»Wo ist mein Cocktail?«, fragt er, als sie aus der Küche mit einem Neuen zurückkommt.
»Du wolltest eben keinen.«
»Da wusste ich noch nicht, wie lecker der ist. Mach mir bitte auch einen.«
Wenig später erzählt Sara von ihrem Auslandssemester in Lissabon. Von der Stadt. Der Uni. Den Menschen, die sie
kennengelernt hat. Das Portugiesisch schön, aber schwer zu lernen ist. Zumindest, wenn man kein Französisch in der Schule hatte.
»Du könntest auch Soziale Arbeit studieren, Tilo.«, schlägt Sara vor.
»Würde meinen Eltern auf jeden Fall überhaupt nicht gefallen. Vielleicht mache ich aber auch eine Ausbildung. Keine Ahnung.«
»Was studierst du eigentlich, Camille?«, frage ich, weil ich mich nur noch erinnere, dass sie Maxi und Josh übers Medizinstudium kennengelernt hat.
»Ich habe mich für Lehramt eingeschrieben. Habe mich doch entschieden, Jura abzubrechen.«
»Das hast du noch gar nicht erzählt!«, wirft Sara gespielt entrüstet ein.
»Ich hatte keine Lust, mich schon wieder dafür zu rechtfertigen, dass ich meinen Studiengang wechsele.«
»Camille, ich hoffe, ich habe dir nie das Gefühl gegeben, dass ich deine Entscheidungen belächele. Medizin und Jura haben dich nicht glücklich gemacht, hoffentlich ist das jetzt das Richtige. Und wenn nicht, dann wechsele eben nochmal. Ich stehe immer hinter dir.«
»Hör auf, so süß zu sein. Du weißt, dass Alkohol mich immer emotional macht.« Camille wischt sich eine Träne aus den Augen und wirft Sara einen Luftkuss zu. Sie fängt ihn auf und hält sich die geschlossene Hand an die Brust.
»Hoffnungslose Romantiker«, murmelt Camille und schnieft leise.
»Auf Freundschaft«, beginnt Sara und hebt ihr Glas.
»Auf das coolste Ferienhaus überhaupt und einen schönen Kurzurlaub. Danke, dass ihr mich mitgenommen habt.«
»Auf den Sommer, die Bucket-List und neue Freunde.« Camille blickt von mir zu Tilo, bevor auch sie ihr Glas hebt.
Ich schaue in die Runde. Schlucke hart. Versuche, die Tränen in
meinen Augen wegzublinzeln. »Auf euch. Darauf, dass ihr immer an meiner Seite seid und ich nicht alleine bin.«
Tilo (14:20):
Kannst du mir ein Handtuch mitbringen, wenn Camille und du euer Schminktutorial beendet habt?
Dacre (14:30):
Arsch. Sie zeigt mir doch nur, wie ich Concealer und Kajal benutze.
Tilo (14:35):
Ich weiß nicht mal, was das ist.
Tilo (14:36):
Vergiss mein Handtuch nicht!
Dacre (14:38):
Jaja.
Josh (15:20):
Ich hoffe, es ist alles gut bei euch in den Bergen? Liebe Grüße, auch von Maxi.
Josh (15:35):
Die Grüße von Maxi gehen speziell an Camille.