33
Nähe und Neuanfänge
Januar
»Wie geht’s Ihnen heute, Dacre?«
»Gut«, antworte ich ohne zu zögern. Ohne länger darüber nachzudenken oder ein ganz davor schieben. Sie mustert mich lange. Wartet darauf, dass ich etwas ergänze. Dass ich ihr erzähle, was mich beschäftigt, weil meine Therapeutin die einzige ist, die all meine Abstufungen von Gut kennt.
»Erzählen Sie mir von ihrer Woche.«
»Ich habe wieder angefangen zu spielen.« Mit den Fingern nestele ich am Stoff meines Pullovers.
»Schön. Wie fühlen Sie sich damit?« Ich lasse mir Zeit mit der Antwort, weil es albern ist, dass ich jemanden brauche, der mir dabei hilft, mir etwas Gutes zutun. Schließlich konnte ich mich vor dem Sommer kaum von meinem PC trennen.
»Gut. Ich habe gestern nochmal mit Sandura und TJ gesprochen. Es war komisch, weil sie mitten in den Vorbereitungen für die Qualiphase für die Weltmeisterschaft stecken.« Wir schweigen beide. Manchmal mag ich die Ruhe. Aber heute hinterlässt es ein flaues Gefühl in meinem Magen.
»Komisch … weil sie mit ihrem Leben weitergemacht haben und ich … das Gefühl habe, stehen zu bleiben. In der Vergangenheit festzuhängen.« Ich schaue ihr nicht in die Augen, weil ich weiß, dass sie das anders sieht. Aber ich kann nichts daran ändern, dass es sich so anfühlt.
Vielleicht bin ich neidisch. Vielleicht bereue ich meine Entscheidung, Myrsky aufgegeben zu haben. Der Preis war zu hoch.
»Ich finde es gut, wie differenziert Sie ihre Gefühle wahrnehmen, aber ich denke an der Realitätsüberprüfung können wir noch pfeilen, oder?« Sie schenkt mir ein mildes Lächeln und notiert sich einige Stichpunkte auf ihrem Notizblock.
»Vielleicht«, erwidere ich, weil ich weiß, dass sie recht hat. Sie blättert ein paar Seiten zurück und hebt dann wieder ihren Kopf.
»Wann war die letzte Nacht, die Sie wegen David nicht durchschlafen konnten?«
»Keine Ahnung.«
»Das letzte Mal, dass Sie beim Zähneputzen oder Essen, das Gefühl hatten sich übergeben zu müssen?«
»Vor zwei Wochen?«, sage ich zögernd.
»Okay. Und wann war das letzte Mal, dass sie eine Umarmung nicht ertragen konnten oder frühzeitig abbrechen mussten?«
»Ich weiß, worauf Sie hinaus wollen.« Auf ihren Lippen liegt immer noch ein Lächeln, das ich vorsichtig erwidere.
»Klingt das für Sie, als wären Sie stehen geblieben?«
»Nein«, gebe ich widerwillig zu und halte ihren Blick.
Als ich am nächsten Morgen wieder mal im Auto auf Tilo warte, denke ich nochmal an die Therapiesitzung. Daran, welche Ziele wir noch vor Monaten festgelegt haben. Dass ich es schaffe Mum eine halbe Minute zu umarmen, ohne in Tränen auszubrechen. Heute muss ich Mum manchmal bremsen, weil sie ganz schön Umarmungsverwöhnt ist. Aber ich glaube, das war ihr liebster Teil der Therapie. Und meiner auch.
Ich hupe nochmal und drehe die Heizung höher. Wenige Minuten später öffnet sich endlich die Beifahrertür und mein bester Freund steigt ins Auto.
»Was machst du immer so lange?«
»Dir auch einen guten Morgen«, erwidert er. Als er die Tür schließt, strömt noch mehr Kälte ins Auto.
Heute ist der erste Schultag nach den Weihnachtsferien. Den schlimmsten Ferien überhaupt, was nicht mal mit dem Lernen für die Abiprüfungen zusammenhängt.
»Wie steht’s um den Segen im Hause Sanders?«
»Ich weiß nicht, ob ich darüber reden will.«
»Versuch’s. Wenn nicht jetzt, dann später«, antwortet er und schenkt mir ein aufmunterndes Lächeln. Ich weiß nicht, wo ich wäre, wenn es Tilo nicht gäbe. Oder Sara. Oder Camille. Und die Jungs.
Die letzten Monate waren nicht einfach. Den Sommer jede Woche in unterschiedlichen Facetten zu erzählen und zu durchleben ist schwer. Manchmal habe ich das Gefühl, dass wir uns in der Therapie nur im Kreis drehen. Dass ich nie lerne, ich mir mehr Priorität einräumen darf als anderen. Dass ich manchmal egoistisch sein darf.
Das sind die Sachen, die mir eigentlich leichtfallen sollten. Weil die schweren Dinge erst noch kommen. Das Verfahren gegen David. Dass ich ihm vielleicht nochmal gegenübertreten muss.
Ich bin froh, dass ich nicht alleine dadurch muss. Dass ich Mum, Tilo und meine Freunde habe.
»Sollen wir nicht einfach schwänzen?«
»Was?«, frage ich, weil ich noch gefangen bin in den Gedanken an die nächsten Wochen.
»Du hast keinen Bock auf Schule und ich auch nicht. Wir könnten irgendwo richtig geil essen gehen nach Hause und ’ne Runde zocken.«
Noch was, das sich verändert hat: Ich konnte Tilo für Myrsky gewinnen. Mum macht schon immer Scherze darüber, dass Tilo einfach Caps Zimmer nehmen könnte. Scherze, über die ich immer noch nicht lachen kann.
Die mir immer für einen Moment den Atem rauben. Die mich daran erinnern, was ich mal hatte. Wer ich mal war.
»Cap ist in Schweden«, sage ich und bereue es nur wenige Sekunden später. Tilo sagt nichts. Ich weiß, dass ihn das Thema nervt. Dass ich es ihm die letzten Monate nicht einfach gemacht habe. Dass es immer noch Tage gibt, die dunkelblau sind, an denen ich nicht mal ein falsches Lächeln hinbekomme. Jede Woche arbeite ich daran, dass die Tage kürzer werden. Dass sie weniger werden.
Jede Woche ist das Ziel, dass ich selbst für meinen Gefühlszustand zuständig bin. Dass ich niemand anderem mehr die Macht darüber geben will. Und trotzdem schaffen sie es immer noch. Auf ihre eigene Weise. David. Cap.
»Warum?«
Es wundert mich, dass Tilo nachfragt.
»Wegen des Streits an Weihnachten. Roberts und Caps Beziehung ist noch schlimmer geworden als zuvor … Cap hat verkündet, dass er keinen Bock mehr hat, hier zu leben, und ein Auslandssemester in Schweden macht.« Dann hat er den Koffer genommen, mit dem er erst zwei Tage zuvor angereist ist, und ist gefahren. Keine Ahnung, ob nach Tannstein oder Schweden. Oder wohin auch immer. Ohne zurückzublicken.
»O Mann.« Das ist alles, was Tilo sagt. Und das ist okay. Er kann nichts daran ändern, dass Cap mir das Herz gebrochen hat. Und ich auch nicht. Ich lerne nur gerade, damit zu leben. Und damit, dass ich vielleicht nie wieder normal meine Zähne putzen kann.
»Ich bin für Schule.« Denn da ist alles wie vor dem Sommer. Normal. So normal, wie es eben ist, wenn andere einen seltsam mustern, weil man rote Haare hat. Oder weil man sich gegen eine Freundschaft und für den Außenseiter entschieden hat.
Tilo seufzt theatralisch. Ich parke vor der Schule und mache Mums Auto aus, das ich mir alle zwei Wochen leihen darf. In den anderen Wochen fährt Tilo, der zu seinem achtzehnten Geburtstag ein eigenes bekommen hat.
Allerdings glaubt er nicht, dass es ihm lange gehören wird, weil er nicht vorhat, ein Einser-Abi zu schreiben.
Dazu sage ich nichts mehr, weil ich seine Meinung nicht ändern kann, obwohl ich ihm schon mehrmals gesagt habe, dass er sich nicht alles versauen soll, nur, um seinen Eltern eins auszuwischen. Meistens winkt er nur lachend ab oder zeigt mir seinen lackierten Mittelfinger. Und manchmal, manchmal guckt er mich so komisch an wie jetzt.
»Du weißt, dass ich alles für dich machen würde.«
Ich drehe meinen Kopf in seine Richtung. Wenn er mich mit dem Schimmer in den Augen und den blonden strubbeligen Haaren anguckt, schlägt mein Herz immer ein bisschen schneller. Ich weiß nicht, warum. Oder warum sein Blick einen Atemzug zu lang auf meinen Lippen liegt.
»Auch wenn das bedeutet, dass ich mir eine Doppelstunde Reli und Sport geben muss.« Dann wendet er sich ab und ich atme erleichtert aus.
Vielleicht sollte ich Saras Angebot doch nachgehen und sie am Wochenende besuchen fahren. Vielleicht würde es Tilo und mir guttun, wenn wir ein paar Tage voneinander getrennt sind. Vielleicht merken wir dann nochmal, warum wir Freunde sind.
Denn ich weiß nicht, ob in meinem Herz je wieder Platz für Liebe sein wird.
Tilo (12:35): Ich soll dich lieb von Theo grüßen.
Tilo (12:38): Mich straft er weiterhin mit Ignoranz. Wenigstens will er nicht mehr mit mir kämpfen.
Tilo (12:42): Es sind die kleinen Dinge im Leben.
Dacre (13:02): Warum bist du bei mir, wenn ich nicht da bin?
Tilo (13:22): Ich hatte Sehnsucht …
Tilo (13:40): … nach den Kochkünsten deiner Mum ;)
Dacre (14:02): Spinner.
Tilo (14:03): Liebe dich auch.
Camille (13:02): Hoffentlich bist du bald da, Sara dreht hier vor Vermissung noch durch.
Sara (13:05): Camille auch, sie will es nur nicht zugeben!