2

image

 

Woher kommt die Gewaltbereitschaft?

»Baustelle Pubertät« – Hirnveränderungen bei Heranwachsenden

Das Jugendalter stellt in der Menschheitsgeschichte seit jeher eine besonders turbulente Lebensphase dar. Jugendliche sind ein ganz spezielles Völkchen, trotzig, laut und ungestüm, himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt. Manch ein älterer Mitbürger ist bei solch einem Verhalten fassungslos und fragt sich: Ist bei denen alles richtig im Kopf? Die Antwort ist einfach: Nein!

Lange dachte man, dass vor allem »die Hormone« daran schuld sind, dass die artige Tochter dem Papa plötzlich nur noch widerspricht oder dass der anständige Sohnemann plötzlich eigenartige Frisuren trägt und seltsame Laute von sich gibt. Die hormongesteuerte Reifung der Geschlechtsorgane spielt hierbei zwar tatsächlich eine Rolle, viel wichtiger in Bezug auf das jugendliche Verhalten sind aber die extrem dynamischen und plastischen Veränderungsvorgänge, die im Gehirn etwa zwischen dem 12. und 20. Lebensjahr stattfinden. Mit modernen bildgebenden Verfahren (»Neuroimaging«) wie der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT) oder der Positronen-Emissions-Tomografie (PET) konnte man feststellen, dass sich die verschiedenen funktionellen Hirnsysteme nicht zeitgleich und nicht gleich schnell entwickeln. Vereinfacht kann man sagen, dass unser menschliches Gehirn von hinten nach vorn ausreift. Während beispielsweise diejenigen Hirnstrukturen, die mit unseren Sinnesorganen verknüpft sind, bereits in den ersten Lebensjahren ihre volle Funktionsfähigkeit erreichen, entwickelt sich der präfrontale Kortex, also der Gehirnbereich unmittelbar hinter der Stirn, beim Menschen sehr langsam und erreicht seine Reife erst etwa zwischen dem 20. und dem 25. Lebensjahr. Während dieses Reifungsprozesses bauen sich zuerst unzählbar viele synaptische Verbindungen zwischen den Nervenzellen (Neuronen), der »grauen Substanz«, auf und bilden neuronale Netzwerke. Die Leitungsbahnen (Axone) zwischen den Nervenzellen werden durch Schichten des sogenannten Myelins isoliert, um die Signalübertragung zu optimieren. Die weiße Färbung des Myelins ist der Grund, weshalb die Leitungsbahnen als »weiße Substanz« bezeichnet werden. Durch wiederholte Lernerfahrungen werden bestimmte Netzwerke verstärkt und andere, weniger intensiv genutzte Netzwerke, wieder abgebaut. Nur was gebraucht wird, bleibt erhalten. Dieser plastische neuronale Auf- und Abbau – im Englischen auch als »blooming and pruning« bezeichnet – findet mindestens einmal in der frühen Kindheit und noch einmal während der Pubertät statt. Bei Jugendlichen ist das Gehirn quasi mit einer Großbaustelle zu vergleichen.

Hirnforscher wie Lutz Jäncke, Professor für Neuropsychologie an der Universität Zürich, sind sich einig, dass die Unreife des präfrontalen Kortex im Pubertäts- und Jugendalter für das wunderliche Verhalten unserer Teenager verantwortlich ist. Denn ausgerechnet der präfrontale Kortex hemmt und steuert so wichtige Verhaltensformen (auch Exekutivfunktionen genannt) wie Selbstdisziplin, Aufmerksamkeit, Leistungsmotivation, Informationsverarbeitung, Handlungsplanung, Emotionsregulation und Impulskontrolle. Das Frontalhirn bildet somit quasi das »Bremspedal« für unser Verhalten – und diese »Spaßbremse« ist bei Jugendlichen vorübergehend defekt. Ohne den hemmenden Einfluss des Frontalhirns kommt es zu einer überschießenden Wirkung des Botenstoffs (Neurotransmitters) Dopamin, der zu überschäumenden Emotionen und dem typischen lustbetonten Verhalten im Jugendalter führt. Dies hat Vor- und Nachteile.

Die Vorteile der defekten »Spaßbremse« im Jugendalter liegen darin, dass Jugendliche eine ungeheure Kreativität, Begeisterungsfähigkeit und Offenheit für Neues an den Tag legen. Darin liegt ein enormes Innovationspotenzial. Ohne das zügellose und auch oft riskante Neugierdeverhalten junger Menschen wären die Errungenschaften unserer Zivilisation vermutlich nicht denkbar. Ein weiterer Vorteil der Plastizität des unfertigen Frontalhirns liegt darin, dass sich Jugendliche an ihre jeweiligen Alters- und Entwicklungsaufgaben besser anpassen können. Denn in der mit der Pubertät verbundenen Entwicklungsphase besteht ein immenser Lerndruck, in nur wenigen Jahren aus dem versorgungsabhängigen Kind zu einem selbstständigen Erwachsenen zu werden. In dieser durch plastische Hirnveränderungen sehr »formbaren« Lebensphase können Elternhäuser und Schulsysteme immens viel dazu beitragen, dass die Entwicklung der Jugendlichen gelingt.

Die Nachteile der Unreife und ausgeprägten Plastizität des jugendlichen Frontalhirns liegen darin, dass sich Gehirn und Verhalten auch an negative Umwelten anpassen können. Ungünstige Peergroups, defizitäre Elternhäuser und Schulsysteme können die Optimierung des Gehirns verzögern oder seine Entwicklung in eine falsche Richtung drängen, was langfristig zu teilweise irreparablen funktionellen Defiziten führen kann. Ohne ein voll funktionstüchtiges Frontalhirn haben Jugendliche eine unzureichende Fähigkeit zu wirkungsvoller Selbstkontrolle. Dieses »Hardware-Problem« führt dazu, dass Jugendliche schlechter in der Lage sind, Impulsen zu widerstehen, umsichtig zu planen, die Konsequenzen ihres Tuns vorherzusehen und ihr Verhalten zu kontrollieren. Der typische Pik von unvernünftigem, delinquentem, impulsivem und gewalttätigem Verhalten sowie von Suchtmittelkonsum im Jugendalter steht mit diesem Hardware-Problem – neben anderen Faktoren – in einem ursächlichen Zusammenhang.

Bleiben wir bei Metaphern aus der Computersprache: Der präfrontale Kortex funktioniert bei Erwachsenen nicht nur als Bremspedal, sondern auch als »Firewall«, die hilft, Informationen zu filtern, zu sortieren und zu bewerten. Ohne Firewall ist der menschliche Rechner ungeschützt, und tatsächlich ist das Jugendalter ein sehr sensibles und verletzliches Zeitfenster, in dem das Gehirn besonders empfänglich für jegliche Arten von Schlüsselinformationen ist. In Bezug auf Jugendgewalt birgt dies große Gefahren, denkt man nur an die zahllosen Gewalt, Sex und Pornografie darstellenden Medieninhalte, mit denen Jugendliche heutzutage tagtäglich in Hülle und Fülle konfrontiert werden. Im Jugendalter können gewaltfördernde Informationen ohne die schützende Firewall des Frontalhirns besonders leicht in die Köpfe gelangen und dort die neuronale Architektur negativ beeinflussen. Gewalt beginnt im Kopf.

Die Erkenntnisse der neuen Hirnforschung betreffen auch das Bildungs- und Schulsystem. Auf der einen Seite haben wir Teenager, die aufgrund ihrer hirnstrukturellen Veränderungen in der Schule oft überfordert sind. Auf der anderen Seite steht der lehrplangebundene Bildungsdruck und Selektionsanspruch des Schulsystems. Wie passt das zusammen? Auf den ersten Blick gar nicht. Doch wäre es vorschnell, deshalb ein über Jahrzehnte gewachsenes Bildungssystem komplett umkrempeln zu wollen, schließlich ist die Unreife des jugendlichen Frontalhirns kein neues Phänomen, sondern so alt wie die Menschheit selbst. Was ist also heute anders als noch vor dreißig oder fünfzig Jahren?

Die öffentliche Diskussion der letzten Jahre zum Thema Jugendgewalt lässt zunächst den Eindruck entstehen, dass die Gesellschaft heutzutage wesentlich strenger und restriktiver gegenüber jugendlichen Grenzüberschreitungen geworden ist. Schaut man jedoch konkret in die einzelnen Lebenswelten der Jugendlichen, gewinnt man den Eindruck, dass die sozialen und erzieherischen Kontrollinstanzen von Eltern, Familie und Schule eher abgenommen als zugenommen haben. Hinzu kommt in vielen Fällen, dass sich Eltern und Schule die Erziehungsverantwortung oft gegenseitig zuschieben oder an Fachstellen delegieren. Das Wissen um das Vorhandensein einer Großbaustelle im jugendlichen Gehirn kann Eltern und Lehrpersonen helfen, das Verhalten von Teenagern besser zu verstehen und nicht immer alles gleich persönlich zu nehmen. Dadurch lassen sich viele Situationen entspannen.

Die Erkenntnis, dass Jugendliche für ihr ausuferndes Verhalten oft »nichts dafür können«, darf zweifelsohne nicht dazu führen, auf Erziehung zu verzichten und die Zügel schleifen zu lassen – nach dem Motto »Es nützt ja eh nichts!«. Im Gegenteil! Unbedingt müssen wir als Eltern auf problematisches Verhalten unserer Kinder reagieren, Stellung beziehen, Grenzen setzen und Werte vermitteln. Je früher wir dies tun, desto besser ist der spätere Teenager »softwaremäßig« – das heißt hinsichtlich Wertesystem und Verhaltensrepertoire – ausgestattet, um sich in der komplexen sozialen Welt von heute zurechtzufinden. Als Eltern sollten wir uns so verhalten, als wären wir quasi der präfrontale Kortex unserer Kinder, also die Bremse für überschießende Emotionen und die Firewall für einprasselnde Informationen. Ein Laisser-faire-Erziehungsstil ist ungefähr das Schlimmste, was einem überforderten Teenager passieren kann. Er oder sie benötigt konkrete Unterstützung beispielsweise bei der Strukturierung von Tagesabläufen, bei der Regulation von Impulsen und Emotionen, bei der Entwicklung von Selbstdisziplin und Leistungsmotivation sowie bei der Bewertung von Informationen. »Mut zur Erziehung« lautet die Devise. Fördern und Fordern hängen hierbei unabdingbar zusammen. Leistungsmotivation beispielsweise ist ein »Programm«, das im unreifen Frontalhirn unserer Kinder und Teenager noch nicht »hochgeladen« ist und daher trainiert werden muss. Diesbezüglich sind Lob und Stolz für gute Leistungen bestens geeignet, um den Botenstoff Dopamin im jungen Gehirn in die richtigen Bahnen zu lenken.

Hinsichtlich des Filterns und Sortierens der unzähligen Informationen, die tagtäglich auf uns einprasseln, braucht das junge Gehirn Heranwachsender Unterstützung. Es kann nicht angehen, dass wir unsere Computer und Notebooks mit den modernsten Sicherheitsprogrammen ausstatten, aber unsere Kinder und Jugendlichen ungeschützt durch die Welt gehen lassen. Um heutzutage wirksam schützen und erziehen zu können, braucht man folglich Einblick und Verständnis in die moderne Lebenswelt der Jugendlichen, zu der neben Schule, Freunden und Clique auch die Nutzung neuer Medien (Smartphones, Videogames, Social Networks etc.) dazugehört. Als Eltern und Lehrpersonen sind wir gefordert, hierfür das nötige Interesse und Engagement aufzubringen und in die Medienerziehung von Kindern und Jugendlichen zu investieren. Erziehung ist schwieriger geworden, keine Frage, aber sie lohnt sich weiterhin.

Fazit

Das Frontalhirn ist bei Jugendlichen noch unreif und ähnelt einer Großbaustelle. Jugendliche haben quasi ein »Hardware-Problem«.

Wichtige Exekutivfunktionen wie Selbstdisziplin, Leistungsmotivation, Handlungsplanung, Emotionsregulation und Impulskontrolle funktionieren daher bei Jugendlichen noch nicht ausreichend. Damit soll grenzüberschreitendes oder gewalttätiges Verhalten im Jugendalter nicht entschuldigt werden. Im Gegenteil gilt es, darauf hinzuweisen, dass das Pubertäts- und Jugendalter eine besonders verletzliche Lebensphase ist, in der die Teenager auf erzieherische Unterstützung durch verlässliche Bezugspersonen angewiesen sind.

Je früher in eine beziehungsorientierte Erziehung investiert wird, desto einfacher haben es Teenager, sich in der komplexen sozialen Welt von heute zurechtzufinden, da sie »softwaremäßig« gut ausgestattet wurden.

Wesentlicher Bestandteil von Erziehung muss heutzutage die Medienerziehung sein.

Familiäre Probleme

Die Familie ist die erste und wichtigste soziale Instanz, in der Heranwachsende in ihrem Denken, Fühlen und Handeln geprägt werden. In vielen Familien gelingt dies auf wundervolle Art und Weise. In anderen Fällen führen familiäre Probleme zu einer ernsthaften Beeinträchtigung der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen.

Es sind nicht nur die Gene schuld

Familiäre Probleme können schon bei der Fortpflanzung beginnen. Wird Gewalttätigkeit vererbt? Ja und nein. Zwillingsstudien konnten signifikante genetische Effekte in Bezug auf aggressives Verhalten nachweisen. Gewalttätigkeit wird aber nicht direkt vererbt, sondern indirekt über bestimmte Persönlichkeitsmerkmale, welche die Bereitschaft für gewalttätiges Verhalten erhöhen. Dazu gehören zum Beispiel intellektuelle Defizite oder Impulsivität, die vor allem bei der Entstehung »heißer Gewalt« eine Rolle spielen. Auch für »psychopathische« Persönlichkeitsmerkmale wie etwa Kaltherzigkeit und Verantwortungslosigkeit ließ sich in einer schwedischen Studie an über tausend ein- und zweieiigen jugendlichen Zwillingspaaren eine hohe Erblichkeit nachweisen. Dieselbe schwedische Forschergruppe konnte in einer Längsschnittstudie bei 2255 Zwillingen die Ergebnisse anderer Studien bestätigen, dass Jugendliche mit solchen psychopathischen Persönlichkeitsmerkmalen besonders oft und nicht selten schon in jungen Jahren Gewaltdelikte begehen.

Wie bereits erwähnt, reicht aber die Genetik als alleiniges Erklärungsmodell für gewalttätiges Verhalten nicht aus. Vielmehr muss von einer wechselseitigen Beeinflussung (in der wissenschaftlichen Literatur als »Kovariation« bezeichnet) zwischen der genetischen Veranlagung eines Menschen und den auf ihn einwirkenden Umwelteinflüssen ausgegangen werden. Als solche gelten beispielsweise Vernachlässigung oder Misshandlungen.

Das Modell der Gen-Umwelt-Kovariation geht davon aus, dass Eltern mit einer eigenen Veranlagung zu Gewalt nicht nur ihre Gene an ihre Kinder vererben, sondern auch deren Umwelt- und Entwicklungsbedingungen ungünstig prägen (passive Kovariation). Umgekehrt rufen Kinder mit genetisch veranlagtem aggressivem Verhalten auch negative Reaktionen bei ihren Eltern hervor und tragen dadurch ungewollt zu einer Verschlechterung ihres familiären Milieus bei (reaktive Kovariation). Aktive Kovariation wiederum bezeichnet das Phänomen, dass sich Kinder und Jugendliche mit einer genetisch veranlagten Aggressionsbereitschaft vorzugsweise Freizeitaktivitäten aussuchen, die ihren Neigungen entsprechen: Sie suchen sich zum Beispiel ähnlich veranlagte Freunde und Bekannte (»Peers«), was sich ungünstig auf ihre weitere Entwicklung auswirkt.

Wenn die Bindung zwischen Eltern und Kind zerstört ist

Ein entscheidender Einflussfaktor für die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen ist die emotionale Bindung zwischen Eltern und Kind. Normalerweise erlebt das Kind im Rahmen einer sicheren Bindung ein Gefüge psychischer Sicherheit, das es in wunderbarer Weise prägt. Sicher gebundene Kinder zeigen signifikant weniger Feindseligkeit und Störungen der Impulskontrolle. Eine gestörte Bindung hingegen kann bei der Entstehung von Gewaltfantasien und gewalttätigem Verhalten eine wichtige Rolle spielen.

Im Rahmen dieser Bindungstheorie prägte die US-amerikanische Entwicklungspsychologin Mary Ainsworth den Begriff der »Feinfühligkeit«. Eltern mit einer guten Feinfühligkeit können die Bedürfnisse ihres Kindes wahrnehmen, richtig interpretieren und angemessen darauf reagieren. Das Kind gewinnt dadurch Vertrauen in seine Mitmenschen, weil es deren Verhalten als vorhersagbar erlebt. Im Spiegel der elterlichen Reaktionen erlebt sich das Kind im günstigen Fall als liebenswert und kann darüber ein stabiles Selbstwertgefühl entwickeln. Im Rahmen einer sicheren emotionalen Bindung bekommt das Kind Unterstützung durch seine elterliche Bezugsperson beim Umgang mit Frustration und Aggression, Gefühle werden gespiegelt und Lösungen angeboten. Dadurch kann das Kind sukzessive selber lernen, seine Emotionen zu regulieren.

Auch der Erwerb von Sozialkompetenzen wie Moral, Empathie, Fürsorge, Verantwortungs- und Verpflichtungsgefühl gegenüber anderen geschieht durch die Beobachtung der elterlichen Bezugsperson. Sind diese Fähigkeiten beeinträchtigt und konnten in der Kindheit keine hemmenden Haltungen und Denkmuster entwickelt werden, kann dies insbesondere im Jugendalter, wo der elterliche Einfluss zurückgeht und mehr Eigenverantwortung gefragt ist, zu einer massiven Zunahme von dissozialen und aggressiven Verhaltensweisen führen. So zeigte sich auch in der High-risk-Studie »Minnesota Mother-Child Project«, dass unsicher gebundene Kinder im Entwicklungsverlauf signifikant mehr aggressives Verhalten zeigten sowie schlechtere Beziehungen zu Gleichaltrigen und häufiger Depressionen.

Menschliche Denk- und Interpretationsmuster sind also untrennbar mit den kindlichen Bindungserfahrungen verknüpft und ziehen entsprechende Verhaltensmuster nach sich. Seelische Gesundheit entsteht aus sicherer Bindung heraus. Im günstigen Fall bildet sich beim Kind und Jugendlichen ein Selbst- und Fremdbild im Sinne von: »Ich bin etwas wert, der andere mag mich, meine Umgebung verspricht Hilfe, ich kann etwas bewirken und kenne meine Grenzen.«

Es gibt verschiedene Gründe, weshalb sich die Bindungsqualität negativ entwickelt. Die elterliche Bezugsperson ignoriert die kindlichen Bedürfnisse, weil sie beispielsweise depressiv ist. Sie lässt das Kind alleine im Umgang mit den eigenen Emotionen wie Angst, Wut oder Trauer, weil sie vielleicht selber nie gelernt hat, damit umzugehen. Sie vernachlässigt oder misshandelt das Kind, etwa aufgrund einer eigenen Alkoholabhängigkeit oder weil sie selber als Kind misshandelt wurde. Insbesondere Misshandlungen, psychische Erkrankungen der Eltern oder hohe psychosoziale Risikofaktoren, wie zum Beispiel Gewalt zwischen den Eltern, haben einen sehr ungünstigen Einfluss auf eine positive Bindung zum Kind.

Welche Denkmuster bilden sich nun bei einem Kind, das derart im Stich gelassen wird? Es wächst mit der Annahme auf, keine Hilfe oder Unterstützung aus der Umgebung erwarten zu können, sondern alles mit sich selbst ausmachen zu müssen. Es wird die eigenen Emotionen schlecht bei sich wahrnehmen, geschweige denn regulieren können. Es wird kaum den Wunsch nach Nähe und Geborgenheit äußern, aus Angst, verlassen oder im Stich gelassen zu werden. Kinder und Jugendliche mit solch brüchigen Bindungserfahrungen zeigen oft starke Defizite in ihrer Empathie- und Beziehungsfähigkeit. Das Selbstwertgefühl dieser Kinder und Jugendlichen ist oft aus der subjektiven Erfahrung heraus beschädigt: »Ich bin es nicht wert, dass man sich um mich kümmert.« Die Umwelt wird von ihnen als unzuverlässig oder sogar bedrohlich erlebt, was nicht nur ein Grundgefühl der Angst, sondern auch der Wut erzeugt. Gerade bindungsgestörte Kinder und Jugendliche können ihre Wut oft schlecht regulieren und zeigen eine geringe Frustrationstoleranz. Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit für aggressive Durchbrüche.

Durch die Erfahrung, nur auf sich allein gestellt zu sein, kann es auch zu einem künstlich erhöhten Selbstwertgefühl und der Grundhaltung kommen, dass man sich – mangels Hilfe von außen – holen muss, was man braucht. Diese Haltung führt oft zu rücksichtsloser Gleichgültigkeit und zu der Motivation, möglichst rasch zu eigenen Vorteilen zu gelangen. Solche Denkmuster können in der Folge zu kaltherzigem Egoismus führen, der mehr und mehr Besitz von der Persönlichkeit der Jugendlichen ergreifen kann. Derartige Persönlichkeitszüge sind statistisch nachweisbar mit einem deutlich erhöhten Gewaltrisiko im Jugend- und Erwachsenenalter verbunden.

Welchen Einfluss hat die Erziehung?

Durch Erziehung können das Denken und Verhalten eines Kindes und Jugendlichen wesentlich geprägt und Gewissensstrukturen gefördert werden. Gut entwickelte Gewissensstrukturen (Verinnerlichung von Werten und Regeln, Schuldgefühle und Wiedergutmachungsversuche bei Fehlern etc.) sind mit niedriger Impulsivität und einer guten Fähigkeit zur Verhaltenskontrolle verbunden. Das elterliche Erziehungsverhalten spielt bei der Entwicklung dieser Sozialkompetenzen eine entscheidende Rolle. Ungünstig ist, wenn Eltern zu viele oder zu wenige Regeln aufstellen und nicht konsequent auf die Einhaltung der Regeln achten. Während ein rigider Erziehungsstil eher aggressives Verhalten beim Kind fördert, führt Vernachlässigung eher zu nicht-aggressivem, delinquentem Verhalten (wie Stehlen). Eine Kombination aus beiden Erziehungsstilen ist für die kindliche Entwicklung besonders ungünstig.

Reizbare, überreagierende und drohende Eltern liefern dem Kind und Jugendlichen oft selber ein Modell für aggressives Verhalten, vor allem wenn sie Körperstrafen anwenden. Sie lassen dem Kind kaum Entwicklungsspielraum, sondern zwingen ihm ihre Vorstellungen unter stetiger Androhung von Strafe auf. Es gibt Kinder, die einem solchen Erziehungsstil unbeschadet entwachsen. Es gibt aber auch Kinder, deren Selbstwert darunter leidet, weil Misserfolge zu streng geahndet und Erfolge zu wenig beachtet werden. Zudem lernen sie, ihre Bedürfnisse und Emotionen zu verleugnen. Vor allem »unerwünschte« Gefühle wie Wut und Ärger werden unterdrückt. Diesen Jugendlichen fehlt dann ein Konzept, mit ihrer Aggression umzugehen. Wenn die Aggression vom Kind einerseits dauernd unterdrückt wird und andererseits daheim von den Eltern modellhaft vorgelebt wird, sucht sie sich irgendwann Ventile. Solche Jugendliche leben ihre Aggressionen oft in Gewaltfantasien aus oder lassen ihrer Wut außerfamiliär freien Lauf. Es gibt auch Jugendliche, die ihre aufgestauten Aggressionen gegen sich selbst richten und Suizidgedanken entwickeln.

Wenn die Gewalt plötzlich ausbricht

Der fünfzehnjährige, unauffällige und emotional überkontrollierte Fabian wuchs als mittlerer Sohn einer nach außen überangepassten Einwandererfamilie auf. Aus allen Kindern sollten »Vorzeige-Schweizer« werden. Zu Hause zwingen die psychisch kranke Mutter und der impulsiv-aggressive Vater Fabian ihre Vorstellungen unter stetiger Androhung von Strafe auf. Fabian hat oft das Gefühl, nicht zu genügen, kann aber mit niemandem reden. Fabians Freund und Klassenkamerad Pascal ist in vielen Dingen erfolgreicher als Fabian. Fabian ist neidisch und wütend, kann sich diese negativen Gefühle aber nicht eingestehen. An einem Vormittag in der Schule stößt Fabian mitten im Unterricht seinem Freund und Sitznachbarn Pascal ein Küchenmesser in den Hals. Pascal überlebt nur knapp. Bereits Tage und Wochen vorher hatte Fabian die Szene in seiner Fantasie wieder und wieder durchgespielt. Nach der Tat versucht sich Fabian das Leben zu nehmen. Die vordergründige Fassade der Familie bricht zusammen.

Es gibt auch Eltern, die stillschweigend das aggressive Verhalten ihres Kindes dulden oder sogar belohnen. Kulturelle Einflüsse können hier eine Rolle spielen, wenn beispielsweise patriarchalische Väter das dominante und gewaltbereite Auftreten ihrer Söhne gutheißen. Der Jugendliche entwickelt dadurch die innere Vorstellung, dass Gewalt als Handlungsstrategie nicht nur legitim, sondern auch besonders »männlich« ist.

Doch auch Gewalt ablehnende Eltern können unbewusst das aggressive Verhalten ihres Kindes fördern, indem sie dem Kind nach aggressivem Verhalten besondere Aufmerksamkeit schenken oder es von unangenehmen Aufgaben befreien (Beispiel: Kind tobt und schlägt die Mutter, weil es die Zähne nicht putzen will und wird mit ungeputzten Zähnen ins Bett geschickt).

Wenn die Familie auseinanderfällt

Das Auseinanderbrechen von Familien nach Trennung und Scheidung der Eltern stellt eine beachtliche Stressquelle für die betroffenen Kinder dar, da die direkten Folgen der Trennung (Konflikte der Eltern, Einschränkung des Kontakts zu einem Elternteil etc.) mit den indirekten Folgen (Verminderung des Einkommens, Veränderung des Wohnorts, Neuaufbau eines Freundesnetzes etc.) kumulieren. Die Kinder werden in den meisten Fällen unter die Obhut der Mutter gestellt. Alleinerziehende Mütter müssen oft die Erziehungsaufgaben sowie die finanzielle Absicherung der Familie alleine bewerkstelligen, worunter die Erziehung leidet. Zudem werden Kinder von den getrennten Elternteilen oft unbewusst in eine Erwachsenen- oder sogar Partnerersatz-Rolle gedrängt, mit der die Kinder emotional überfordert sind. Söhne alleinerziehender Mütter versuchen oft, die Rolle des »Mannes im Haus« einzunehmen, lassen sich von ihrer Mutter nichts mehr sagen, sondern zeigen ihr gegenüber dominantes und aggressives Verhalten.

Auch die meist über lange Zeit bestehenden Loyalitätskonflikte (es beiden Eltern recht machen wollen) stellen eine starke Belastung für die Kinder dar, vor allem wenn es den Eltern nicht gelingt, einen respektvollen Umgang miteinander zu finden. Insgesamt müssen Scheidungskinder beachtliche Anpassungsleistungen erbringen. Aggressive Verhaltensweisen solcher Kinder und Jugendlichen können Ausdruck ihrer Überforderung sein. Eine umfassende Analyse zur Frage von Scheidungsfolgen zeigt, dass Scheidungskinder im Vergleich zu Kindern von nichtgeschiedenen Paaren in sieben untersuchten Bereichen signifikant schlechter abschneiden:

schulische Leistungen (geringer)

Sozialverhalten (aggressives Verhalten, Betragensverstöße)

emotionales Befinden (Stimmungsschwankungen, Ängste, weniger Lebensfreude)

Selbstbild (niedrigeres Selbstbewusstsein, negativere Selbstwahrnehmung, geringere eigene Kompetenzüberzeugung)

soziale Anpassung (niedrigere soziale Beliebtheit, schlechtere Integration, Isolierung)

Mutter-Kind-Beziehung (weniger Affektivität und schlechtere Qualität der Interaktion)

Vater-Kind-Beziehung (weniger Affektivität und schlechtere Qualität der Interaktion).

Diese Unterschiede schlugen sich allerdings nur in geringen Effektstärken nieder. Das bedeutet, dass zwar negative Wirkungen der Scheidung auf die Kinder nachweisbar sind, diese jedoch nicht sehr stark ausfallen. Interessant ist, dass die Verschlechterung der Vater-Kind-Beziehung die stärkste Effektstärke aufweist, auch wenn dieser Effekt statistisch gesehen ebenfalls eher schwach ist. Da die Kinder in den meisten Fällen unter die Obhut der Mutter gestellt werden, reduziert sich der Kontakt des Kindes zum Vater oft erheblich. Besonders für Jungen, aber auch für Mädchen ist es ungünstig, wenn der Vater als Orientierungs- und Identifikationsfigur wegfällt. Aus der Bindungsforschung ist bekannt, dass eine sichere Vater-Kind-Beziehung Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten ermöglicht, weil sich das Kind auf die Unterstützung eines »Stärkeren und Weiseren« verlassen kann, falls es der Herausforderung nicht gewachsen ist.

Weitere familiäre Risikofaktoren sind Armut, große Familien, schlechte Wohnverhältnisse, Kriminalität der Eltern oder Leben in sozialen Brennpunkten. In der Mannheimer Längsschnittstudie konnte gezeigt werden, dass Kinder mit aggressiven Verhaltensstörungen oft schon sehr früh mit dieserart ungünstigen Lebensbedingungen konfrontiert waren, was die grundlegenden Defizite in der psychischen Struktur solcher Kinder und das aggressive Verhalten erklärbar macht. Ein Kind kann unter schlechten sozialen Lebensbedingungen weniger positive Lernerfahrungen machen als ein besser situiertes Kind. Im Gegenteil, es wächst mit einem Grundgefühl von Bedrohung und Angst auf (z. B. durch hohe Gewalt- und Drogenkriminalität im Wohnquartier) und lernt Gewalt als »normale« Konfliktlösungsstrategie kennen.

Auch bei ausreichender materieller Absicherung erlebt ein Kind, das in einem ungünstigen Milieu aufwächst, sich und seine Familie als sozial benachteiligt. Dieses Phänomen kann beim Jugendlichen Gedanken und Gefühle von Beschämung und Demütigung, aber auch von Wut und Hass nach sich ziehen, was die Wahrscheinlichkeit für aggressives Verhalten stark erhöht. Migration und Enkulturationsprobleme können diese Problematik noch verschlimmern und auch zu Aggression zwischen rivalisierenden Subkulturen oder Jugendbanden führen.

Fazit

Gewalttätigkeit wird nicht direkt vererbt, sondern indirekt über Persönlichkeitsmerkmale, welche die Wahrscheinlichkeit für gewalttätiges Verhalten erhöhen.

Genetische Veranlagung und Umwelteinflüsse beeinflussen sich immer wechselseitig.

Unter den familiären Einflussflussfaktoren für Jugendgewalt spielen neben Armut und sozialer Benachteiligung vor allem das elterliche Erziehungsverhalten und die Eltern-Kind-Bindung eine entscheidende Rolle. Durch eine gestörte Bindung wird der Erwerb wesentlicher prosozialer Fähigkeiten wie Moral, Empathie, Fürsorge, Verantwortung- und Verpflichtungsgefühl behindert. Diese Defizite in der Persönlichkeitsentwicklung des Jugendlichen leisten Gewaltfantasien und gewalttätigem Verhalten Vorschub.

Der Einfluss von Peergroups

Als Peergroups (oder kurz: Peers) werden die Bezugsgruppen von Jugendlichen bezeichnet, die sich aus etwa gleichaltrigen Individuen zusammensetzen und deren Mitglieder ein freundschaftliches Verhältnis verbindet. Diese Bezugsgruppen können auch als Cliquen oder Freundeskreise beschrieben werden.

Beispiel 1: Mit geraubtem Geld Party machen

Kevin »hängt« am liebsten mit seinen Kumpeln ab. Sein Freundeskreis ist multikulturell gemischt. Viele davon stammen aus schwachen sozioökonomischen Verhältnissen und hatten schon Ärger mit der Polizei wegen Cannabiskonsums, Schlägereien oder Sachbeschädigungen. Kevin und die meisten seiner Kumpel haben nach dem Schulabschluss keine Lehrstelle gefunden. Sie haben daher viel Zeit und treffen sich regelmäßig an der Aare, am Bahnhof oder in einer Diskothek. Gemeinsame Hobbys sind Kiffen, Reden, Musik hören, Rappen oder sich eine »gute Schlägerei« suchen.

Der Kontakt zu seinen Kumpeln ist Kevin sehr wichtig, sie sind für ihn wie Familie. Seine Eltern haben allerdings ein großes Problem damit, deshalb kommt es immer wieder zu Konflikten. Kevin kann die Vorhaltungen seiner Eltern schon lange nicht mehr ertragen, weswegen er möglichst wenig Zeit zu Hause verbringt. Mit seinen 1,85 Metern und seinen 110 Kilogramm ist er ein ziemlicher Schrank. Abends ist es schon x-fach zu Schlägereien mit anderen Jugendgruppen gekommen. Kevins Kraft und Körpergröße sowie seine Bereitschaft, andere einzuschüchtern und Gewalt anzuwenden, haben ihm in seinem Freundeskreis schon viel Anerkennung eingebracht. Er genießt Respekt und hat in seiner Clique eine »Leaderposition« inne.

Eines Abends wollen Kevin und seine Freunde an ein Stadtfest gehen und dort »richtig Party machen«. Sie sind allerdings knapp bei Kasse, weshalb Kevin die Idee aufbringt, jemanden auszunehmen. Die anderen sind sofort begeistert, denn Kevin hat immer die besten Ideen. Gemeinsam warten sie in der Nähe eines Bankautomaten und rauben den nächstbesten Passanten, einen jungen Mann aus. Kevin baut sich vor ihm auf, schüchtert ihn ein und fordert ihn auf, sein Portemonnaie herauszurücken. Der junge Mann will sich das nicht gefallen lassen. Nach einem Wortgefecht verpasst ihm Kevin einen heftigen Faustschlag, der den Mann zu Boden bringt. Anschließend schlagen und treten Kevin und seine Kumpel auf das Opfer ein und nehmen ihm dann sein Portemonnaie und Handy ab. Gemeinsam geht es nun in Richtung Stadtfest. Eine ältere Dame, die das Tatgeschehen aus einiger Distanz beobachtet hat, ruft die Polizei, die Kevin und die anderen beteiligten Jugendlichen kurze Zeit später aufgreift. Der beraubte Passant wird mit einer Mittelgesichtsfraktur, einem Rippenbruch und diversen Blutergüssen ins Krankenhaus gebracht.

Beispiel 2: Zwischen Loyalität und Verrat

Mansur und seine Familie kamen als kurdische Flüchtlinge in die Schweiz, als Mansur zehn Jahre alt war. Zuvor hatten er und seine Familie über mehrere Jahre Gewalt und Demütigungen durch das türkische Militär erfahren. Die ersten drei Jahre in der Schweiz lebt Mansur angepasst und hat Mühe mit dem Schweizerdeutsch. In der Oberstufe findet er über einen neuen Freund Anschluss an eine große, multikulturelle Clique in Aarau. Die meisten konsumieren Cannabis und hatten schon Probleme mit der Polizei. Alle sind »korrekt«, »cool drauf« und nett zu Mansur. Sie nehmen ihn in ihre Gemeinschaft auf.

Mansur fühlt sich endlich zugehörig und hat das Gefühl, dass ihn niemand mehr so schnell blöd anmachen kann, weil er mit so vielen Leuten zusammen ist. Unter diesen hat der 21-jährige Ufuk eine dominante Chefposition inne. Ufuk hat schon mehrfach Leute ausgeraubt und angeblich sogar abgestochen. Mansur ist es sehr wichtig, dass ihn Ufuk respektiert. Ufuk gibt Mansur aber immer wieder klar zu verstehen, dass er sich diesen Respekt erst verdienen müsse, indem er sich an den regelmäßigen Raubüberfällen der Gruppe beteilige, ansonsten sei er eine »Pussy«. Mansur möchte aber keine »Pussy« sein. Er will seine Loyalität zu Ufuk und den anderen demonstrieren, da sie wie eine Familie für ihn geworden sind. Raub und Gewalt gilt in seiner Clique als legitim und bietet zudem willkommene Abwechslung und Action.

Schließlich macht Mansur bei seinem ersten Raubüberfall mit, bei dem er und seine Kumpel mit Messern bewaffnet abends ein junges Paar ausrauben, das gerade in ein Restaurant gehen wollte, um dort seine Verlobung zu feiern. Unter der geraubten Beute befindet sich auch der Verlobungsring der Frau. Mansur wird erst nach über dreißig Raubüberfällen geschnappt und in Untersuchungshaft genommen. Er ist bei seinen letzten Raubüberfällen immer mutiger geworden und hat mehrfach Opfer mit seinem Springmesser bedroht und mit Faustschlägen verletzt. Bei den polizeilichen Vernehmungen verschweigt Mansur die Namen der anderen Täter, weil er loyal ist. Als er schließlich von Ufuk stark belastet wird, packt auch er aus.

Da sich Jugendliche typischerweise stärker an Menschen ähnlichen Alters als an den eigenen Eltern orientieren, geht der Einfluss der Eltern im Pubertäts- und Jugendalter zurück; die Peergroups hingegen erlangen im Alltag der Jugendlichen eine große Präsenz. Die gemeinsamen Erlebnisse in der Peergroup sind häufig von starken Emotionen begleitet. In enger Beziehung zum Lebensgefühl in der Peergroup steht oft die Musik, die im jeweiligen subkulturellen Kontext gehört wird. Nicht selten überdauert daher der Musikgeschmack das Jugendalter bis ins Erwachsenenalter, da kaum eine andere Musik je wieder derart intensive Gefühle auszulösen vermag.

Die Suche nach der eigenen Identität ist eine der wichtigsten Entwicklungsaufgaben des Jugendalters. Da die Ansichten eines Menschen häufig von den Menschen aus der unmittelbaren Umgebung mitgeprägt werden, stellen Peergroups einen wichtigen Einflussfaktor in der Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen dar. Beim Übergang ins Erwachsenenalter sind Peergroups ein Spielfeld, auf dem soziale Verhaltensweisen erprobt und Grenzen ausgetestet werden. Die Peergroup kann somit als Sozialisationsinstanz verstanden werden, die gleichzeitig der Emanzipation vom Elternhaus dient.

Die Sozialisation in der Peergroup kann eher günstig (prosozial) oder eher ungünstig (dissozial) verlaufen. Im günstigen Fall werden in der Peergroup prosoziale Erfahrungen von Spaß, Abenteuer, Zugehörigkeit, Vertrauen und Freundschaft gemacht, von denen mancher ein Leben lang zehren kann. Ein problematisches Peer-Umfeld hingegen kann Jugendliche zu gewalttätigen Handlungen, Delinquenz, Drogenkonsum und Risikoverhalten veranlassen.

Kinder und Jugendliche mit einer Veranlagung zu aggressiven Verhaltensstörungen finden oft keinen Zugang zu prosozial orientierten Peergroups. Einerseits werden sie aufgrund ihrer Unberechenbarkeit und Unbeherrschtheit von prosozial orientierten Gleichaltrigen gemieden; andererseits fühlen sie sich meist stark von anderen Kindern und Jugendlichen angezogen, die ähnliche Verhaltensprobleme wie sie selbst aufweisen – sie suchen sich sozusagen »ihresgleichen«. Die Zugehörigkeit zu dissozialen Peergroups ist also sowohl Ursache als auch Folge der dissozialen Fehlentwicklung.

Schon in einer lange zurückliegenden Untersuchung von 1950 hatten 98 Prozent der delinquenten Jugendlichen, aber nur 8 Prozent der Nichtdelinquenten auch delinquente Freunde. Die Möglichkeiten, prosoziale Lernerfahrungen zu machen, sind in einer Peergroup, die überwiegend aus verhaltensauffälligen Jugendlichen besteht, sehr begrenzt. Stattdessen lernen Jugendliche in einer dissozialen Peergroup, dass Gewalt legitim ist, um eigene Ziele durchzusetzen. Wer sich mit Gewalt durchzusetzen vermag, erlangt Respekt und Anerkennung unter den Peers (wie beim obigen Beispiel Kevin) – viele Jugendliche wünschen sich nichts mehr als das.

Gewaltbereitschaft entspricht in solchen Peergroups zudem oft einem fragwürdigen Männlichkeitsideal, zu dem auch der Ehrencodex von unbedingter Loyalität gehört. Wenn zum Beispiel einer aus der Gruppe von anderen Jugendlichen angegriffen wird, greift man gewalttätig ein. Wenn man nicht gerade zur Stelle ist, nimmt man später gemeinsam Rache an den Mitgliedern der anderen Gruppe. Solche Dynamiken bilden oft den Hintergrund von Bandenkriegen, die in äußerst brutale Massenschlägereien ausarten können, weil neben Fäusten auch Schlagringe, Schlagstöcke, Spring- oder Butterlfymesser zum Einsatz kommen. Vielfach bleiben diese Delikte im Dunkeln, weil es unter Schlägern als »uncool« gilt, Anzeige zu erstatten.

Loyalität und der Wunsch nach Zugehörigkeit können auch zu Diebstählen, Vandalismus oder Raub führen. Für den einzelnen Jugendlichen kann es reizvoll sein, über Gewaltbereitschaft in den Genuss des Machtgefühls einer Leaderposition zu kommen (wie beim obigen Beispiel Kevin). Für andere Jugendliche ist es reizvoll, die Anerkennung der anderen und insbesondere ihres Leaders zu bekommen, indem sie sich gewalttätig verhalten (wie beim obigen Beispiel Mansur). Nicht zuletzt befriedigen gemeinsam in der Gruppe verübte Gewaltdelikte das Bedürfnis vieler Jugendlicher nach Adrenalin und Action, was in der englischsprachigen Literatur auch als »sensation seeking« bezeichnet wird.

Gewaltbereite Jugendliche bestärken und legitimieren sich also gegenseitig in ihrem dissozialen Verhalten. Es kommt zu einer »dissozialen Sozialisation« in der Peergroup mit damit einhergehenden Gewissensdefiziten und einer Internalisierung gewaltbereiter Haltungen. Gewalttaten in der Gruppe werden oft nachts zu den Ausgehzeiten begangen und ereignen sich an dafür typischen Orten wie Bahnhofsgegenden, Clubs, Diskotheken oder im Sommer an Treffpunkten wie in Parks, an Seen oder Flüssen. Die Gefahr steigt weiter an, wenn die betreffenden Jugendlichen keine Tagesstruktur, also keinen Job und keine sinnvolle Freizeitbeschäftigung haben. Aus Langeweile kann es im Rahmen von gemeinsamem »sensation seeking« vor allem nach Alkohol- und Drogenkonsum – in dem sich die Jugendlichen ebenfalls gegenseitig bestärken – zu Gewalt oder Delinquenz kommen.

Im Erwachsenenalter geht der Einfluss der Peergroup meist zugunsten von Beruf und Partnerschaft zurück. Gewalttätiges Verhalten wird dann vom sozialen Umfeld plötzlich nicht mehr gutgeheißen, sondern geächtet. Damit geht auch ein kontinuierlicher Rückgang der Straftaten ab dem frühen Erwachsenenalter einher, was sich in allen polizeilichen Statistiken abbildet. Das bedeutet nicht, dass sich die Neigung zu Gewalt in jedem Fall natürlich herauswächst. Die Gewaltbereitschaft bekommt aber im Erwachsenenalter mehr soziale Gegengewichte. Zudem schreitet die Reifung des Frontalhirns voran. Dennoch bleiben in vielen Fällen bestimmte »Defizite im Kopf« (gewaltbejahende innere Haltungen, stereotype Rollenbilder, mangelhafte Gewissensstrukturen etc.) bestehen.

Jugendliche treten aber nicht nur oft als Täter bei Gewaltdelikten in Erscheinung, sondern werden auch überdurchschnittlich häufig Opfer von Gewalttaten. Auch bei der Viktimisierung (Opferwerden) von Jugendlichen spielen Peergroup-Einflüsse eine nicht unerhebliche Rolle. Zum Beispiel kann ein Jugendlicher ungewollt in eine Schlägerei zwischen zwei rivalisierenden Jugendgruppen hineingeraten und schwere Schäden davontragen; oder ein Mädchen sucht die Zuneigung von männlichen Peers und wird dabei Opfer eines sexuellen Übergriffs. Wenn man als Jugendlicher zur falschen Zeit am falschen Ort mit den falschen Leuten unterwegs ist, kann man in einen Strudel der Gewalt hineingezogen werden. Danach ist die Frage »Täter oder Opfer« manchmal nicht mehr klar zu beantworten, wie das folgende Beispiel zeigt:

Beispiel 3: Mitgehangen – mitgefangen

Raffael ist ein prosozial orientierter sechzehnjähriger Jugendlicher. Er hat gute Noten, ist beliebt und hatte noch nie Ärger mit der Polizei. Auch Drogen sind für Raffael kein Thema. An einem Samstag hilft er dem Kumpel eines Freundes beim Umzug. Als Belohnung wird er abends in die Disco eingeladen. Mit dabei sind noch weitere junge Männer, die Raffael größtenteils unbekannt sind. Der älteste von ihnen fährt einen »geilen« blauen BMW, der Raffael recht imponiert. Um 3 Uhr morgens beschließt die Gruppe, noch in eine andere Disco zu fahren. Dort verguckt sich der Fahrer des BMW in eine junge Frau, die ihn aber abblitzen lässt. Um ca. 4 Uhr verlässt die Gruppe die Disco. Alle sind angetrunken, inklusive der Fahrer. Im Auto wird weiter getrunken und laut Musik gehört.

Raffael hat bisher selten Alkohol getrunken, weshalb ihm die paar Wodka-Redbull ziemlich in den Kopf steigen. Er lässt sich von der Stimmung im Auto anstecken und denkt sich, dass schon alles gut gehen wird. Auf dem Heimweg sieht die Gruppe die junge Frau, die zuvor dem Fahrer einen Korb gegeben hat, alleine auf dem Gehsteig spazieren. Der Fahrer ist immer noch mächtig »angepisst«, bremst die Frau aus und stellt sie zur Rede. Sie ist ebenfalls angetrunken, lässt ihn erneut abblitzen und macht noch kesse Sprüche dazu. Raffael weiß nicht, dass der Fahrer des BMW und die zwei anderen im Auto schon Ärger mit der Polizei wegen Gewaltdelikten hatten. Mit dem BMW verfolgen sie die junge Frau und halten sie ein weiteres Mal an. Diesmal zerren sie sie ins Auto, fahren in ein nahe gelegenes Waldstück und vergewaltigen sie zu dritt. Raffael schafft es nicht, die anderen von der Tat abzuhalten und schaut dem Tatgeschehen geschockt zu. Er verbringt über ein halbes Jahr in Untersuchungshaft und Jugendheimen, bis ihn das Jugendgericht schließlich freispricht. Er und das Opfer verbringen Jahre in Therapie, um die Geschehnisse zu verarbeiten.

Der Einfluss elektronischer Medien auf die Kommunikation und Beziehungsgestaltung unter Peers ist heutzutage enorm. Der virtuelle Raum bietet neben vielen positiven Möglichkeiten auch eine Plattform für Drohungen, Verletzung der Privatsphäre und Cybermobbing.

Beispiel 4: Cybermobbing

Melanie ist 15 Jahre alt und »mega« verliebt in Tom. Sie sind schon vier Wochen zusammen, haben es aber bisher nicht miteinander »getan«. Irgendwann fragt Tom sie, ob sie ihm ein Nacktfoto von sich zuschicken könne, weil er sie so »heiß« findet. Melanie ist blind vor Liebe und schickt ihm ein Handyfoto von sich oben ohne. Sie betont ihm gegenüber aber, dass er das Foto niemandem zeigen dürfe. Zwei Wochen später macht Tom mit ihr Schluss. Ein anderes Mädchen aus der Parallelklasse ist nun mit ihm zusammen. Melanie ist frustriert und lästert über Tom auf Facebook. Tom hingegen macht sich mittlerweile über Melanie lustig und schickt ihr Nacktfoto über »WhatsApp« an verschiedene Leute aus der Schule, die es wiederum an Leute auf anderen Chat-Plattformen weiterleiten. Wenige Tage später kennt die halbe Schule Melanies Foto. Auf dem Pausenhof und im Internet wird sie von den anderen Jugendlichen gehänselt und fertiggemacht. Melanie weiß nicht, wie sie sich wehren soll, entwickelt Schlafstörungen und Suizidgedanken. Ihren Eltern vertraut sie sich erst spät an. Schließlich kann durch eine gemeinsame Intervention der Schulleitung und der Jugendpolizei das Thema Cybermobbing in der Schule thematisiert und Melanies Position wieder verbessert werden.

Fazit

Während der Einfluss der Eltern im Pubertäts- und Jugendalter zurückgeht, erlangen Peergroups im Alltag der Jugendlichen eine große Präsenz.

Kinder und Jugendliche mit einem Hang zu aggressiven Verhaltensstörungen suchen sich »ihresgleichen«.

Gewaltbereite Jugendliche bestärken und legitimieren sich gegenseitig in ihrem dissozialen Verhalten. Es kommt zu einer »dissozialen Sozialisation« in der Peergroup mit damit einhergehenden Gewissensdefiziten und einer Internalisierung gewaltbereiter Haltungen.

Auch in den Fällen, in denen Jugendliche Opfer von Gewalttaten werden, spielen Peergroup-Einflüsse oft eine wichtige Rolle.

Als Jugendliche und Jugendlicher sollte man sich daher folgende Fragen stellen:

»Mit wem hänge ich ab?«

»Wo hänge ich ab?«

»Zu welcher Uhrzeit hänge ich ab?«

»Wer ist ein guter Freund oder eine gute Freundin?«

»Wer tut mir gut und mit wem gerate ich immer wieder in Probleme?«

Medienkonsum und Gewalt

Wie schädlich sind Gewaltdarstellungen in Fernsehen und Videospielen?

Fast alle jugendlichen Straftäter, mit denen ich beruflich zu tun habe, bevorzugen Action- oder Horrorfilme und »gamen« beziehungsweise »zocken« Ego-Shooter. Einige dieser auch als »Baller-« oder »Killergames« bezeichneten Spiele, wie etwa die Call-of-Duty®-Reihe, verkaufen sich so erfolgreich wie Hollywood-Blockbuster. Im Ego-Shooter schlüpft der Jugendliche meist in die Rolle eines maskulinen und verwegenen Soldaten, Agenten, etc. – für einen heranwachsenden Jungen ein sehr attraktives Rollenmodell. Der Jugendliche sieht und erlebt das Spielgeschehen durch die Augen seiner Spielfigur, das heißt aus der Ich(Ego)-Perspektive. Er interagiert in dem Spiel nicht nur, indem er die Hand auf dem Controller bewegt, sondern wird auch geistig und emotional in das intensive Spielgeschehen einbezogen. Der Jugendliche schaut also seinem Charakter auf dem Bildschirm nicht nur zu, sondern er wird quasi zu diesem Charakter. Die Waffe im Anschlag, bewegt sich der Spieler in einer erstaunlich detailliert dargestellten Welt, muss gefährliche Missionen erfüllen und dabei schnell reagieren, laufen, springen, schießen und töten. Je mehr (meist menschliche) Gegner er dabei umbringt, desto erfolgreicher ist der Jugendliche im Spiel. Besonders effizientes und brutales Vorgehen (z. B. Kopfschüsse) wird belohnt. Töten macht Spaß und fühlt sich gut an, Blut spritzt, der Gegner geht zu Boden – kein Problem eigentlich, denn der Gegner besteht ja nur aus Pixeln.

Viele Jugendliche sind verzückt von der detailgetreuen Darstellung der verschiedenen Schusswaffen, von den Lichtspiegelungen auf dem kühlen Metall und dem Herausspicken der Patronenhülsen, nachdem der Abzug genussvoll gezogen wurde. Atemlos lädt man nach, um weitere Gegner ins Jenseits zu befördern. In einer Szene in Call of Duty – Black Ops® wird man von Rockmusik begleitet, während man die Gegner niedermetzelt. In einer anderen Szene soll man einem Kriegsgefangenen Glasscherben in den Mund stopfen und ihm per Knopfdruck eine »harte Rechte« verpassen, um ihn zum Reden zu bringen.

Die komplexen Handlungsstränge beanspruchen den Spieler, er muss hellwach sein und sich konzentrieren. Rasch sind mehrere Stunden vergangen, nach denen man sich entweder erhitzt und selbstzufrieden zurücklehnt, wenn man möglichst viele Gegner umgebracht hat, oder frustriert den Controller in die Ecke schmeißt, falls man wieder und wieder selbst getötet wurde. Einen heißen Kopf hat man in jedem Fall. Wenn man erfolgreich ist, bekommt man viel Anerkennung für seine Killer-Künste, vor allem im Multiplayer-Modus. Nicht selten berichten mir v. a. männliche Ego-Shooter-Experten, dass sie eine Faszination für Waffen haben und dass es ihr Traum sei, eine Militärkarriere als Scharfschütze (»Sniper«) zu machen. Hier zeigt sich, dass bestimmte Jugendliche ihre Fähigkeiten aus dem Spiel durchaus in die Realität übertragen möchten, um sich auch dort kompetent, selbstwirksam und gnadenlos mächtig zu erleben.

Deutliche Zunahme an Gewaltdarstellungen

Über die Mediennutzung bei 12- bis 19-Jährigen in der Schweiz gibt die JAMES-Studie (Jugend, Aktivitäten, Medien – Erhebung Schweiz) aus dem Jahr 2012 Auskunft. Demnach verfügen 95 Prozent der 12- bis 19-jährigen Schweizer Jugendlichen über ein eigenes Handy. 97 Prozent haben von zuhause aus Zugang zum Internet. Jugendliche nutzen oft mehrere Medien zeitgleich. Sie hören zum Beispiel Musik, während sie sich auf Facebook bewegen, Nachrichten verschicken, auf YouTube ein Video ansehen. 59 Prozent sagten von sich, dass sie während des Fernsehens telefonieren und SMS schreiben. Bei den Apps liegen WhatsApp und Facebook an der Spitze. 17 Prozent der Jugendlichen gaben an, im Internet einmal fertig gemacht worden zu sein.

Eine vergleichbare Untersuchung aus Deutschland ist die 2012 veröffentlichte JIM-Studie (Jugend, Information, [Multi] Media) des medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest. Sie kommt zu ganz ähnlichen Ergebnissen wie die Schweizer Untersuchung. Demnach haben 85 Prozent der deutschen Haushalte, in denen Jugendliche aufwachsen, einen Internetzugang. 90 Prozent der Jugendlichen besitzen ein eigenes Handy, 82 Prozent einen eigenen CD-Player oder eine HiFi-Anlage. Zwei Drittel der Jugendlichen haben einen eigenen Fernseher in ihrem Zimmer und die Hälfte einen Computer. Ein Drittel der 12- bis 19-Jährigen verfügt über eine eigene Spielkonsole. Das Fernsehen ist weiterhin das am stärksten genutzte Medium. Aber auch die Beschäftigung mit Videospielen gehört heute zu den beliebtesten Freizeitaktivitäten von deutschen Kindern und Jugendlichen.

Verschiedene Inhaltsanalysen zeigen eine deutliche Zunahme an Gewaltszenen im deutschen Fernsehprogramm seit den frühen 1990er-Jahren, und zwar von 48 auf 58 Prozent. Inhaltsanalysen zu Video- und Computerspielen stammen bisher vor allem aus dem US-amerikanischen Raum, von wo viele der auch in Europa konsumierten Spiele stammen. Mit 68 Prozent liegt der Anteil an Gewaltdarstellungen über dem Anteil im Fernsehprogramm.

Wie schädlich ist der Konsum gewaltdarstellender Medien für die Jugendlichen? Führt Gewalt im Fernsehen oder Videospiel zu Gewalt im echten Leben? Solche Fragen werden nicht nur gesellschaftlich, sondern auch wissenschaftlich kontrovers diskutiert.

Die einen ziehen den Schluss, dass es einen klaren Zusammenhang zwischen dem Konsum gewalttätiger Fernsehsendungen und aggressivem Verhalten gibt. Auch in Bezug auf Videospiele gibt es diverse wissenschaftliche Analysen, die darauf hinweisen, dass der Konsum von gewalttätigen Games ein ursächlicher Risikofaktor für verstärktes aggressives Denken, Fühlen und Handeln ist und mit einer Reduktion von Empathie und prosozialem Verhalten einhergeht.

Andere Studien wiederum werfen den oben genannten Untersuchungen methodische Mängel vor oder halten die Schlussfolgerungen für übertrieben. In einer Längsschnittstudie mit 302 Kindern und Jugendlichen aus dem Jahr 2011 konnten weder gewalttätige Videospiele noch der Konsum von Fernsehgewalt als geeignete Prädiktoren von Jugend-gewalt identifiziert werden. Hingegen konnte ein starker Zusammenhang zwischen depressiven Symptomen und aggressivem Verhalten nachgewiesen werden. Spekulationen über den schädlichen Einfluss von neuen Medien tauchten in der Geschichte immer wieder auf. Schon Plato war der Überzeugung, dass Theaterstücke einen ungünstigen Einfluss auf die Jugend haben.

Einfluss von Gewaltkonsum in Medien ist umstritten

Ist es das Lernen am Modell, das die jugendlichen Medienkonsumenten aggressiver werden lässt? Oder sind Gewöhnungs- bzw. Abstumpfungseffekte dafür verantwortlich? Oder ist alles nur moralische Panikmache? Tatsächlich können alle drei Hypothesen Plausibilität für sich beanspruchen.

Die »Soziale Lerntheorie« geht u. a. auf Experimente von Albert Bandura zurück. Am bekanntesten ist wohl sein »Bobo Doll«-Experiment aus dem Jahr 1963. Bandura zeigte Kindern ein Video, in dem eine Person namens »Rocky« in einem Raum eine große Plastikpuppe namens »Bobo« gewalttätig misshandelte. Der Film endete in drei Varianten: Entweder wurde Rocky für sein Verhalten gelobt, oder er wurde bestraft, oder das Geschehen blieb unkommentiert. Den Kindern wurde jeweils eine Film-Fassung davon gezeigt, wodurch drei Versuchsgruppen gebildet wurden. Nach dem Film wurden die Kinder in denselben Raum mit Bobo geschickt. Die Gruppen mit dem Lob und mit dem neutralen Ende zeigten ein vergleichbar hohes aggressives Verhalten gegenüber der Puppe. Die Kinder, die zuvor die Bestrafung Rockys gesehen hatten, waren deutlich weniger aggressiv. Die »Soziale Lerntheorie« geht folglich davon aus, dass Kinder Aggression lernen, indem sie sich diese von aggressiven Modellen in den Medien abschauen. Der Lerneffekt ist besonders dann groß, wenn es sich um attraktive Rollenmodelle handelt, die für ihre aggressiven Handlungen nicht bestraft oder sogar belohnt werden. Die wiederholte Gewaltrezeption im Fernsehen und/oder die selbst ausgeführten aggressiven Handlungen im Videospiel können somit zu feindseligen, aggressionsfördernden Einstellungen und Überzeugungen führen – Gewalt beginnt im Kopf.

Die »Sozialkognitive Lerntheorie« baut auf diesen Erkenntnissen auf und geht davon aus, dass wiederholter Gewaltkonsum desensibilisierend wirkt, da eine psychologische Sättigung und emotionale Anpassung stattfindet. Mit der Zeit wird das Anschauen von Gewalttaten als weniger ängstigend und weniger unangenehm empfunden. Auch das Mitleid mit den Opfern nimmt ab. In einer Studie mit Studenten musste die eine Gruppe während 20 Minuten ein gewalttätiges Videospiel spielen und die andere Gruppe ein nicht gewalttätiges Spiel. Anschließend wurden beide Gruppen mit einem Video mit realer Gewalt konfrontiert. Diejenigen, die zuvor das gewalttätige Videospiel gespielt hatten, reagierten emotional deutlich weniger betroffen als die andere Gruppe. Die stattgefundene Abstumpfung wurde also auf reale Ereignisse transferiert.

Die »moral panic theory« hingegen postuliert, dass neu auftauchende Medien in der Gesellschaft immer schon zu Ängsten geführt haben, die zyklisch verlaufen. Von diesem Standpunkt aus gesehen bildet eine Gesellschaft vorgefasste, negative Einstellungen gegenüber einem neuen Medium, das typischerweise nicht oder zumindest deutlich weniger von den Älteren und Einflussreichen einer Gesellschaft benutzt wird. Forschung und Politik tendieren dann eher dazu, diese Vorurteile zu bestätigen, als die Thematik leidenschaftslos zu untersuchen und evaluieren. Nach einigen Jahren löst sich die Panik meist auf, um beim Auftauchen eines neuen Mediums wieder aufzulodern.

Gewaltkonsum als Gewaltkatalysator

Besonders Jugendlichen, die in ihrer emotionalen Entwicklung ihrem biologischen Alter hinterherhinken, gelingt es nicht immer, eine klare Grenze zwischen Spiel und Realität zu ziehen. Wenn Jugendliche eine genetische Veranlagung für Aggression aufweisen, zudem noch familiäre oder psychische Probleme haben, können die feindseligen Gefühle und Gedanken aus dem Spiel gewalttätige Handlungen begünstigen bzw. katalysieren. Diese »Katalysator-Theorie« findet in der neueren wissenschaftlichen Literatur viel Anklang. Sie erklärt differenziert, dass Gewalt aus dem Zusammenspiel von genetischen und psychosozialen Faktoren (v. a. die Familie und die Peergroup betreffende) erwächst. Gemäß diesem Modell hat der Konsum von Mediengewalt einen eher schwachen ursächlichen Einfluss. Aber: Exzessiver Konsum von Gewaltdarstellungen in Fernsehen oder Videospielen kann bei bestimmten Menschen, die eine Veranlagung für Aggression haben und verschiedene psychosoziale Risikofaktoren aufweisen, wie ein Katalysator wirken.

Ein Katalysator bezeichnet in der Chemie einen Stoff, der durch die Senkung der Aktivierungsenergie eine chemischen Reaktion beschleunigt. Ähnlich wie in der Chemie können die feindseligen Gedanken und Gefühle von Macht und Dominanz aus dem Spiel die Schwelle für aggressives Verhalten senken und dadurch gewalttätige Handlungen begünstigen. Hierfür ist das Risiko besonders dann hoch, wenn der Jugendliche Defizite in seiner psychischen Struktur aufweist (z. B. gestörte Emotionsregulation, Empathiedefizite, mangelhafte Sozialkompetenz etc.). Stressoren und situative Umstände führen dann viel schneller zu gewalttätigen Handlungen. Leider haben gerade diejenigen Kinder und Jugendlichen, die aggressive Tendenzen und psychosoziale Defizite aufweisen, oft eine Vorliebe für gewalttätige Medieninhalte. Der Konsum der medialen Gewalt führt wiederum zu einer Bekräftigung ihrer aggressiven Persönlichkeit. Dieser Teufelskreis wird auch als »Problem der doppelten Dosis« bezeichnet und ist in der Literatur gut belegt.

Problematisch ist aber nicht nur, was Kinder und Jugendliche im Fernsehen sehen oder auf der Konsole spielen, sondern auch, was sie in dieser Zeit nicht tun, nämlich Sport treiben, ein Instrument erlernen, Beziehungen pflegen, prosoziale Erfahrungen machen oder auch Alltagsprobleme angehen. Fernsehen und Ego-Shooter sind nur bedingt hilfreich, um wirksam »Dampfabzulassen« – auch wenn viele meiner jugendlichen Patienten dies oft behaupten –, denn es fehlt die unmittelbare körperliche Erfahrung. Die körperliche Erschöpfung nach dem Sport zum Beispiel oder das prosoziale Mannschaftserlebnis sind entscheidende Faktoren, die zu Entspannung und Zufriedenheit führen. Exzessiver TV-Gewaltkonsum oder stundenlanges Gaming hingegen reizen die Sinnesorgane und können feindselige Gefühle und Gedanken anstacheln. Hellwach und feindselig im Kopf, aber körperlich und emotional unausgeglichen, so kann wohl der Zustand eines Jugendlichen, der stundenlang auf dem Bildschirm geballert hat, beschrieben werden. Es gibt Jugendliche, die dann zum Spannungsabbau die unmittelbare körperliche Erfahrung in realen Gewaltakten suchen.

Beispiel: Mord als einsamer Rächer

Der fünfzehnjährige Kai lebt mit seinem Vater, seiner Stiefmutter und seinem jüngeren Stiefbruder in einer Patchworkfamilie. Seit Jahren fühlt er sich von seiner Stiefmutter schlecht behandelt und hat den Eindruck, dass sein Stiefbruder bevorzugt wird. Kai ist zwar normal intelligent, hat aber Integrationsschwierigkeiten unter Gleichaltrigen, neigt zu Wutausbrüchen, aber auch zu depressiven Symptomen. Von seinem Umfeld wird er als noch sehr kindlich beschrieben: »Phantasie und Realität können bei Kai durcheinander gehen.« Er hasst die Menschen und flüchtet vor der Realität, indem er mehrere Stunden pro Tag Call of Duty® spielt. Er ist richtig gut darin und will später einmal Scharfschütze werden. Außerdem liest Kai intensiv Manga-Comics, in denen es um Ninja-Schwertkämpfer sowie um Rache und Töten geht. Immer wieder kommen Kai Gedanken, Rache an Stiefmutter und Stiefbruder zu üben. Ein älterer Kumpel bestärkt ihn in diesem Vorhaben.

Kais Stiefmutter verbietet ihm schließlich das Gamen und nimmt ihm seine Spielkonsole weg. Kai schmiedet mit seinem Kumpel einen Racheplan. Nachts schleicht er sich zuerst in das Zimmer seines Stiefbruders und ermordet ihn mit zahlreichen Messerstichen in den Brustkorb. Danach stürmt er im Blutrausch mit Kriegsgeschrei ins Elternschlafzimmer, verletzt erst seinen Vater schwer am Kopf und bringt anschließend seine Stiefmutter mit zahllosen Messerstichen in den Bauch um. Im Nachhinein gibt er trotz vieler Erinnerungslücken für die Tat an, sich wie der einsame Rächer und wie im Krieg gefühlt zu haben.

Gewalt verherrlichende Musiktexte

Gewalt in Musiktexten und Musikvideos gibt immer wieder zu Diskussionen Anlass. Eine etwas ältere Analyse deckte auf, dass Rockvideos zu fast 60 Prozent sexuelle und zu über 50 Prozent Gewaltthemen enthalten. Liest man allerdings Songtexte oder schaut Videos von heutigen Rap- oder Hiphop-Künstlern, kommen einem die früheren Rockbands recht harmlos vor. Aus meiner Arbeit kenne ich sehr viele Jugendliche, die Hiphop, Rap und neuerdings besonders deutschen Rap bevorzugen. Künstler wie Haftbefehl, Farid Bang, Kollegah, Fard, Bushido, Sido, Massiv und viele andere beschäftigen sich in ihren Rap-Texten mit Gewaltfantasien und dem Leben in kleinkriminellen Randmilieus. So rappt »Haftbefehl« beispielsweise über die Herstellung und den Verkauf von Drogen sowie über die Anwendung von Waffengewalt. Dazu als Beispiel ein paar Auszüge aus dem Song »Psst« von Haftbefehl:

Unterm T-Shirt von Thug Life trage ich die Pistole, Überleben auf dem Asphalt, …, ich zieh mein Messer und ramm es direkt in deine Fresse, …, wenn die Bullen kommen (psst), vor dem Richter (psst), keine Aussage (psst), droh dem Zeugen (psst), halt die Fresse (psst), geh in Deckung Junge (psst), mach kein Stress mit uns (psst), …, das ist Kugelgeflüster, ich lass die Wichser verbluten und sterben, mit der Import-AK direkt aus Serbien, …, als ich 30 Pakete Hasch gefahren hab nach Düsseldorf, saßt du im Nachhilfeunterricht, du Missgeburt.

Das schnelle Geld und ein verschwenderischer Lebensstil werden glorifiziert wie im Song »Braun, Grün & Lila« von Haftbefehl – featuring Sido:

Ich steige aus dem Benz, weißer SL, maßgeschneidertes Hemd, nein, kein H&M, …, ich kann mir mit nem 500er meinen Arsch abwischen. Du Junkie kannst dir dein Erspartes in die Arme drücken. Yeah, ihr kauf ich einen Ring, mir eine Breitling, …, Chill in Strandbars, trinke Rotwein, trink Champagner, mach'ne Cokeline.

Kritisiert werden solche Künstler teilweise auch wegen ihrer antisemitischen oder sexistisch-frauenverachtenden Textzeilen. Einige musikalische Vorbilder der Jugendlichen haben in ihrer Biografie eine ganze Reihe von Gewalthandlungen und zum Teil entsprechende Verurteilungen vorzuweisen.

Es besteht kein Zweifel, dass auch die gehörte Musik und der Lebensstil ihrer Interpreten das Denken der Jugendlichen beeinflussen. Allerdings darf die alleinige Wirkung der Musik nicht überschätzt werden, weil die meisten Musikrichtungen nicht ausschließlich mit Hass, brutalen Metaphern oder Gewalt arbeiten. Nicht der einzelne Aufruf zu Gewalt in einem Song wirkt; es kommt immer auf den Stellenwert von derartigen Inputs im Lebenszusammenhang der Jugendlichen an.

Fazit

Bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen kann der Konsum gewalttätiger Medien aggressionsbezogene Gedanken und Gefühle sowie aggressives Verhalten fördern – Gewalt beginnt im Kopf.

Der Einfluss von Gewaltakten in den Medien auf Konsumentinnen und Konsumenten ist besonders hoch, wenn Gewalttäter als sympathische Identifikationsfiguren dargestellt werden, die für ihr Verhalten belohnt werden.

Besonders gefährdet sind Kinder und Jugendliche, die eine Veranlagung für Aggression mitbringen und verschiedene psychosoziale Risikofaktoren aufweisen, z. B. in einem Umfeld aufwachsen, in dem Gewalt als Problemlösungsstrategie alltäglich ist. Leider haben gerade diese Jugendlichen oft eine Vorliebe für Killerspiele, wodurch es zu einem Teufelskreis kommt.

TV-Gewalt und Ego-Shooter sind nicht die Hauptursache der Jugendgewalt. Solche simplen Erklärungsmodelle sind gefährlich, da sie andere wichtige Risikofaktoren außer Acht lassen. Es kommt immer auf den Jugendlichen und seine Lebensumstände an.

Statt Technikpessimismus zu verbreiten und Medien zu verteufeln, sollte mehr in die Medienerziehung investiert werden, mit dem Ziel, die Medienkompetenz der Kinder und Jugendlichen zu fördern. Hier sind Eltern und andere erwachsene Bezugspersonen gefordert (siehe auch Kapitel 5: Was können Eltern tun?).

Nicht zuletzt gilt es, alternative Freizeitstrukturen aufzubauen, in denen Kinder und Jugendliche prosozialen Hobbies nachgehen können.

Psychische Probleme bei jugendlichen Straftätern

»Fast alle jungen Straftäter sind psychisch gestört«, so titelte der Zürcher »Tages-Anzeiger« am 3. November 2009. Er verwies dabei auf die Erfahrungen der Zürcher Fachstelle für Kinder- und Jugendforensik, die bei rund 80 Prozent der verurteilten jugendlichen Straftäter im Kanton Zürich eine psychische Störung nachweisen konnte. Aufgrund dieser Ergebnisse seien Therapie und Betreuung – nicht nur harte Strafen – im Kampf gegen die Jugendkriminalität nötig. Leserkommentare zu dem Artikel enthielten ironische Äußerungen wie »arme junge Straftäter« oder Forderungen nach härteren Strafen statt Psychologie und Kuscheljustiz.

In einer Untersuchung von 333 inhaftierten jugendlichen Straftätern in der Justizanstalt Wien Josefstadt (58 Mädchen und 275 Jungen) wurde bei 90 Prozent der Jugendlichen mindestens eine psychische Störung festgestellt. Über 60 Prozent zeigten zwei oder mehr Störungsbilder. Auch andere Studien belegen ein sehr hohes Vorkommen von psychischen Störungen bei jugendlichen Straftätern – je nach Untersuchung zwischen 60 und 90 Prozent. Eine psychische Störung geht bei straffälligen Jugendlichen zudem mit einer höheren Rückfallrate einher. Diese Untersuchungen decken sich auch mit den klinischen Erfahrungen von psychiatrischen Gutachtern und Tätertherapeuten. Die wenigsten jugendlichen Straftäter sind psychisch gesund.

Nicht immer, aber häufig haben die psychischen Störungen einen ursächlichen Zusammenhang mit den Straftaten der Jugendlichen, vor allem wenn es sich um schwerwiegende Gewaltdelikte handelt. Neben den typischen dissozialen Verhaltensstörungen finden sich bei jugendlichen Straftätern besonders häufig Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörungen (ADHS), depressive Störungen, Suizidalität, Störungen durch Suchtmittel, Angststörungen und Persönlichkeitsstörungen. Nicht selten stehen massive familiäre Belastungen, eigene Gewalterfahrungen oder Traumatisierungen im Hintergrund.

Damit soll das gewalttätige Verhalten der Jugendlichen keineswegs relativiert oder gar entschuldigt werden. Vielmehr geht es darum, sinnvolle Maßnahmen zu ergreifen, die zu einer Senkung des Gewaltrisikos führen und die Jugendlichen befähigen, sich erfolgreich in die Gesellschaft zu integrieren. Längere und härtere Strafen allein sind bei diesen Jugendlichen nicht zielführend, sondern müssen durch therapeutische, medikamentöse und sozialpädagogische Maßnahmen ergänzt oder in einzelnen Fällen gar ersetzt werden. Nicht zuletzt bietet sich hier auch ein hohes Potenzial der Kostenersparnis. Psychische Störungen gehen nämlich mit erhöhten kriminellen Rückfallraten einher, welche die Gesellschaft eine Menge Geld kosten. Mittels adäquater Therapieansätze kann das Rückfallrisiko gesenkt und dadurch Kosten eingespart werden. »Eine gute Therapie ist die beste Gewaltprophylaxe.« (Nedopil, 2008).

Intellektuelle Defizite und Gewalt

Jugendliche Straftäter weisen gehäuft eine unterdurchschnittliche Intelligenz auf. Vor allem die verbalen Fähigkeiten sind oft schlechter ausgebildet als bei anderen Gleichaltrigen. Wer sich schlecht ausdrücken kann, benutzt in Konfliktsituation eher die Fäuste oder ein Messer, um sich durchzusetzen. Zudem behindern intellektuelle Defizite – vor allem in der Sprachentwicklung – die Fähigkeit, sich selbst zu hinterfragen, Konsequenzen des eigenen Handelns vorherzusehen und Regeln zu verinnerlichen. Auch die häufig bei diesen Jugendlichen feststellbaren Lese-Rechtschreibstörungen stehen mit sprachlichen Defiziten im Zusammenhang.

Viele jugendliche Gewalttäter zeigen auch Schwächen in der geistigen Verarbeitung von Informationen. Solche Jugendliche sind rasch reizüberflutet, wenn viele Informationen auf sie einwirken, vor allem wenn es sich um soziale und emotionale Informationen handelt wie zum Beispiel in Konfliktsituationen. Sie nehmen dann im Sinne eines »Tunnelblicks« oft nur noch die Informationen wahr, die als feindlich oder bedrohlich erlebt werden und reagieren daher viel schneller aggressiv als andere Jugendliche. Wahrnehmen, verarbeiten, reagieren – wenn dieser Prozess gestört ist, kann es schneller zu Gewaltakten kommen. Dazu folgendes Beispiel: Ein Jugendlicher stand als Passant während eines Krankenwageneinsatzes dabei. Als zwei Helfer den Rettungskräften Platz machen wollten, fühlte er sich provoziert und stach die beiden nieder. In der testpsychologischen Abklärung zeigten sich bei ihm starke Defizite in der Informationsverarbeitung. Zum Tatzeitpunkt kam noch erschwerend hinzu, dass der Jugendliche unter dem Einfluss von Alkohol und Cannabis stand.

ADHS und Gewalt

Bei der Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) zeigen die Betroffenen Symptome aus den drei Bereichen Aufmerksamkeitsdefizit, Hyperaktivität und Impulsivität. Aus der Forschung wissen wir, dass der ADHS eine Funktionsstörung im vorderen Teil des Gehirns (Frontalhirn) zugrunde liegt, die eine unzureichende Verhaltenshemmung nach sich zieht. Dadurch werden wichtige Exekutivfunktionen, die für die Selbstregulation und Verhaltenssteuerung eines Individuums zuständig sind, nur unzureichend wahrgenommen. Zu diesen Exekutivfunktionen des Frontalhirns gehören etwa: aus Erfahrung lernen, die Konsequenzen des eigenen Handelns vorhersehen, eigene Emotionen und Impulse regulieren oder innezuhalten und sich selbst zu hinterfragen.

Es ist leicht vorstellbar, dass die unzureichende Fähigkeit zur Verhaltenshemmung delinquentem und gewalttätigem Verhalten Vorschub leistet. Es fehlt quasi das »Bremspedal« im Kopf. Es wird gehandelt, bevor gedacht wird. So ist es nicht verwunderlich, dass bei dissozialen Verhaltensstörungen im Kindes- und Jugendalter in über 50 Prozent der Fälle gleichzeitig eine ADHS vorliegt. In mehreren Querschnittsstudien mit jungen Gefängnisinsassen wurde im Vergleich zur Normalbevölkerung ein bis zu zehnfach erhöhtes Vorkommen von ADHS feststellt. Eine retrospektive Studie bei erwachsenen Straftätern an der Justizvollzugsanstalt (JVA) Würzburg konnte zudem eine deutlich erhöhte Häufigkeit von ADHS vor allem bei Wiederholungstätern nachweisen. Bei den hyperaktiven Tätern trat besonders häufig eine Kombination aus Drogendelikten, Eigentumsdelikten und Köperverletzung auf.

Dass ADHS keine »Mode-Diagnose« ist, sondern einen Hochrisikofaktor in der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen darstellt, zeigen verschiedene Längsschnittstudien. Sie verdeutlichen, dass ADHS-betroffene Kinder im Jugendund Erwachsenenalter deutlich häufiger gewalttätig und straffällig werden. Die Betroffenen zeigen höhere Raten an Drogenmissbrauch, haben häufiger schulische und berufliche Misserfolge, weisen häufiger sexuell übertragbare Krankheiten auf und haben höhere Raten an Verkehrsunfällen/-delikten. Besorgniserregend ist auch, dass in einer Studie die Rate der Suizidversuche bei den ADHS-Jugendlichen mehr als doppelt so hoch lag wie in der gesunden Vergleichsgruppe. ADHS-Betroffene leiden aufgrund ihrer unzureichenden emotionalen Selbstregulationsfähigkeit besonders häufig an zusätzlichen psychischen Störungen, vor allem an depressiven Störungen, Suizidalität, Suchtmittelstörungen, emotional instabilen und antisozialen Persönlichkeitsstörungen. Eine frühe Erkennung und Behandlung einer ADHS ist daher nicht nur aus gesundheitlichen Überlegungen, sondern auch aus gewalt- und kriminalpräventiven Gesichtspunkten wichtig.

Affektive Störungen und Gewalt

Bei den affektiven Störungen bestehen die Hauptsymptome in einer Veränderung der Stimmung. Dabei kommt der Depression die größte Bedeutung zu. Sie stellt eine häufige Zusatzdiagnose bei dissozialen Verhaltensstörungen im Jugendalter dar. Depressiv und gewalttätig, wie passt das zusammen?

Bei Erwachsenen äußert sich eine depressive Störung durch bedrückte Stimmung, Freudlosigkeit, Verminderung von Aktivität und Antrieb sowie leichter Ermüdbarkeit. Bei Kindern und Jugendlichen hingegen kann die Symptomatik in Abhängigkeit von Alter und Entwicklung stark variieren. So fallen depressive Kinder und Jugendliche im Schulalter oftmals durch eine geringe Frustrationstoleranz und durch Impulsdurchbrüche mit selbst- und/oder fremdaggressivem Verhalten auf. Gleichzeitig geben sie oft psychosomatische Beschwerden wie Bauch- oder Kopfschmerzen an. Im Pubertäts- und Jugendalter kommen ein Gefühl der inneren Leere, Freudlosigkeit, Schafstörungen und eine oft schwer einschätzbare Suizidalität hinzu. Diese Jugendlichen konsumieren auch überdurchschnittlich häufig die Suchtmittel Alkohol und Cannabis. Dies kann oft als ein verzweifelter, letztlich aber zum Scheitern verurteilter Versuch, die Störung selbst zu behandeln, interpretiert werden. Die Jugendlichen leiden unter Ängsten, neigen zum Grübeln, haben ein schlechtes Selbstwertgefühl und sind leicht reizbar.

Eine Studie aus dem Jahr 1997 beschreibt bei 21 bis 50 Prozent der untersuchten depressiven Kinder und Jugendlichen Verhaltensstörungen, wobei insbesondere bei Jungen aggressive oder delinquente Verhaltensweisen vorkamen, die nicht selten mit einem erhöhten Suizidrisiko einhergingen. Suizidalität ist eine der schwerwiegendsten Folgen der Depression. Im Jugendalter ist die Rate der vollendeten Suizide zwar deutlich niedriger als im Erwachsenenalter, Suizidgedanken und Suizidversuche kommen jedoch sehr viel häufiger vor als bei Erwachsenen. Selbst- und Fremdaggression sind oft miteinander verbunden, denn wer das Gefühl hat, nichts mehr zu verlieren zu haben, hat auch weniger Hemmungen, anderen Leid anzutun. Bei schweren depressiven Störungen können zudem zusätzlich psychotische Symptome wie Wahnideen oder Halluzinationen auftreten, die gewalttätige Handlungen begünstigen können.

Störungen durch Suchtmittel und Gewalt

Suchtmittel werden im medizinischen Jargon als psychotrope Substanzen bezeichnet. Darunter verstehen wir Substanzen, die auf die Psyche wirken. Sie verändern Stimmung, Affekte, Denken, Antrieb, Wahrnehmung und Psychomotorik. Psychotrope Substanzen beeinflussen die Gewaltbereitschaft mehrheitlich so, indem sie zu einer Senkung der Hemmschwelle führen und die Fähigkeit herabsetzen, vernunftgemäß vorauszuplanen.

Berauschte Personen schließen schnell Freundschaften, lassen aber auch ebenso rasch und hemmungslos Konflikte eskalieren. Vor allem bei Jugendlichen, deren Gefühle intensiver und deren Fähigkeiten zur Selbststeuerung geringer sind als bei Erwachsenen, ist die Wirkung von Suchtmitteln sehr ausgeprägt. Oft braucht es wenig, bis ein Konflikt in eine Tätlichkeit oder ein »heißer Flirt« in einen sexuellen Übergriff übergeht. Dazu kommen die spezifischen, von der Droge abhängigen Wirkungen auf die Aggressivität des Konsumenten oder der Konsumentin. Bei geplanten Gewaltanwendungen wird die Senkung der Hemmschwelle durch den Konsum psychotroper Substanzen manchmal gezielt herbeigeführt. Einige jugendliche Gangs trinken sich Mut an oder konsumieren illegale Drogen oder Schmerzmittel, bevor sie sich eine Schlägerei suchen.

Alkohol und Gewalt: Alkohol ist einer der bekanntesten und am wenigsten bestrittenen Einflussfaktoren bei Gewalt- und Sexualdelikten, wobei die Alkoholisierung zum Tatzeitpunkt noch bedeutsamer ist als eine allfällige Alkoholabhängigkeit. Alkoholgenuss führt zu einer direkten Enthemmung im Gehirn, was Aggression begünstigt. Hinzu kommt, dass Alkohol offenbar die Signalübertragung durch den Botenstoff Serotonin verändert, das u. a. unsere Aggression und Impulsivität moduliert. Hier könnte eine weitere Ursache für das Auftreten aggressiver Verhaltensweisen nach Alkoholgenuss liegen.

Nikotin und Gewalt: Der Zusammenhang zwischen Nikotinkonsum und Gewaltbereitschaft ist schwierig zu beurteilen. Unter den gewaltbereiten Jugendlichen finden sich zwar überdurchschnittlich viele Raucher, und es besteht statistisch ein direkter Zusammenhang zwischen dem Rauchen der Mutter in der Schwangerschaft und der Häufigkeit von aggressiv-oppositionellem Verhalten der Kinder. Die Art dieses Zusammenhangs ist aber bisher nicht überzeugend geklärt, zumal Nikotinkonsum im Gegensatz zu anderen Suchtmitteln nicht zu einem manifesten Rauschzustand führt.

Cannabis und Gewalt: Gemäß der Schweizerischen Gesundheitsbefragung 2007 (www.bfs.admin.ch) hat fast jede dritte Person unter 25 Jahren schon einmal Cannabis konsumiert. Bei Jugendlichen mit dissozialen oder aggressiven Verhaltensstörungen sind die Zahlen noch viel höher. Bei den Erzählungen meiner Patienten bin ich immer wieder erstaunt, wie stark Cannabis verbreitet ist und wie leicht es ist, sich die Substanz zu beschaffen. Der Zusammenhang zwischen Cannabis und Aggression erscheint zunächst paradox, weil die Droge eine eher introvertierende und entspannende Wirkung hat. So empfinden die meisten Jugendlichen ihren bekifften Zustand als »easy« und »chillig«. Viele benutzen das Kiffen als Strategie, um Alltagssorgen und emotionalen Problemen zu entfliehen. Sinnvolle emotionale Bewältigungsstrategien werden dadurch aber nicht erlernt. Hört die Wirkung der Substanz auf, überwiegen dann oft emotionale Überforderung, Reizbarkeit und Aggressivität. Bei Jugendlichen, die durch regelmäßiges Kiffen ein Cannabis-Abhängigkeitssyndrom entwickeln, zeigt sich klinisch nicht selten ein sogenanntes »amotivationales Syndrom«, das von Antriebslosigkeit und emotionaler Gleichgültigkeit geprägt ist. Gerade diese Gleichgültigkeit kann dann wiederum dissozialen Verhaltensweisen Vorschub leisten. Nicht zuletzt kann der Wirkstoff von Cannabis, Delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC), psychotische Reaktionen provozieren, bestehend aus Wahnideen und Halluzinationen. Ein junger Mann beispielsweise stach ohne erkennbaren Grund mit dem Küchenmesser auf einen Mitarbeiter ein, nachdem er selbst angebauten Hanf geraucht hatte. Er litt unter massiven Wahrnehmungsstörungen und war überzeugt, dass er sich in einem Traum befinde.

Amphetamin-Derivate und Gewalt: Der Konsum illegaler Partydrogen aus der Gruppe der Amphetamine hat unter Jugendlichen stark zugenommen. Substanzen aus der »Ecstasy-Gruppe« (MDMA, MDA, MDE) wirken entaktogen, das heißt unter ihrem Einfluss werden die eigenen Emotionen intensiver wahrgenommen und eher ausgelebt. Dies gilt allerdings nicht nur für positive Emotionen wie Freude und Glücksgefühl, sondern auch für negative Emotionen wie Reizbarkeit, Wut und Angst, was Gewalttaten fördern kann. Methamphetamin (besser bekannt als Yaba, Ice, Meth, Crystal oder Crystal Meth) ist ein hochwirksames, halbsynthetisches Stimulans auf Amphetaminbasis. Es wird als preiswerte Droge mit aufputschender Wirkung gehandelt und gehört zu den zerstörerischsten Drogen überhaupt, nicht nur wegen ihres hohen Suchtpotenzials, sondern auch aufgrund häufiger Verunreinigungen. Crystal Meth verursacht starke Euphorie, verringert das Schlafbedürfnis, steigert die Leistungsfähigkeit, das Mitteilungsbedürfnis und das sexuelle Verlangen, was Sexualdelikte begünstigt. Bei hohen Dosierungen können Amphetamin-Derivate zu Fieber, Schwitzen, Schwindel, Zittern, Kreislaufproblemen, Angstzuständen, Halluzinationen sowie zu Selbst- und Fremdaggression führen. Vor allem in Kombination mit anderen psychotropen Substanzen kann es auch zu Amphetamin-Psychosen kommen.

K.O.-Tropfen und Gewalt: Bei Sexual- oder auch bei Eigentumsdelikten nutzen die Täter die narkotisierende Wirkung von sogenannte K.O.-Tropfen (auch Date-Rape-Drogen genannt) aus, um die Opfer zu betäuben und wehrlos zu machen. Häufige Anwendung als K.O.-Tropfen finden Gamma-Hydroxy-Buttersäure (GHB), Benzodiazepine, Barbiturate und seit einiger Zeit auch Ketamin. Diese Substanzen werden den Opfern unbemerkt in ihre Nahrung oder Getränke gemischt. Nach dem Erwachen können sich die Opfer häufig nicht mehr an die Tat oder den Tathergang erinnern.

Kokain und Gewalt: Auch der Konsum von Kokain hat unter Jugendlichen zugenommen. Kokain führt zwar kaum zu körperlicher, aber rasch zu psychischer Abhängigkeit. Entzugserscheinungen bestehen vorwiegend aus Müdigkeit, Lethargie und Depressivität. Kokainkonsumenten sind euphorisch und sehr kontaktfreudig, aber auch agitiert, nervös, ungeduldig, reizbar und oftmals aggressiv. Zudem führt Kokainkonsum auch zu einer Verstärkung des sexuellen Lustempfindens. Diese Stimmungslage kann Gewalttaten, insbesondere auch sexualisierte Gewalt, begünstigen.

Opioide und Gewalt: Opioide werden von Jugendlichen vorwiegend in Form von Heroin geschnupft, geraucht oder gespritzt. Viele Jugendliche haben zu Recht großen Respekt vor der Droge wegen ihres starken körperlichen und psychischen Suchtpotenzials und wegen der unangenehmen Entzugserscheinungen wie Angst, Zittern, Muskelschmerzen, Schweißausbrüche, Erbrechen, Durchfall und Herzklopfen. Gewalttaten von Heroinkonsumenten sind eher selten und kommen überwiegend im Zusammenhang mit Beschaffungsdelikten bei drohenden Entzugssymptomen vor. Häufiger sind aggressive Handlungen beim Mischkonsum von Heroin und Alkohol, Kokain oder anderen Substanzen.

Jede Sucht hat grundsätzlich eine kriminalisierende Wirkung. Jugendliche, die von Alkohol oder illegalen Drogen abhängig sind, wenden manchmal Gewalt an, um ihr Suchtmittel zu erhalten, weil sie an körperlichen oder psychischen Entzugserscheinungen leiden oder solche befürchten. Wir sprechen dann von Beschaffungsdelikten, zu denen nicht nur Diebstähle, sondern auch Raubüberfälle und andere Gewaltdelikte gehören. Eine wirksame Behandlung und Betreuung von suchtmittelabhängigen Jugendlichen kann diese Form von Gewaltdelikten zwar nicht verhindern, aber doch erheblich reduzieren.

Angststörungen und Gewalt

Angst ist in Bezug auf Gewalt eigentlich etwas Gutes. So sind ängstliche Kinder und Jugendliche meist angepasster, haben weniger Polizeikontakte, weniger Schulverweise und hängen weniger mit den »falschen« Freunden ab. Angst geht aber auch oft mit einem Bedrohungsgefühl einher, das Aggression provozieren kann, wie bei jenem jugendlichen »Schläger«, der bereits einige Strafanzeigen wegen Tätlichkeiten und Körperverletzung auf seinem Konto hatte. Er berichtete, dass er meistens mit einem Angstgefühl abends unterwegs war und dass er sich äußerst rasch von anderen Jugendlichen bedroht fühlte. Hätte man ihn in solchen Momenten untersuchen können, hätte man wahrscheinlich erhöhte Mengen des Stresshormons Cortisol in seinem Speichel messen können.

Anfangs gab er bei den Konflikten klein bei oder lief davon, wenn er provoziert wurde. Anschließend fühlte er sich wie ein »Weichei« und seine Angst war beim nächsten Mal noch schlimmer. Irgendwann wurde er in eine Schlägerei verwickelt. Hierbei machte er nicht nur die Erfahrung, dass er dem anderen Jugendlichen körperlich überlegen war, sondern auch, dass sein Angstgefühl nach der Schlägerei vorübergehend verschwunden war. In der Folge fühlte er sich zwar weiterhin oft bedroht und provoziert, ging aber fortan proaktiv auf seine vermeintlichen Gegner los. Dies führte irgendwann dazu, dass viele andere Jugendliche Angst vor ihm hatten. Er hatte aus seiner Sicht quasi den Spieß umgedreht und fühlte sich dadurch in seinem Verhalten bestätigt – auch wenn ihn nun viele andere Jugendliche für einen »Psycho« hielten.

Auch ein Mangel an Angst kann zu gewalttätigem Verhalten führen. Es gibt unter Jugendlichen furchtlose Persönlichkeiten, die sich durch eine »pathologische Angstfreiheit« auszeichnen. Konfrontiert man solche Jugendlichen in Testverfahren mit aversiven Reizen (Schreckreizen, Bildern mit emotionalem Inhalt etc.), bleiben sie cool und zeigen keine Angstreaktionen (z. B. keinen Anstieg des Stresshormons Cortisol im Speichel). Dieses Phänomen wird auch als »autonomes Hypoarousal«, also als verminderte emotionale Reaktionsfähigkeit bezeichnet. Solche Jugendlichen reagieren auch weniger auf Strafen beziehungsweise Strafandrohungen, weil sie ihnen keine Angst einjagen. Sie können sich emotional kaum spüren und suchen daher nach starken Reizen, um überhaupt etwas zu empfinden. Im Fachjargon sprechen wir dann von »sensation seeking«, also der Suche nach Spannung, Action und Adrenalin. Solche starken emotionalen Reize finden diese Jugendlichen dann beispielsweise in Schlägereien oder wenn sie mit dem Auto durch die Gegend rasen wie jener, der auf einer solchen »Strolchenfahrt« eine Fußgängerin zu Tode fuhr. Danach wirkte er von seinem Delikt und vom Tod des Opfers emotional auffallend wenig berührt. Zudem ließ er sich von den einschneidenden Strafen und Maßnahmen des Jugendgerichts nicht abschrecken und wurde mehrmals mit illegalen Autofahrten rückfällig, glücklicherweise ohne Todesopfer. Jugendliche, die emotional so »abgestumpft« sind, sind auch weniger zu Mitleid und Empathie fähig. Wir sprechen dann von sogenannten »callous unemotional traits« (kalten, herzlosen, Persönlichkeitszügen), die als Vorläufer psychopathischer Persönlichkeitseigenschaften angesehen werden und statistisch mit deutlich erhöhten Gewalt- und Kriminalitätsraten einhergehen.

Traumatisierung und Gewalt

Als Trauma wird im psychiatrisch-psychologischen Sinne eine außerhalb der üblichen menschlichen Erfahrung liegende Belastung bezeichnet, deren Erleben mit Gefühlen von intensiver Furcht bis Horror verbunden ist und die bei den meisten Menschen tiefe Verzweiflung hervorrufen würde. Da nicht alle Kinder und Jugendlichen nach einer traumatischen Erfahrung eine posttraumatische Belastungsstörung (PTSD – posttraumatic stress disorder) entwickeln, spielen prädisponierende Faktoren und individuelle Bewältigungsmöglichkeiten von traumatischen Lebenserfahrungen offenbar eine wichtige Rolle. Nicht die Schwere der Bedrohung, sondern das subjektive Erleben ist maßgeblich. Zentrale Symptome der PTSD sind aufdringliche, lebendige Nachhallerinnerungen (Flashbacks), die durch bestimmte Schlüsselreize ausgelöst werden, die im Zusammenhang mit dem Trauma stehen. Die Betroffenen vermeiden daher gezielt entsprechende Situationen oder Umstände, kapseln sich ab und sind oftmals nervös, schreckhaft, unkonzentriert und reizbar.

Unterschieden werden Typ-I-Traumen (schwerwiegende Einzelereignisse wie Verkehrsunfälle, Naturkatastrophen, Opferwerden von schwerer Gewalt) und Typ-II-Traumen, die durch eine Anhäufung sich wiederholender belastender Ereignisse zustande kommen. Dazu zählen gerade bei Kindern und Jugendlichen wiederholte körperliche oder sexuelle Misshandlungen, emotionale Misshandlungen und Vernachlässigung sowie Mitansehen von Gewalt und Misshandlung in der Familie. Typ-II-Traumen spielen bei der Entwicklung von Jugendgewalt eine bedeutendere Rolle als ein Typ-I-Trauma. Während Letzteres eher zu einer klassischen PTSD-Symptomatik führen kann, gehen wiederholte, chronische Traumatisierungen oftmals mit Gefühlen von Ohnmacht, Betäubung, Stimmungsschwankungen, Depression, psychosomatischen Beschwerden, aber auch mit Impulskontrollstörungen und aggressiven Wutausbrüchen einher. Diese Kinder und Jugendlichen haben Gewalt oftmals als Handlungsstrategie daheim modellhaft kennengelernt. Vor allem wenn während oder nach den Traumata weitere familiäre Belastungen wie Trennung der Eltern, Überforderung der Eltern usw. auftreten, ist die Prognose ungünstig. Das gewalttätige Ausleben von Aggressionen kann bei diesen Jugendlichen einen Kompensationsversuch der eigenen Ohnmacht darstellen: Sie wollen ihrer Opferrolle entkommen, indem sie zum Täter oder zur Täterin werden. Studien weisen zudem insbesondere bei traumatisierten weiblichen Jugendlichen auf hohe Raten an Alkohol- und Drogenmissbrauch sowie selbstverletzendem Verhalten (Schnittverletzungen, Sich-Schlagen, Verbrennungen etc.) hin. Diese selbst beigebrachten Verletzungen sollen vorrangig der Emotionsregulation dienen, im Sinne einer Entlastung von unangenehmen Gefühlen wie Anspannung, Verzweiflung und Betäubung. Der Suchtmittelkonsum kann im Sinne eines Selbstheilungsversuchs zur Dämpfung der lebendigen Erinnerungen und der Nervosität verstanden werden.

Beispiel: Von der Ohnmacht zur Raubtat

Der kurdische Flüchtlingsjunge Medat, der in seiner Heimat wiederholt Gewalt durch das türkische Militär an sich und seiner Familie erlebt hatte, kam im Alter von 14 Jahren in die Schweiz. Sein Vater war wegen Folterungen schwer traumatisiert, die Mutter depressiv. Mit 16 Jahren hatte er bereits über dreißig bewaffnete Raubüberfälle begangen, bei denen er die Opfer kaltblütig mit einem Messer bedroht hatte. Klinisch wirkte Medat oft wie betäubt und emotional verflacht. In den Gesprächen berichtete er über aufdringliche Erinnerungen an die Zeit in der Türkei, über Ohnmachtsgefühle, Depressivität und Reizbarkeit. Bei den Raubüberfällen habe er sich lebendig, mächtig und überlegen gefühlt.

Persönlichkeitsstörungen und Gewalt

Menschen mit Persönlichkeitsstörungen zeigen anhaltende und schwer veränderliche Verhaltensmuster, die starre Reaktionen auf unterschiedliche Lebenslagen bewirken. Sie unterscheiden sich von der Mehrheit der Menschen durch deutliche Abweichungen in der Wahrnehmung, im Denken und Fühlen sowie in Beziehungen zu anderen. Die Symptome einer Persönlichkeitsstörung beginnen in der Kindheit oder Jugend und ziehen sich wie ein roter Faden durchs ganze Leben.

Es wird kontrovers diskutiert, ob es sinnvoll und angemessen ist, Persönlichkeitsstörungen schon im Jugendalter zu diagnostizieren. Gegner dieser Haltung führen an, dass die Persönlichkeitsentwicklung im Jugendalter noch nicht abgeschlossen ist und dass man den Jugendlichen mit einer so schwerwiegenden Störung nicht einen lebenslangen Stempel (oder »Label«) aufdrücken darf. Befürworter hingegen führen an, dass es keine wissenschaftlichen Beweise dafür gibt, dass das Erreichen des 16. oder 18. Lebensjahres zu einer sprunghaft ansteigenden Stabilität von Persönlichkeitsmerkmalen führt. Im Gegenteil, eine Metaanalyse konnte bemerkenswerte Stabilitäten von Persönlichkeitsmerkmalen bereits im Grundschulalter nachweisen, die nicht niedriger waren als bei jungen Erwachsenen. Da eine korrekte Diagnose auch sinnvolle Behandlungsimplikationen nach sich zieht, sollte bei entsprechenden Hinweisen auch bei Jugendlichen das Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung geprüft werden.

Die Grenze zu Persönlichkeitsvarianten, die noch innerhalb der Bandbreite der Norm liegen, ist fließend. Fließend ist auch der Übergang zu den sogenannten Störungen des Sozialverhaltens. Dieser Begriff beschreibt Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen, die sich hauptsächlich durch destruktives oder aggressives Verhalten äußern. Dissoziale Persönlichkeitsstörungen zeichnen sich darüber hinaus durch bestimmte charakterliche Besonderheiten aus. Diese Jugendlichen sind unfähig, geltende Regeln und Normen zu befolgen oder sich an Verpflichtungen zu halten. Sie erscheinen gefühllos, alle ihre Empfindungen sind nur oberflächlich. Sie können sich nicht in andere Personen einfühlen, sind gefühlskalt, haben keine Schuldgefühle und kein schlechtes Gewissen. Im Gegenteil neigen sie dazu, bei eigenem Fehlverhalten die Schuld anderen in die Schuhe zu schieben. Deshalb sind sie auch schlecht fähig, aus Fehlern zu lernen. Diese Jugendlichen haben oft destruktive Vorstellungen und Gewaltfantasien. Sie sind für überdurchschnittlich viele Gewaltdelikte verantwortlich und neigen außerdem zu übermäßigem Suchtmittelkonsum.

Eine gewisse Bedeutung für die Erklärung von Jugendgewalt hat auch die narzisstische Persönlichkeitsstörung. Ein gesteigerter Narzissmus ist in der Adoleszenz durchaus normal, da die elterliche Präsenz zurückgeht und sich die Jugendlichen verstärkt selbst narzisstisch besetzen, sei es durch Kleidung, Frisuren oder selbstverliebte Attitüden. Jugendliche mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung hingegen zeigen ein aufgeblähtes Selbstwertgefühl, wollen dauernd bewundert werden und haben gleichzeitig wenig Empathie oder Mitleid für andere. Sie sind rasch kränkbar und entwickeln leicht Racheund Gewaltfantasien, die Gewaltdelikten Vorschub leisten können.

Eine Mischung aus narzisstischen und dissozialen Persönlichkeitsmerkmalen ist besonders problematisch und kann auf das Vorliegen einer »Psychopathy« hindeuten. Das Psychopathy-Konzept stammt überwiegend aus der angloamerikanischen Psychiatrie und weist Überschneidungen mit der dissozialen Persönlichkeitsstörung auf, ohne mit ihr deckungsgleich zu sein. Der »Psychopath« ist ein Subtyp der dissozialen Persönlichkeitsstörung, ein egozentrischer und aggressiver Narzisst, der gleichgültig und ausbeuterisch gegenüber den Gefühlen anderer ist.

Bedeutsam für die Gewaltbereitschaft von Jugendlichen ist auch die emotional-instabile Persönlichkeitsstörung. Diese Jugendlichen zeigen die deutliche Tendenz, impulsiv zu handeln ohne Berücksichtigung von Konsequenzen. Sie können schlecht vorausplanen und haben wechselnde, instabile Stimmungen, die oft zu gewalttätigem und explosivem Verhalten führen. Diese meist »heiße« Form der Aggression wird leicht ausgelöst, wenn sich die Jugendlichen von anderen kritisiert oder in ihrem Tun behindert fühlen. Unterschieden werden der impulsive Typus und der Borderline-Typus. Beide zeichnen sich durch Impulsivität und mangelnde Selbstkontrolle aus. Beim Borderline-Typus zeigen die Jugendlichen zusätzlich oft selbstverletzendes und/oder suizidales Verhalten, Gefühle der inneren Leere sowie ausgeprägte Identitäts- und Beziehungsschwierigkeiten. Emotional instabile Persönlichkeitsstörungen vom Borderline-Typus sind eng verknüpft mit wiederholten eigenen körperlichen oder sexuellen Misshandlungserfahrungen.

Des Weiteren sind paranoide Persönlichkeitsstörungen mit einem erhöhten Gewaltrisiko verknüpft. Die Fantasie solcher Jugendlichen ist von krankhaft gesteigertem Misstrauen geprägt. Sie interpretieren Handlungen anderer sofort als feindlich oder verächtlich und neigen zu Groll und Rachsucht, was oft in gewalttätiges Verhalten mündet.

Nicht immer muss das Vollbild einer Persönlichkeitsstörung vorliegen. Bereits akzentuierte Persönlichkeitszüge können das Gewaltrisiko erhöhen.

Autismus und Gewalt

14. Dezember 2012: Ein 20-Jähriger erschießt bei einem Amoklauf in Newtown im US-Bundesstaat Connecticut erst seine Mutter und tötet dann an einer Grundschule 20 Schulkinder und fünf Lehrpersonen. Der Amokschütze litt angeblich an einem Asperger-Syndrom. Seine Tat wurde daraufhin in Medienberichten immer wieder mit dieser Störung in Verbindung gebracht. Vereinigungen von Menschen mit dem Asperger-Syndrom verurteilten diese Art der Medienberichterstattung als undifferenziert und stigmatisierend.

Autismus ist ein nahtloses Kontinuum unterschiedlich schwerer Störungen, weshalb heute von »Autismus Spektrum Störungen« (ASS) gesprochen wird. Unter diesen stellt das Asperger-Syndrom eine relativ milde Ausprägungsform dar. Das Vorkommen des Asperger-Syndroms im Kindesalter wird gegenwärtig auf 2 bis 3,3 Kinder auf 10 000 Kinder im Schulalter geschätzt. 8 von 9 Betroffenen sind männlich. Die Störung zeigt sich schon im Vorschulalter durch Schwierigkeiten in der Kommunikation und der sozialen Interaktion mit anderen Menschen. Beeinträchtigt ist vor allem die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinversetzen und deren Gedanken und Gefühle nachempfinden zu können. Diese Schwäche zeigt sich konkret etwa darin, dass Asperger-Autisten nonverbale emotionale Signale in Gesichtsausdrücken oder Gesten bei anderen Menschen nicht intuitiv erkennen können und auch selber nicht intuitiv aussenden. Asperger-Autisten wirken dadurch in ihrem Kontakt- und Kommunikationsverhalten auf andere Menschen oft »merkwürdig«. Sie reden häufig gestelzt, sind motorisch meist ungeschickt, haben Mühe, Beziehungen einzugehen, wirken einzelgängerisch und verschroben. Da ihre Intelligenz in den meisten Fällen normal ausgeprägt ist, werden sie von ihrer Umwelt jedoch nicht als Autisten, sondern höchstens als »wunderlich« wahrgenommen.

Wie etwa ein Jugendlicher mit Asperger-Syndrom, der berichtete, dass er nonverbale menschliche Ausdrucksweisen studiert und auswendig gelernt habe. So wisse er zum Beispiel, dass jemand weine, weil er oder sie traurig sei. Statt aber mit der betreffenden Person mitfühlen zu können, fände er die Geräusche, die beim Weinen entstehen, urkomisch und er müsse sich meist zusammenreißen, um nicht zu lachen. Auch die Stirnfalten über der Nase, die jemand mache, der wütend sei, finde er interessant, weil sie ihn an die Zahl elf erinnern würden. Oft haben Asperger-Autisten Spezialinteressen in technischen oder naturwissenschaftlichen Gebieten. Teilweise eignen sie sich erstaunlich viel Wissen in ihrem Spezialgebiet an. Ein betroffener Jugendlicher konnte beispielsweise fast alle Zugverbindungen im Schweizer Bahnnetz auswendig. Ein anderer wusste erstaunlich viele Details über Atomkraftwerke.

Das Asperger-Syndrom ist angeboren und nicht heilbar. Viele Betroffene können aber soziale und kommunikative Fähigkeiten erlernen und sich in der Gesellschaft relativ gut zurechtfinden. Sie suchen sich oft Nischen in technischen Berufen und leben eher zurückgezogen. Im englischen Sprachraum bezeichnen viele Menschen mit Asperger ihr Anderssein scherzhaft als »Wrong Planet Syndrome« und drücken damit ihr Gefühl aus, irrtümlich auf einem fremden Planeten gestrandet zu sein, dessen Regeln und Bewohner sie nicht verstehen (www.wrongplanet.net).

Sind Asperger-Autisten Psychopathen, weil sie ein mangelhaftes Einfühlungsvermögen aufweisen? Werden sie schneller zu kaltblütigen Amokläufern wie im Fall aus Newtown? Zwischen der Empathiefähigkeit bei Asperger-Autisten und bei Psychopathen gibt es grundlegende Unterschiede. Asperger-Autisten können sich in die Gefühlswelt anderer schlecht hineinversetzen, sind zwischenmenschlich naiv und oft verwundert über menschliche Emotionen beziehungweise überfordert damit. Dagegen sind sie meist ehrlicher, prinzipientreuer und weniger manipulativ als andere Menschen. Wenn autistische Kinder und Jugendliche aggressiv reagieren, dann meist aufgrund der aus ihrem »Andersein« resultierenden Frustration. In den Fällen, in denen ihre Aggression nach außen gerichtet ist, nimmt sie nicht die Form geplanter, »kalter« Gewalt gegen andere an, sondern zeigt sich eher in sozial ungeschickt wirkendem Trotz, heißer Wut oder hilflos wirkenden Drohungen.

Auch wenn sich das wissenschaftlich bisher nicht belegen lässt, wird vermutet, dass autistische Menschen eine niedrige Gewalt- und Kriminalitätsrate aufweisen – nicht zuletzt, weil sie dazu neigen, Gesetze rigide anzuwenden und große Mühe mit Gesetzesüberschreitungen haben. Ihre Rigidität kann allerdings im Erwachsenenalter gehäuft zu Pedanterie und Rechtsstreitigkeiten mit Nachbarn oder Behörden, bis hin zum Querulantentum führen.

Psychopathen hingegen besitzen durchaus die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, bleiben jedoch von dieser Erkenntnis emotional unberührt. Im Gegensatz zu Autisten nutzen sie die Gefühle anderer auf manipulative und ausbeuterische Art und Weise aus. Sie verfolgen in erster Linie selbstsüchtige Interessen und gehen in ihrem Handeln ohne Rücksicht und Gewissensbisse über Leichen. Dem Psychopathen sind somit die Gefühle anderer Menschen egal, dem Autisten sind sie ein Rätsel.

Schizophrenie und Gewalt

Ungefähr jeder hundertste Mensch erkrankt im Laufe seines Lebens an einer schizophrenen Psychose. Bei Männern bricht die Krankheit durchschnittlich im 21. Lebensjahr, bei Frauen erst im 26. Lebensjahr aus. Etwa 10 Prozent aller schizophrenen Psychosen manifestieren sich bereits zwischen dem 14. und 20. Lebensjahr. Die Symptomatik ist vielfältig und entspricht keineswegs dem Bild einer »gespaltenen oder multiplen Persönlichkeit«, wie sie manchmal in Spielfilmen gezeichnet wird. Vielmehr ziehen sich die Betroffenen zurück, sind nervös und misstrauisch und weisen eine Überempfindlichkeit für Sinneseindrücke auf. Oft verhalten sie sich bizarr, lachen unvermittelt, reden über nicht nachvollziehbare Dinge oder vertreten eigentümliche Standpunkte. Dahinter stecken oft Denkstörungen, Wahnideen, Halluzinationen und ein gestörter Realitätsbezug. Das Denken der Betroffenen wirkt häufig unzusammenhängend oder sprunghaft, sie fühlen sich verfolgt oder hören Stimmen. Oft erleben sie die Grenze zwischen sich selbst und ihrer Umwelt als durchlässig.

Bei den häufig bereits im Jugendalter ausbrechenden paranoiden Schizophrenien stehen Halluzinationen und Wahnideen im Vordergrund. Diese Symptome können mit einer erhöhten Gewaltbereitschaft einhergehen, wenn sich die Betroffenen beispielsweise in ihrer Paranoia verfolgt und bedroht fühlen oder wenn ihnen eine halluzinierte Stimme im Kopf befiehlt, eine Gewalttat zu begehen. Hierzu ein Beispiel: Ein schizophrener Jugendlicher griff seinen Arzt an, den er für den Teufel hielt.

Eine schizophrene Psychose tritt nicht von einem Tag auf den anderen auf, sondern entwickelt sich schleichend. Im Vorfeld der Erkrankung können Jugendliche reizbare oder depressive Verstimmungen haben, die sich in aggressiven Handlungen entladen können. Manchmal kann auch ein plötzlicher, aber in diesem Stadium noch vorübergehender Verlust der Realitätskontrolle zu kriminellen Handlungen führen.

Ein Fünftel bis ein Viertel der Schizophreniepatienten hatte bereits vor der ersten Behandlung der Krankheit einen Polizeikontakt. Schizophrene begehen durchschnittlich zehnmal häufiger Gewaltdelikte und gut viermal häufiger Tötungsdelikte als ihre gesunden Altersgenossen. Besonders oft bedrohen oder gefährden Schizophreniekranke ihre Eltern, nahe Angehörige oder Bezugspersonen. Es sind aber nicht alle dieser Patienten gefährlich. Die höchste Gewaltbereitschaft zeigen diejenigen, die sich nicht in Behandlung befinden, Alkohol oder Drogen konsumieren und Wahnideen haben, die sich auf bestimmte Personen beziehen, das heißt, sie fühlen sich zum Beispiel von bestimmten Personen verfolgt. Wenn man bedenkt, dass das Risiko eines Menschen, Opfer einer Gewalttat zu werden, bei ungefähr 1 : 10 000 liegt, beträgt das Risiko, Opfer eines schizophrenen Menschen zu werden, nur ungefähr 1 : 200 000, weil es viel weniger Schizophreniepatienten als Gewaltstraftäter gibt.

Bei Jugendlichen ist in etwa bei einem Viertel der Fälle mit Heilung und bei einem weiteren Viertel mit einer teilweisen Besserung der Krankheit zu rechnen. Etwa die Hälfte der Fälle verläuft aber trotz großer medizinischer Fortschritte in diesem Bereich chronisch und hat eine ungünstige Prognose.

Bindungsstörungen und Gewalt

Eine gestörte Eltern-Kind-Bindung kann bei der Entstehung von Gewaltfantasien und gewalttätigem Verhalten eine wichtige Rolle spielen. Denn der Erwerb wesentlicher prosozialer Fähigkeiten wie Emotionsregulation, Moral, Empathie, Fürsorge, Verantwortungs- und Verpflichtungsgefühl geschieht über affektive Bindungen. Eine Beeinträchtigung dieser Fähigkeiten kann insbesondere im Jugendalter, wo der elterliche Einfluss zurückgeht und mehr Eigenverantwortung gefragt ist, zu einer massiven Zunahme von dissozialen und aggressiven Verhaltensweisen führen, da in der Kindheit keine hemmenden Haltungen und Denkmuster entwickelt werden konnten.

Fazit

Ein hoher Prozentsatz jugendlicher Gewalt- und Straftäter leidet an psychischen Störungen.

Neben gehäufter unterdurchschnittlicher Intelligenz (v. a. schlechteren verbalen Fähigkeiten), defizitärer Informationsverarbeitung und Teilleistungsstörungen (z. B. Lese-Rechtschreibstörungen) findet man bei diesen Jugendlichen überdurchschnittlich hohe Raten an dissozialen Verhaltensstörungen, Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörungen (ADHS), depressiven Störungen, Suchtmittelstörungen, Angststörungen und Persönlichkeitsstörungen.

Nicht selten stehen vielfältige psychosoziale Belastungen im Hintergrund, die das Erleben des Jugendlichen entscheidend geprägt haben.

Die Krankheitssymptome der Jugendlichen stehen zwar nicht immer in einem ursächlichen Zusammenhang mit ihren Straftaten, schränken aber ihre Fähigkeit zur gesellschaftlichen Integration ein und erhöhen ihr Rückfallrisiko.

Strafen und Repression allein sind daher bei diesen Jugendlichen nicht zielführend, sondern müssen durch therapeutische, medikamentöse und sozialpädagogische Maßnahmen ergänzt oder in einzelnen Fällen gar ersetzt werden.»