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Ausdrucksformen der Gewalt

Aktuelle Trends der Gewalt

Der Einfluss elektronischer Medien auf die Manifestationen der Jugendgewalt

In den vergangenen 50 Jahren hat sich die Lebenswelt der Jugendlichen rasant gewandelt. In Deutschland nutzen 90 Prozent der Kinder zwischen 5 und 15 Jahren den Computer, und 74 Prozent gehen von zu Hause aus ins Internet, womit die deutschen Kinder noch unter dem europäischen Durchschnitt liegen. 84 Prozent der 12- bis 19-Jährigen kommunizieren inzwischen in sozialen Netzwerken wie Facebook, Twitter, Netlog oder Ähnlichem. Kinder und Jugendliche sind immer und überall online. Die Möglichkeiten der Eltern, die Übersicht über die Internetnutzung ihrer Kinder zu behalten, sind demgegenüber beschränkt, zumal 48 Prozent der Jugendlichen auch im eigenen Zimmer und 31 Prozent über das Mobiltelefon oder das Smartphone Internetzugang haben.

Im virtuellen Raum werden Informationen und Interessen ausgetauscht, Beziehungen gepflegt und Freundschaften geschlossen. Es werden aber auch Verbrechen geplant und Menschen gemobbt, bloßgestellt oder belästigt. Aus naheliegenden Gründen beeinflussen die elektronischen Medien und das Internet in erster Linie die Erscheinungsformen und die Auswirkungen psychischer Gewalt wie Drohungen, Verletzung der Privatsphäre, (Cyber-)Stalking und (Cyber-)Mobbing. Das Internet ermöglicht aber auch die Kontaktaufnahme mit Opfern sexueller Gewalt (zum Beispiel bei pädosexuellen Tätern), die Gruppenbildung zwecks Begehung ideologisierter Gewalt (besonders verbreitet in rechtsextremen Kreisen, zunehmend aber auch bei Hooligans und anderen gewaltbereiten Gruppierungen) sowie das Gewinnen von Informationen zur Herstellung und Beschaffung von Waffen.

Sexting

Max, ein 14-jähriger Hauptschüler, bittet seine Klassenkameradin und Freundin Lea, ihm mit dem Smartphone ein Nacktfoto zu senden – als Zeichen ihrer Liebe. Lea zögert zunächst, gibt aber schließlich nach, weil sie ihren Freund nicht enttäuschen will. Einen Monat später verliebt sich Lea in einen etwas älteren Gymnasiasten. Maxens Verbitterung ist groß. Aus Rache bezeichnet er Lea in einer MMS als »Schlampe« und »belegt« diese Aussage mit den Nacktbildern seiner Ex-Freundin. Die Nachricht und die Nacktbilder verschickt er seinen Klassenkameraden und Leas neuem Freund. In der Schule äußert sich niemand dazu, Lea aber merkt, dass über sie getuschelt wird. Erst nach einigen Tagen erfährt sie von einer Freundin, dass Nacktbilder über sie herumgereicht werden. Lea schämt sich zutiefst, will nicht mehr in die Schule und lässt sich krankschreiben. Sie befürchtet, dass auch ihre Lehrer die Bilder zu Gesicht bekommen könnten. Zunehmend stellen sich bei ihr nervöse Beschwerden ein, sie kann nicht mehr schlafen, verliert an Gewicht. Erst mit Hilfe einer psychologischen Behandlung findet sie ihr inneres Gleichgewicht wieder.

Bloßstellungen wie diese gibt es immer öfter. Ausgangspunkt war das Aufkommen von Mobiltelefonen mit Kameras, die es den Jugendlichen ermöglichten, nicht mehr nur Texte, sondern auch Bilder sexuellen Inhalts zu verbreiten. Es ist eine neue, bebilderte Form von dem, was früher als »Telefonsex« bezeichnet wurde. Der Austausch fand zunächst im Freundeskreis über SMS und MMS statt. Allerdings hat sich auch der Begriff »Freunde« erweitert, indem in den sozialen Netzwerken jeder als Freund bezeichnet wird, der auf eine Freundesliste aufgenommen wurde. So gelangten die Bilder ins Internet und waren dort für viele und nicht selten sogar für alle einsehbar. Für die Bezeichnung des Phänomens wurde in der Folge der Begriff »Sexting« verwendet, ein Kofferwort, das aus den englischen Wortbestandteilen Sex und Texting besteht. Erstmals erschien dieses Wort 2005 in einem Artikel des »Sunday Telegraph Magazine« über sexuelle Partnerschaft.

Sexting ist auch in Deutschland verbreitet. 19 Prozent der 11- bis 16-Jährigen haben bereits Nachrichten mit sexuellem Inhalt erhalten, und 5 Prozent haben schon selber welche verschickt, wobei die Eltern in der Regel nichts davon erfahren haben. Jeder fünfte Empfänger solcher Botschaften erlebt diese als unangenehm.

Viele Jugendliche wissen nicht, dass Sexting strafbar sein kann. Gemäß § 184b des deutschen Strafgesetzbuches wird mit einer Freiheitsstrafe von drei Monaten bis fünf Jahren bestraft, wer pornografische Schriften, die sexuelle Handlungen von, an oder vor Kindern zum Gegenstand haben, verbreitet, öffentlich zugänglich macht oder herstellt. Ähnliche Bestimmungen gelten in allen europäischen Ländern, wobei es allerdings erhebliche Unterschiede in der Definition der Pornografie gibt. Teilweise gilt das Pornografieverbot nur, wenn Gewalt im Spiel ist, während in anderen Ländern auch die Darstellung eines Geschlechtsverkehrs verboten ist.

Cyberbullying

Die 13-jährige Julia ist – aus welchen Gründen auch immer – in ihrer Klasse unbeliebt. Schon öfter suchte sie vergeblich Anschluss an andere. Vier Jungen aus ihrer Klasse machen sich einen Spaß daraus, Julia über SMS und E-Mails zu verletzen, zu belästigen und schließlich auch zu bedrohen. Es beginnt mit harmlosen Diffamierungen, indem sich die Jungen über ihre Pickel und ihre Kleider lustig machen. Julia schämt sich wegen ihrer Unbeliebtheit und behält die Belästigungen für sich, auch ihren Eltern sagt sie nichts. Die Jungen werden jedoch immer dreister. Sie drohen, sie auf dem Schulweg zusammenzuschlagen und halbtot liegen zu lassen. Die Drohungen versetzen Julia in Angst und Schrecken, sie will nicht mehr zur Schule, meldet sich immer öfter krank. Schließlich wird sie sogar von Suizidgedanken geplagt. Durch einen Zufall entdeckt ihre ältere Schwester belästigende Nachrichten auf Julias E-Mail-Konto. Nun geht alles sehr rasch. Die Jungen werden zur Verantwortung gezogen und Julia in eine andere Schule versetzt. Außerdem erhält sie psychologische Hilfe. Julia ist Opfer von Cyberbullying geworden.

Unter Cyberbullying versteht man die anhaltende Belästigung, Beleidigung und Bedrohung anderer Menschen über das Internet, vorwiegend über E-Mails, in Chatrooms oder über das Mobiltelefon. Davon nicht scharf abgegrenzt sind die Begriffe des Cybermobbings und des Cyberstalkings. Von Cyberbullying wird eher dann gesprochen, wenn ein konkreter Täter am Werk ist (das englische Wort »bully« bedeutet »brutaler oder tyrannischer Kerl«), während der Begriff Cybermobbing angewendet wird, wenn die Belästigung von einer größeren Gruppe ausgeht (das englische Wort »mob« heißt »Pöbel«). Beim Cyberstalking liegt der Akzent auf Belästigungen über einen längeren Zeitraum, zum Beispiel durch E-Mails, ohne dass Öffentlichkeit gesucht wird (das englische Wort »stalking« stammt aus der Jägersprache und heißt »pirschen«, »anschleichen«).

Für Kinder und Jugendliche gehören heute Belästigungen über das Internet zwar nicht gerade zum Alltag, die Phänomene sind aber Teil der Welt, in der sie leben. Im Durchschnitt gibt es in jeder Schulklasse ein Kind, dass schon einmal gemeine oder verletzende Nachrichten bekommen hat (5 Prozent aller Jugendlichen zwischen 9 und 16 Jahren). Dem gegenüber ist das Risiko für ein Kind, offline gemobbt zu werden, zwei bis drei Mal höher. Eltern neigen eher dazu, das Risiko des Cyberbullyings zu überschätzen.

Beliebte Zielscheibe des Cyberbullying sind nicht nur Mitschüler, sondern auch Lehrpersonen. Bekannt wurde zum Beispiel der Fall jenes englischen Lehrers, dem ein Schüler in einer Blitzaktion die Hose herunterzieht, als er mit dem Rücken zur Klasse steht und etwas an die Tafel schreibt. Die Aktion wurde von einem anderen Schüler mit einem Mobiltelefon gefilmt und erschien am folgenden Tag, für jedermann einsehbar, auf der Internetplattform YouTube.

Straftaten als Trophäen ins Internet stellen

Für den 17-jährigen Alexander gibt es nichts Schöneres als schnelle, schnittige Autos. Insgeheim träumt er von einer Karriere als Rennfahrer, für die er wohl ein gewisses Potenzial hätte. Schon wiederholt hat er illegale Spritzfahrten mit dem BMW seines Vaters unternommen, wobei er mit überhöhter Geschwindigkeit durch die Stadt fuhr und dadurch Fußgänger gefährdete. Die Straßenverkehrsbehörde hat deshalb eine Sperrfrist für den Erwerb des Führerscheins verfügt, sodass er auch nach Vollendung des 18. Lebensjahres nicht am motorisierten Straßenverkehr wird teilnehmen dürfen. Damit ist für Alexander eine Welt zusammengebrochen. Er sagt, jetzt sei ihm alles egal, er werde auf keine Gesetze mehr Rücksicht nehmen. Als er sich eines Sonntags mit seinem Freund Tim zum Gamen trifft, schlägt er diesem vor, mit dem Auto seines Vaters möglichst schnell durch die Stadt zu fahren, wobei er am Steuer sitzen werde und Tim die Fahrt auf Video festhalten würde. Tim ist sofort damit einverstanden. Sie fahren gemeinsam mit bis zu 120 Stundenkilometern durch Quartierstraßen, wobei sie eine Radlerin derart erschrecken, dass sie beim Ausweichen in ein geparktes Auto fährt, stürzt und sich dabei offensichtlich verletzt. Alexander sieht das, hält jedoch nicht an, Tim aber hält auch diesen Vorfall mit der Videokamera seine Mobiltelefons fest. Nach Beendigung der Spritztour stellen die beiden Jugendlichen das Video stolz ins Internet und machen sich dabei über die gestürzte Radlerin und deren Übergewicht lustig. Die Polizei verhaftet die beiden minderjährigen Raser noch am selben Tag.

Der Trend, Rasereien, Sachbeschädigungen, Tierquälereien, Prügelvideos, Darstellungen von sexuellen Übergriffen, Selbstverstümmelungen und – in internationaler Perspektive – sogar Mitschnitte von Hinrichtungen im Internet zu veröffentlichen, nimmt seit einigen Jahren bedenklich zu. Bestimmte Portale wie »rotten« oder »liveleak« sind für ihre Darstellungen brutaler Gewalt bekannt und werden von den Jugendlichen oft frequentiert. Dort finden sich auch regelmäßig sogenannte »Snuff-Videos«, in denen zusammenhangslos Tötungsdarstellungen oder Leichenschändungen gezeigt werden. Diese werden meistens von Kriegsmilizen ins Internet gestellt.

Straftaten und Gewalthandlungen werden im Netz wie Trophäen präsentiert, als ob es sich um Heldentaten handeln würde. Verbreiteter als Tötungsdarstellungen ist die Veröffentlichung mehr oder weniger alltäglicher Gewalt in den gängigsten Videoportalen wie YouTube oder Myspace. Allerdings führen die Veröffentlichungen nicht immer – wie im Fall von Alexander und Tim – zur raschen Verhaftung der Schuldigen. Viele der Videos bleiben wochen- oder gar monatelang im Netz und wirken auf unzählige Internetnutzer ein. Für Jugendliche sind besonders diejenigen Videos schwer verdaulich, die Darstellungen von extremer realer Gewalt (Enthauptungen, Tötungen, Selbstverstümmelungen) und extremen realen Verletzungen zeigen. Belastend sind aber auch Szenen, in denen sie sich mit den gezeigten Opfern oder der dargestellten Gewaltsituation stark identifizieren. Die emotionale Belastung ist jedoch gleichzeitig die Voraussetzung für die Faszination, die diese Darstellungen auf Jugendliche ausüben. Die Faszination des Bösen, die Lust an der Überwindung der Angst und der Kick des Aushaltenkönnens sind wichtige Motive zum Konsum dieser Produkte.

Das Hochladen von Videos über Rowdytum auf der Straße, wie im Beispiel von Alexander und Tim, verweist nicht nur auf eine bedenkliche Geringschätzung der Sicherheit und des Lebens anderer Verkehrsteilnehmer, sondern auch auf eine Bagatellisierung ihres Verhaltens. Rowdytum, Vandalismus und Gewalt werden auf diese Weise schleichend salonfähig und können im Erleben anderer Jugendlicher als akzeptables Verhalten erscheinen. Mit dem Besitz und dem Verbreiten von Gewaltvideos können sich Jugendliche strafbar machen.

Happy slapping

An einem Freitagabend gegen 23 Uhr wartet der 16-jährige Mark mit einem Freund auf zwei Kumpel. Unauffällig nähert sich den beiden eine Gruppe von sechs geschniegelt angezogenen jungen Männern. Der letzte der Gruppe schlägt Mark ohne jede Vorwarnung die Faust ins Gesicht, sodass dieser stark blutet. Auf dem WC des nahe gelegenen Bahnhofs will sich Mark das Blut aus dem Gesicht waschen. Da taucht die geschniegelte Gruppe erneut auf und schlägt auf die beiden Jugendlichen ein. Einer filmt die Prügelei auf seinem Mobiltelefon.

»Happy slapping« nennen wir diese Form der provozierten Schlägerei, in der das Ziel verfolgt wird, die Taten im Internet zu veröffentlichen. Meistens handelt es sich um einen unvermittelten körperlichen Angriff auf eine oft unbekannte, zufällig anwesende Drittperson, der von einem Mittäter gefilmt wird. Das Video wird anschließend mit dem Mobiltelefon weiterverbreitet oder auf einer Internetplattform veröffentlicht, wodurch das Opfer zusätzlich gedemütigt wird. In Schulen wird weniger eine zufällig anwesende Person als ein gezielt ausgewählter Mitschüler oder ein Lehrer geschlagen und gefilmt.

Der Begriff »Happy slapping« stammt aus dem Englischen und bedeutet so viel wie »lustiges Schlagen«. Er wurde von der »Time Educational Supplement«, einer Wochenzeitung für Lehrer, geprägt, die in ihrer Ausgabe vom 21. Januar 2005 schreibt, diese Unsitte breite sich seit Ende 2004 in den Londoner Schulen immer weiter aus.

In der Regel werden dem Opfer Schläge ins Gesicht verabreicht, ohne dass ihm schwerwiegende Verletzungen zugefügt werden. Es geht den Tätern in erster Linie um den Spaß am Leiden eines anderen Menschen und um dessen Erniedrigung und nicht um darum, möglichst brutal zuzuschlagen. Gelegentlich kommt es aber auch vor, dass das Opfer bis zur Bewusstlosigkeit zusammengeschlagen wird und dass ihm schwere Körperverletzungen zugefügt werden. Auch sexuelle Übergriffe sind im Rahmen des Happy slapping schon vorgekommen. In England soll eine Zunahme der Brutalität beim Happy slapping an den Schulen beobachtet worden sein.

Leider verfügen wir über keine verbindlichen Angaben zur Häufigkeit des Happy slapping, weil die Opfer aus Scham und Angst vor der Rache der Täter nur selten Strafanzeige erstatten und die Dunkelziffer deshalb hoch ist. Gemäß der JAMESStudie 2012 haben in der Schweiz 7 Prozent der 12- bis 19-jährigen Jugendlichen schon einmal eine gestellte und 4 Prozent eine echte Schlägerei gefilmt. Für Deutschland ermittelte die JIM-Jugendstudie 2009, dass jeder dritte Jugendliche im Alter zwischen 12 und 19 Jahren die Aufzeichnung einer Schlägerei mit dem Handy erlebt habe, Hauptschüler doppelt so häufig wie Gymnasiasten.

Beim Happy slapping wird meistens ein Straftatbestand erfüllt (zum Beispiel Körperverletzung, Nötigung, Verbreitung von Gewaltdarstellungen etc.). Deshalb ist es zweckmäßig, die Polizei zu informieren und Strafanzeige zu erstatten. In jedem Fall aber darf Happy slapping nicht als Kavaliersdelikt behandelt werden. Wenn das Opfer, die Eltern, die Schulleitung oder andere zuständige Instanzen nicht reagieren, werden sich die Täter in ihrem Verhalten bestätigt sehen und es wird wieder zu ähnlichen Vorfällen kommen. Deshalb ist es empfehlenswert, wenn das Opfer seine Scham überwindet und eine Person seines Vertrauens über den Vorfall informiert. Die zuständigen Stellen werden gemeinsam mit dem Opfer die notwendigen Maßnahmen einleiten.

Der Einfluss der 24-Stunden-Gesellschaft

Die einen begrüßen das, was sie als Mediterranisierung des Stadtlebens bezeichnen, andere sprechen kritisch von einer Häufung der »Nachtstadtereignisse« infolge der »24-Stunden-Gesellschaft«. Anwohner klagen über vermehrte Lärmbelästigung in den Kernstädten, Kulturschaffende freuen sich über die Vitalisierung der vom Autoverkehr befreiten Quartiere. Unübersehbar ist jedenfalls das pulsierende Leben in den großen Städten, das fast die ganze Nacht anhält, während kleinere Städte und Dörfer schon bei Einbruch der Dunkelheit gespenstisch und wie ausgestorben wirken. In den großen Zentren können wir morgens um zwei Uhr in den Fitnessclub und anschließend noch eine Party besuchen. Die Individualisierung des Tagesrhythmus führt nicht nur zu einer Lockerung der sozialen Kontrolle, sondern auch zu einer Zunahme von »Gelegenheiten«, einerseits für sinnvolle Aktivitäten und soziale Kontakte, andererseits aber auch für Konflikte sowie den Konsum von Alkohol und Drogen.

Mit dieser Entwicklung einher geht eine Veränderung des Lebensrhythmus und des Ausgehverhaltens der Jugendlichen. Die Nächte werden länger, und aufgrund der verbesserten Mobilität verbringen immer mehr Jugendliche ihre Wochenenden in den großen Städten. Viele versammeln sich im Umfeld von riesigen Vergnügungstempeln, andere wiederum bevorzugen kleinere Lokale, die sich unweit von den großen Eventhallen befinden. Das veränderte Freizeitverhalten der Jugendlichen beeinflusst auch die Jugendkriminalität, denn die meisten typischen Jugenddelikte werden nicht etwa in der Schule oder zu Hause begangen, sondern in der Freizeit, die viele Jugendliche mit Gleichaltrigen verbringen. In Rahmen von Freizeitaktivitäten kommt es am häufigsten zu Konflikten und zu Gewalthandlungen, wobei oft die jeweilige Gruppendynamik eine erhebliche Rolle spielt. Längere Ausgehzeiten und größere Ansammlungen von Jugendlichen führen tendenziell auch zu einem vermehrten Alkohol- und Drogenkonsum, weil schlicht und einfach mehr Gelegenheit dazu besteht.

Der Konsum von Suchtmitteln, der beim Ausgehen schon immer eine wichtige Rolle gespielt hat, ist unter anderem abhängig von der Erhältlichkeit und vom Preis. Er beeinflusst seinerseits das Risiko für gewalttätige Auseinandersetzungen der Jugendlichen, indem psychoaktive Substanzen, allen voran Alkohol und Kokain, enthemmen und zu einer Verschärfung bestehender Konflikte beitragen. Zwei von drei Gewalthandlungen werden unter dem Einfluss von Alkohol verübt. Immer öfter betrinken sich Jugendliche bewusst schon vor Beginn einer Party, sei es wegen der hohen Alkoholpreise auf Veranstaltungen, sei es um auf der Party von Anfang an »besser drauf« zu sein. Das Rauschtrinken – das heißt der Konsum von Alkohol nicht des Genusses, sondern des Rausches wegen – führt besonders häufig zu einer starken Enthemmung und als Folge davon zu einer Zunahme der Gewaltbereitschaft. Die dabei ausgeübte Gewalt ist meistens ungeplant und zeichnet sich durch Impulsivität, Brutalität und Sinnlosigkeit aus. Manchmal können sich die Jugendlichen am nächsten Tag nicht mehr oder nur noch bruchstückhaft an die Vorfälle vom Vorabend erinnern.

Gemäß einer Expertise, die der Kriminologe Denis Ribeaud von der ETH Zürich 2012 im Auftrag des Bundesamtes für Sozialversicherungen erstellt hat, hat sich die Gewalt unter jungen Menschen im öffentlichen Raum in den letzten zwanzig Jahren verdoppelt. Häufigste Täter sind junge Männer im Alter bis 24 Jahren. Gemäß seiner Feststellung haben der Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel und die liberalisierten Öffnungszeiten der Gastronomiebetriebe dazu geführt, dass sich das Leben vieler Jugendlicher und junger Erwachsener zwischen Donnerstag und Sonntag in die Nacht verlagert hat. Zwischen 22 und 5 Uhr kommt es am häufigsten zu Gewalttaten.

Als Folge dieser Entwicklung erhöht die Polizei in vielen Städten ihre Präsenz im Umfeld von Clubs und anderen Hotspots (Brennpunkten, an denen es erfahrungsgemäß besonders häufig zum Ausbruch von Gewalt kommt). Gewisse Städte diskutieren, allerdings kontrovers, auch repressive Maßnahmen wie Ausgehverbote für Jugendliche oder das Verbot des Alkoholkonsums im öffentlichen Raum nach amerikanischem Vorbild. Zudem wird versucht, den Jugendlichen sinnvolle Aktivitäten anzubieten, die ihrem Lebensrhythmus entsprechen, zum Beispiel Basketball-Mitternachtsturniere. Damit werden auch Jugendliche erreicht, welche die teuren Preise in den Clubs nicht bezahlen können und sich ohne kostengünstige Angebote im öffentlichen Raum nicht aufhalten würden.

Die Zunahme von gewalttätigen Auseinandersetzungen an den Hotspots der Zentren sind nicht zwingend Ausdruck einer generellen Zunahme der Gewaltbereitschaft von Jugendlichen. Die Gewaltbereitschaft in der Schule zum Beispiel hat in den vergangenen Jahren nicht mehr zugenommen, sondern ist vielerorts sogar zurückgegangen.

Fazit

Die neuen elektronischen Kommunikationsmöglichkeiten beeinflussen das Gewaltverhalten der Jugendlichen nachhaltig, denn Jugendkriminalität ist nicht nur von der Persönlichkeit der Jugendlichen abhängig, sondern auch von der Situation, in der sie sich befinden. Wo es mehr Konfliktpotenzial gibt, gibt es mehr Konflikte.

Mobiltelefonie und soziale Plattformen im Internet ermöglichen eine Machtausübung, die weit in die Privatsphäre hineinreicht. Dadurch werden Jugendliche verletzlicher.

Viele Jugendliche wissen nicht, dass sie sich durch ihre Aktivitäten mit dem Mobiltelefon und im Internet strafbar machen können.

Die Jugendlichen leben heute in einer Welt, in der die Nacht zum Tag gemacht wird. Die Wochenendpartys dauern immer länger und finden immer öfter in großen Städten statt, während sich kleinere Städte nachts entleeren. Dadurch verschieben sich auch die Gewaltdelikte zunehmend in die Zentren der Freizeitkultur.

»Heiße« und »kalte« Gewalt

Fall 1: Auf der Party zum Abschluss des Schuljahres an einer großen Realschule in Süddeutschland herrschte eine fröhliche Stimmung. Aufgrund negativer Erfahrungen in früheren Jahren sorgte ein privater Sicherheitsdienst dafür, dass keine alkoholischen Getränke mit auf die Party gebracht wurden. Manuel (15) ließ es jedoch drauf ankommen. Er hatte mit zwei Klassenkameraden vor dem Fest eine Flasche Wodka gekauft und bereits vor der Feier davon getrunken, sodass er sich leicht angeheitert zur Türkontrolle begab und wiederholt vergeblich versuchte, die noch zu drei Vierteln gefüllte Wodkaflasche hineinzuschmuggeln. Nach mehreren erfolglosen Anläufen beschimpfte Manuel den Türsteher und griff ihn an. Es kam zu einem Gerangel, bei dem Manuel ein Messer aus der Hosentasche zog und den Türsteher damit lebensgefährlich verletzte.

Fall 2: Gabriel (16,5) wurde vor einem Jahr wegen massiver disziplinarischer Probleme vorzeitig aus der Schule entlassen und ist seither beschäftigungslos. Er wird von einer Psychologin betreut, verfügt aber über keine Tagesstruktur. Die meiste Zeit verbringt er mit – wie er es nennt – »Herumhängen« in einem Einkaufszentrum und in der Umgebung eines Bahnhofs. Vor Kurzem hat er sich einer »Gang« angeschlossen, deren Ziel es ist, durch Raubüberfälle und Einbrüche Geld zu beschaffen. Als sie für einen geplanten Werkstatteinbruch in einem Industrieviertel ein Auto brauchen, begeben sie sich zu einem Waldrand, wo geparkte Autos von Spaziergängern zu stehen pflegen. Sie warten auf ein ankommendes Auto und entreißen der aussteigenden Fahrerin den Schlüssel. Gabriel sticht ihr mit seinem mitgeführten Schmetterlingsmesser in die Herzgegend. Er habe das gemacht, »um keine Zeugen zu hinterlassen«, wird Gabriel später auf dem Polizeirevier die unnachvollziehbare Anwendung von Gewalt rechtfertigen.

Wir erkennen sofort, dass die Dynamik dieser beiden Messerstechereien völlig unterschiedlich ist. Im ersten Fall fühlte sich Manuel vom Türsteher ertappt, bloßgestellt und bedroht, auch wenn die Provokation ursprünglich von ihm ausging. Im zweiten Fall war die Gewaltanwendung von Anfang an geplant oder wurde zumindest bei der Planung der Tat in Kauf genommen. Gabriel handelte überlegt und zielbewusst, ohne moralische Skrupel.

Aufgrund ihrer Entstehung und ihrer Dynamik werden aggressive Handlungen traditionellerweise in zwei Gruppen eingeteilt: Die impulsive oder reaktive Gewalt entsteht aufgrund einer tatsächlichen oder vermeintlichen Bedrohung. Wer sich gegen einen Angriff oder eine Provokation wehrt, reagiert in der Regel unüberlegt, spontan und planlos. Die Täter sind bei der Gewalthandlung körperlich erregt, haben einen roten Kopf, weite Pupillen, geschwollene Halsvenen, einen hohen Blutdruck und einen beschleunigten Puls. Während ihrer aggressiven Handlung können sie nicht mehr klar sehen, sondern sehen alles wie durch einen Tunnel, nehmen nur noch ihren tatsächlichen oder vermeintlichen Gegner wahr und verlieren den Überblick über die Situation. Ihr Ziel ist es, dem Opfer Schmerzen zuzufügen, es widerstandsunfähig zu machen. Im Nachhinein schämen sie sich aber wegen ihres Verhaltens, an das sie sich oft nur noch bruchstückhaft erinnern können.

Reaktive Gewalthandlungen werden durch alles gefördert, was enthemmt: Alkohol, Drogen, Einfluss von Menschenmassen, Anonymität, mangelnde Fähigkeit zur Selbstkontrolle. Vorherrschende Gefühle sind Ärger und Wut. Häufigste Ursachen von reaktiver Gewalt sind Zurückweisung, Eifersucht, Partnerschaftskonflikte und soziale Ausgrenzung.

Jugendliche, die zu reaktiver Aggression neigen, haben typischerweise Mühe, ihre Gefühle auszudrücken und eigene Bedürfnisse zu formulieren. Sie sind oft pessimistisch, beziehen alles auf sich selber und neigen dazu, Bemerkungen auch dann persönlich zu nehmen, wenn sie nicht so gemeint sind. Sie können schlecht Spannungen aushalten.

Die instrumentelle Gewalt wird hingegen geplant eingesetzt, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Die Gewalt ist hier »nur« Mittel zum Zweck. Ein Beispiel dafür ist der bewaffnete Raubüberfall, bei dem die Erbeutung von Geld und nicht die Verletzung des Bankangestellten das Ziel ist. Instrumentelle Gewalthandlungen werden in der Regel geplant. Während der Tat sind die Täter nicht aufgeregter als Studenten bei einer Prüfung. Viele erscheinen »cool«, beherrscht, ja kaltblütig. In der Fußballsprache könnte instrumentelle Gewalt mit einem taktischen Foul verglichen werden. Instrumentell-aggressives Verhalten wird in der Kindheit und Jugend erlernt und verstärkt, wenn es zum Erfolg oder zu sozialem Prestige führt. Häufigste Motive für instrumentelle Gewalt sind materielle Vorteile, Erreichen eines sozialen Status und Beziehungskonflikte.

Die meisten Täter zeigen nur wenig oder keine Bereitschaft, ihr Verhalten zu ändern. Sie haben kaum tiefere Schuldgefühle, keine Reue und nur selten Angst vor Strafe. Oft sind sie auf den ersten Blick kontaktfreudig und charmant. Es fehlt ihnen aber die Fähigkeit zu einer tieferen, emotional befriedigenden Beziehung.

Eine besondere Form der instrumentellen Gewalt ist die appetitive Gewalt. Sie dient nicht – wie die reaktive Gewalt – der tatsächlichen oder vermeintlichen Selbstverteidigung, sondern der Lustbefriedigung. Appetitive Gewalt ist also das Ausüben von Gewalt oder das Zufügen von Leid zum Vergnügen des Täters. Dies kann zum Beispiel bei Sexualstraftätern der Fall sein, aber auch bei Jugendlichen, die lustvoll eine Asylunterkunft in Brand setzen und sich am Leiden der Asylbewerber ergötzen. Auch Schlägereien im öffentlichen Raum können eine appetitive Komponente haben. Das war zum Beispiel im Mai 2009 der Fall, als am Bahnhof Kreuzlingen drei Jugendliche ohne Provokation oder Vorgeplänkel zwei andere Jugendliche angefallen, diese massiv verprügelt und sich anschließend lachend entfernt hatten. Auf dem Film der festinstallierten Überwachungskamera war klar zu erkennen, dass die Schlägerei den Jugendlichen Spaß gemacht hat, ein anderes Motiv für den Angriff gab es nicht. Das Video wurde von der Polizei im Internet veröffentlicht, worauf die Täter rasch gefasst werden konnten.

Fazit

Reaktive Gewalt entsteht bei tatsächlichen oder gefühlten Bedrohungen oder bei sozialen Ausgrenzungen. Bei den Tätern besteht Leidensdruck. Hintergrund ist eine ungenügende Fähigkeit, Bedürfnisse aufzuschieben und Konflikte verbal zu lösen.

Instrumentelle Aggression ist im Wesentlichen ein erlerntes Verhalten. Je mehr die Täter in ihrem Verhalten bestätigt werden, desto mehr verfestigt sich ihr Verhalten.

Appetitive Aggression ist eine besondere Form der instrumentellen Aggression. Sie entsteht dann, wenn das Leiden der Opfer zu einem Lustgewinn beim Täter führt. Bei Sexualstraftätern ist appetitive Aggression ein prognostisch ungünstiges Zeichen.

Amok an Schulen

Der Begriff »Amok« stammt ursprünglich aus der malaiischen Sprache. Im indonesischen Kulturkreis war mit »meng-âmok« eine kriegerische Aktion gemeint, bei der wenige Krieger den Feind spontan und blindwütig attackierten, um dadurch die Schlacht zu gewinnen. Insofern ist der Begriff »Amok«, wie er heute landläufig Verwendung findet, eigentlich falsch, da er für Taten benutzt wird, die keinesfalls plötzlich und unvorhersehbar erfolgen. Vielmehr wissen wir heute, dass solch schwere und zielgerichtete Gewalttaten immer den Endpunkt eines längeren Entwicklungsweges darstellen. Oft deuten die Täter ihre Tatpläne an, was als »Leaking« (Durchsickern) bezeichnet wird.

»Amok« ist ein – leider – sehr medienwirksames Label, unter dem verschiedene Formen von Mehrfachtötungen verstanden werden, die sich teilweise ganz unterschiedlich darstellen. Im Erwachsenenbereich gibt es Rachetaten aus Groll auf den Staatsapparat wie zum Beispiel bei der Tat vom 27. September 2001 in Zug, bei der während einer Sitzung des Kantonsrates im Parlamentsgebäude 14 Politiker erschossen wurden.

Es gibt aber auch Rachetaten am Arbeitsplatz oder bei sogenannten »Familienauslöschungen«, wobei die meist männlichen Täter aus gemischten Motiven von Liebe, Hass, Groll und Rache sich und ihre Familien töten. In diesem Zusammenhang wird auch von einem »erweiterten Suizid« gesprochen. Andere Motivgrundlagen finden sich bei Tätern mit religiösen, ideologischen und fanatischen Einstellungen. Zu unterscheiden sind hierbei Selbstmordattentate terroristischer Gruppierungen und fanatisch verblendete Einzeltäter wie bei den Anschlägen in Norwegen (Oslo und auf der Insel Utøya) am 22. Juli 2011. Nicht zuletzt gibt es auch psychotische Täter, die ihre Tat in einem wahnhaften, paranoiden Zustand begehen.

Die Begriffe »Amokläufe an Schulen« und »Schulmassker« werden häufig synonym verwendet. In der wissenschaftlichen Literatur haben sich die Begriffe »schwere zielgerichtete Gewalt an Schulen« und »School Shooting« durchgesetzt, wenngleich nicht alle Taten mit Schusswaffen begangen werden. School Shootings sind ein seltenes Sonderphänomen der Jugendgewalt. Die Wut und Rachepläne der Täter richten sich oft gegen diejenige Personengruppe, welche angeblich die Hauptschuld an ihrem Elend trägt, nämlich die Schule. Das Aufkommen der Schulmassaker zeigt, dass die Schule im Denken dieser jungen Täter offensichtlich eine derart zentrale Stellung einnimmt, dass sie für Erfolg und Misserfolg vollumfänglich verantwortlich gemacht wird. Grundsätzlich sind aber auch Taten in anderen Kontexten denkbar, wie zum Beispiel im Ausbildungsbetrieb, an der Universität oder bei Freizeitanlässen. Amokläufe an Schulen sind aber am besten untersucht, weshalb sie hier exemplarisch für andere Tatkontexte stehen.

School Shootings kommen weltweit seit den 1990er-Jahren gehäuft vor. Ab 2001 gab es jedes Jahr mehrere solcher Taten, zuerst aber nur in den USA. Am 26. April 2002 ereignete sich der erste Fall mit mehreren Opfern in Deutschland, in Erfurt. Der 19-jährige Amokschütze (auf die Nennung von Namen wird bewusst verzichtet) erschoss damals zwölf Lehrer, eine Sekretärin, zwei Schüler und einen Polizisten. Anschließend tötete er sich selbst. Andere Taten folgten und richteten unendliches Leid an, wobei neben den Todesopfern und deren Angehörigen oft die zahlreichen Verletzten und traumatisierten Menschen vergessen werden.

Die Täter von School Shootings sind ganz anders als die »typischen« gewaltbereiten Jugendlichen, die durch »heiße«, impulsive Aggression, Schlägereien und andere Delikte auffallen. Gemäß wissenschaftlichen Untersuchungen sind diese jungen, ca. 14- bis 25-jährigen Amoktäter in den allermeisten Fällen männlich und haben praktisch nie einen Migrationshintergrund. Sie stammen meist aus gut situierten Mittelstandsfamilien, in denen eine klassische Rollenverteilung der Eltern besteht; die Mutter ist häufig Hausfrau, der Vater ist arbeitsbedingt oft abwesend. Nach außen hinterlassen diese Familien meist einen unauffälligen, »normalen« Eindruck. Alkohol, Drogen und Gewalt kommen in diesen Familien so gut wie nicht vor. Es herrscht aber ein emotional distanziertes familiäres Klima, man lebt quasi nebeneinander her. Dieses emotionale Bindungsdefizit mag unter anderem ein Grund für das spätere Empathiedefizit der Täter sein.

In der Familie haben diese Jungen oft eine Sonderrolle. Sie sind »irgendwie« anders als ihre Geschwister, stören aber auch nicht, da sie eher ruhig und zurückgezogen sind. Im Gegensatz zu lauten und unbequemen Kindern bekommen diese Kinder eher wenig Aufmerksamkeit. Die Eltern verhalten sich ihnen gegenüber aber nicht »böse«, sondern begegnen ihrer Andersartigkeit eher mit passiver Hilflosigkeit. Sie wissen oder ahnen, dass ihr Sohn psychische Probleme hat, unternehmen aber nichts. Die Väter dieser Jungen haben meist Waffen im Haus, weil sie Jäger oder Sportschützen sind.

In der Schule haben diese Jungen trotz normaler Intelligenz oft Konzentrations- und Leistungsprobleme, leben in ihrer Fantasiewelt, geben aber auch teilweise zu disziplinarischen Problemen Anlass. Sie sind eher still, zurückgezogen und ängstlich gegenüber Gleichaltrigen. Oft haben sie Kontakt- und Kommunikationsprobleme, zeigen Defizite in der sozialen Kompetenz und gelten unter den Mitschülern als Außenseiter und Sonderlinge. Sie sind Einzelgänger, bekommen keine Anerkennung von Gleichaltrigen und fühlen sich in der Klasse gemobbt. Gleichzeitig grenzen sie sich aber auch selber von ihren Mitschülern ab, indem sie diese meiden oder ignorieren.

Gegenüber Mädchen sind sie schüchtern und ungeschickt. Ihre sexuellen Fantasien hingegen sind oftmals von Omnipotenzvorstellungen, Vergewaltigungs- und sadistischen Fantasien geprägt. Die Täter fühlen sich einsam und fremd in ihrer sozialen Umwelt, von der Welt betrogen und persönlich gekränkt, wobei meist eine narzisstische Persönlichkeitsstruktur im Hintergrund steht. Diese ist durch ein labiles Selbstwertgefühl, Selbstsüchtigkeit sowie einen Mangel an Empathiefähigkeit und Mitleid gekennzeichnet und erreicht trotz des jungen Alters der Täter oftmals das Ausmaß einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Diese Jugendlichen wissen meist, dass etwas mit ihnen nicht stimmt.

Depressive Phasen und Phasen von starken Hass- und Rachefantasien lösen sich gegenseitig ab. Der Amokschütze von Winnenden und Wendlingen (11.3.2009) soll ca. ein Jahr vor seiner Tat seine Mutter gefragt haben, ob er »manisch-depressiv« sei. Mit ihren Ängsten und Problemen fühlen sich diese Jungen oftmals allein gelassen, auch in der Familie. Solche Jugendlichen beschäftigen sich mit monströsen Gewalt- und Tötungsfantasien, in der Annahme, damit ihre eigenen Probleme lösen zu können. Während die oft eher schmächtigen, unsportlichen und selbstwertschwachen Täter körperliche Auseinandersetzungen im realen Leben meiden, identifizieren sie sich in ihren narzisstisch gefärbten Gewalt- und Größenfantasien mit hasserfüllten Rächerfiguren zum Beispiel aus Filmen wie »Natural Born Killers«, »Taxi Driver« etc. Oft entwickeln sie ein starkes Interesse für das Militär, für Hitler und das Dritte Reich. Sie suhlen sich in einer misanthropischen, düsteren Weltsicht und sind fasziniert vom Tod und der Vernichtung »unwerten« Lebens, wobei sich ihr Hass nicht nur gegen Randgruppen, sondern meist gegen die ganze Menschheit richtet.

Als besonderes Merkmal zeigen diese Jugendlichen oft eine Affinität zu Waffen. Durch die Beschäftigung mit Waffen und die Befähigung, diese bedienen zu können (oft durch die Väter gefördert), erleben die narzisstisch-selbstwertschwachen Täter Gefühle von Macht, Männlichkeit und Unbesiegbarkeit. Das Zimmer dieser oft zurückgezogenen Jungen zeugt häufig von ihrer destruktiven Fantasiewelt. Dies kann sich beispielsweise in Waffendarstellungen oder anderen Arten von Gewaltverherrlichung und Heldentum auf Postern an den Wänden zeigen.

Auffallend oft haben die Täter ein Faible für die Farbe Schwarz in ihren Zimmern und bei ihrer Kleidung. In martialischen Selbstdarstellungen auf Fotos oder in Videos, die sie auf Internet-Plattformen wie YouTube hochladen, stellen sich diese Jungen oft mit einer Schusswaffe ausgerüstet und in schwarzer Kleidung dar. Hierbei werden oft nicht nur Rächerfiguren aus Filmen kopiert, sondern auch frühere Amoktäter, mit denen sich die Jungen mehr und mehr anfangen zu beschäftigen und zu identifizieren. Sehr häufig fungieren hierbei die Täter des School Shootings an der Columbine High School vom 20. April 1999 als Vorbilder. So finden sich zum Beispiel beim Amokschützen von Emsdetten (20.11.2006), aber auch bei anderen deutschen Tätern deutliche Parallelen zur Tat von Columbine.

Da solche Gräueltaten stets ein gigantisches Medienecho auslösen, findet der interessierte Jugendliche problemlos riesige Mengen an Hintergrundinformationen und Bildmaterial im Internet. School Shooter gelangen zu großem »medialem Ruhm«, der auf Nachahmungstäter einen starken Sog ausübt. In der Fantasie geht es sogar darum, den Ruhm der Vorgänger noch zu übertrumpfen. Hierbei wird stets auch der eigene Suizid als »grandioser Abgang« mit einkalkuliert. Nach jedem School Shooting sind Nachahmungstaten beziehungsweise entsprechende Drohungen zu befürchten. Häufungen gibt es auch an Jahrestagen medienwirksamer School Shootings.

Es ist nicht zu unterschätzen, wie groß die Fangemeinde von Amokläufern im Internet ist. So finden potenzielle Amoktäter in verschiedensten Chat-Foren oder Websites wie zum Beispiel www.wekillemall.org immer wieder Gleichgesinnte, durch die sie Verständnis und Zuspruch für ihre misanthropische Weltsicht und ihre Amokfantasien bekommen, dies bei gegebener Anonymität. Anfangs noch ambivalente Täter fühlen sich dadurch in ihrem Vorhaben bestärkt und legitimiert. Das Internet bietet also sowohl »unsterblichen« medialem Ruhm als auch die Möglichkeit, sich in der eigenen destruktiven Weltsicht und bei Amokplänen von anderen bestärken zu lassen – Gründe, die womöglich mitverantwortlich für die Zunahme solcher Taten in den letzten Jahren sind. Der Täter des Schulmassakers im finnischen Ort Jokela (7.11.2007) zum Beispiel hatte nachweislich Kontakt zu einem 14-jährigen USAmerikaner, der seine eigene Tat in Philadelphia zum gleichen Zeitpunkt durchführen wollte. Der amerikanische Jugendliche wurde aber im August 2007 festgenommen, nachdem er seine Tat angekündigt hatte.

Einige junge Amoktäter haben Cannabis konsumiert, insgesamt spielen Suchtmittel bei dieser Tätergruppe aber eine untergeordnete Rolle. Viele School Shooter spielen aber Ego-Shooter (sogenannte Baller- oder Killerspiele), in denen sie ihre Gewalt- und Tötungsfantasien ausleben können. Ein gewaltbereiter und empathieloser Jugendlicher kann bei solchen Games stundenlang trainieren, wie man strategisch am besten Gebäude und darin befindliche Räume betritt, um möglichst viele Menschen zu töten. Zudem kann er im Spiel das Zielen und Treffen perfektionieren. Die auffallend häufigen Kopfund Brusttreffer, die beispielsweise der Amokschütze von Winnenden und Wendlingen seinen Opfern zufügte, scheinen von dieser jahrelang geübten Treffsicherheit zu zeugen. Während für viele psychisch gesunde Jugendliche solche Spiele unproblematisch sind, werden sie für den empathielosen, narzisstischen und hasserfüllten potenziellen Amoktäter zu einem Tötungstraining.

Zielgerichtete Gewalt an Schulen geschieht nie aus heiterem Himmel, sondern entwickelt sich schon lange vor der eigentlichen Tat in sich steigernden Phasen von narzisstischer Kränkung, Frustration, Rache- und Tatfantasien, Todeslisten, Tatplanung und Vorbereitungshandlungen – bis hin zur Tat selbst. Immer wieder deuten die Täter ihre Tatpläne an, wobei es sich lange Zeit noch nicht um konkrete Drohungen handeln muss, sondern zunächst um wiederholte menschenverachtende Äußerungen oder Ähnliches. So stellte zum Beispiel der finnische Amokschütze von Jokela Videos von sich ins Internet, in denen er ein T-Shirt mit der Aufschrift »humanity is overrated« (»die Menschheit/Menschlichkeit wird überbewertet«) trug. Andere School Shootings mit ihren oft jahrelangen Tatplanungen haben, allen voran jenes in Columbine, eine starke Vorbildwirkung. Die intensive Beschäftigung mit solchen Taten, die Bewunderung der Täter und das Verständnis für deren Motive sind oft Frühwarnzeichen, die auf andere Menschen, zum Beispiel Mitschüler, mindestens sonderbar, irgendwann aber auch furchteinflößend wirken. Auch die ausgeprägte Faszination für Waffen kann ein solches Frühwarnzeichen sein. Lehrer bemerken die Probleme dieser Schüler oft zu wenig, weil sie zwar merkwürdig wirken, aber ansonsten nicht weiter stören.

Die Täter schwelgen oft lange Zeit in der Planung ihrer Tat, bei der sie sich die Massentötung als infernalen Akt mit grandiosem Abgang und unsterblichem medialen Ruhm in der Nachwelt vorstellen. Ihre Größenfantasien und Todeslisten können die Täter dann bei der eigentlichen Tat meist nicht realisieren. Hat das gezielte Töten einmal begonnen, ist der »point of no return« überschritten. Es entwickelt sich eine Eigendynamik, bei der der Täter schließlich wahllos auf jeden schießt, der ihm in den Weg kommt, in der festen Annahme, nichts mehr zu verlieren zu haben. Alle polizeilichen Interventionen während der Tat müssen daher darauf abzielen, den Täter so schnell wie möglich kampfuntauglich zu machen, und zwar mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln. Noch viel wichtiger ist es aber, solche Taten zu verhindern.

Prävention

Besonders wichtig zur Verhinderung solcher und anderer Taten ist die Erkenntnis, dass schweren Gewalttaten nahezu immer erkennbare Warnsignale vorausgehen. Es handelt sich zum Beispiel um bestimmte Äußerungen oder Verhaltensmuster des potenziellen Täters, die eine stufenweise Entwicklung hin zu einem Gewaltakt charakterisieren. Das frühzeitige Erkennen dieser Signale und die dank einer richtigen Einschätzung getroffenen Maßnahmen können nicht nur School Shootings, sondern auch andere zielgerichtete Gewalttaten, zum Beispiel Tötungsdelikte im Rahmen von häuslicher Gewalt oder Gewaltdelikte von Stalkern, verhindern.

Im Schweizer Kanton Solothurn wurde zu diesem Zweck 2013 ein kantonales Bedrohungsmanagement in Form eines fach- und institutionsübergreifenden Teams und Netzwerks eingerichtet. Ziel dieses Bedrohungsmanagements ist das Erkennen, Einschätzen und Entschärfen eines bedrohlichen Gewaltpotenzials. Im Zentrum des Bedrohungsmanagements steht ein interdisziplinäres Kernteam mit Vertretern aus Polizei, Rettungsdienst, forensischer Psychiatrie und Psychologie, Sozialarbeit sowie Straf- und Maßnahmenvollzug. Geleitet wird das Kernteam von einer Fachverantwortlichen der Kantonspolizei.

Hintergrund dieses Netzwerk-Ansatzes ist, dass das Wissen um bedrohliches Verhalten zwar oft an verschiedenen Orten vorhanden ist, meist aber weder ausgetauscht noch professionell ausgewertet wird. Im Nachgang zu schweren, zielgerichteten Gewaltdelikten zeigt sich nämlich fast immer, dass der Täter irgendwem, irgendwann durch bestimmte Äußerungen oder Verhaltensweisen aufgefallen ist. Im Kanton Solothurn können nun entsprechende Informationen bei der Kantonspolizei gesammelt und ans Bedrohungsmanagement weitergeleitet werden. Dabei spielt es keine Rolle, ob sich die Bedrohung gegen Vertreter von Behörden oder gegen Privatpersonen richtet. Für Behörden und Heilpersonen wurde sogar ein Melderecht an die Kantonspolizei gesetzlich verankert, das für Personen gilt, bei denen möglicherweise eine erhöhte Gewaltbereitschaft vorliegt.

Auch wenn Kritiker monieren, das Bedrohungsmanagement sei eine hilflose Reaktion der Behörden auf die Nulltoleranz-Stimmung in der Bevölkerung, steht der Netzwerk-Ansatz des Solothurner Bedrohungsmanagements nicht allein da. Ähnliche Projekte gibt es auch in Deutschland, zum Beispiel das Berliner Leaking Projekt. Ein gewisses Dilemma bei solchen Netzwerk-Ansätzen stellt das Thema Datenschutz dar. Die Möglichkeit zum Datenaustausch ist aber bei der Prävention von schweren Gewalttaten unerlässlich. Datenschutz darf nicht als Täterschutz fungieren. Gleichzeitig darf eine Aufweichung des Datenschutzes – wie sie zum Beispiel beim Solothurner Bedrohungsmanagement gesetzlich verankert wurde – nicht zu einer Stigmatisierung potenzieller Täter führen.

Da das Medienecho schwerer Gewalt- und Amoktaten auf potenzielle Nachahmungstäter einen starken Sog ausübt, sollten bestimmte Publikationsrichtlinien beachtet werden. Die Menge und Intensität des Medienausstoßes sollte gering gehalten werden. Es sollten keine Fotos oder Namen des Täters/ der Täter erscheinen; stattdessen sollten die Folgen für die Opfer und deren Angehörige dargestellt werden. Es sollten keine Details zum Tathergang, zu Kleidung, und zu Waffen publiziert werden. Auch auf die Darstellung von Fantasien und Motiven der Täter sowie auf emotionales Bildmaterial (Tagebuchauszüge, Videos, Zeichnungen etc.) sollte verzichtet werden, um keine Romantisierungen oder Heldengeschichten entstehen zu lassen.

In den Fällen, in denen auf schwere Drohungen keine Gewalttat folgte, kann dies oft schlicht daran gelegen haben, dass die Täter keinen Zugang zu Waffen hatten. Bei den Fällen hingegen, die mehrere Todesopfer forderten und unvorstellbares Leid anrichteten, waren meist Schusswaffen im Spiel. Der Zugang zu Waffen sollte daher – gerade auch für junge Menschen – erschwert werden.

In Bezug auf School Shootings sind weitere Präventionsansätze auf verschiedenen Ebenen sinnvoll.

Wichtig ist der Aufbau interdisziplinärer Netzwerke, in denen die Schulen bei schwer abzuschätzenden Gewalt- oder Suizidabsichten mit Eltern, Präventions- und Jugendbeamten der Polizei, Vertretern der Kindsschutzbehörden, Vertretern des schulpsychologischen Dienstes, des Kinderund Jugendpsychiatrischen Dienstes und anderen Fachstellen zusammenarbeiten. Das Risiko sollte möglichst interdisziplinär eingeschätzt werden. Durch die gemeinsame Erarbeitung von Notfall- und Kriseninterventionsplänen und die Bildung von Krisenteams können die Schulen in Notfällen handlungsfähig bleiben.

Gutes Schulklima: Schulen sollten eine klare Niedrig-Toleranz gegenüber gewaltsamen Konfliktlösungen vorleben. Es sollte eine offene Kommunikationskultur an der Schule herrschen, damit »Leaking« gemeldet werden kann. Den Wahrnehmungen von Lehrpersonen und Schülern sollte dabei ein hohes Gewicht gegeben werden. Gerade Mitschüler nehmen Äußerungen und Verhaltensauffälligkeiten ihrer Schulkameraden sensibel wahr. Ihre Wahrnehmungen sind daher sehr relevant und sollten bei der Abklärung einer Gefahr miteinbezogen werden. Auch eine Einbindung von Schülern in unterstützende Maßnahmen ist sinnvoll. Nicht jeder Jugendliche mit einem »typischem Profil« plant ein Schulmassaker. Jugendliche, die durch Amokdrohungen aufgefallen sind, sollten nicht stigmatisiert oder ausgegrenzt werden. Vielmehr sollten Bemühungen um die soziale Integration solcher Schüler im Vordergrund stehen.

Frühprävention: Bevor es zu Drohungen und bedrohlichem Verhalten kommt, fallen potenzielle School Shooter – anders als aggressive, impulsive Schüler – durch soziale Ängste, sozialen Rückzug, Kontaktschwierigkeiten und Konzentrationsstörungen auf. Dadurch kommt es bereits früh zu Leistungsproblemen in der Schule. Unabhängig von Drohungen ist zu überlegen, den stillen Schülern mit ihren spezifischen Problemen mehr Aufmerksamkeit in der Schule zu widmen, um eine positive Persönlichkeitsentwicklung zu fördern und destruktiven Entwicklungen vorzubeugen. Hierfür sollten auch niederschwellige Beratungsangebote geschaffen werden. Nicht zuletzt ist es bei Jugendlichen wichtig, Schulerfolg und Selbstwertgefühl voneinander zu entkoppeln, indem auch außerschulische Aktivitäten anerkannt und honoriert werden.

In der Aus- und Fortbildung von Lehrpersonen sollten der Umgang mit Drohungen und Gewalt sowie die Themen »gutes Schulklima« und »Frühprävention« mehr Gewicht erhalten.

Eltern können viel tun, um destruktive Entwicklungen ihrer Kinder zu verhindern, weil sie Schwierigkeiten früh feststellen können. Eltern und Schule können sich durch ein konstruktives Miteinander gegenseitig stärken und dadurch die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder und Jugendlichen fördern.

Die Polizei ist in Zusammenarbeit mit anderen Experten die entscheidende Präventionsinstanz. Mit polizeilichen Vernehmungen und Hausdurchsuchungen (z. B. nach Waffen) kann bei potenziellen Amoktätern rasch und erfolgreich eine Gefahrenabklärung erfolgen. Man sollte aber bedenken, dass diese mit Umsetzungsabsichten oftmals verdeckt und über einen längeren Zeitraum drohen und eher durch ihr sonderbares Verhalten als durch offene Drohungen auffallen.

Justiz (Staatsanwaltschaft und Jugendstaatsanwaltschaft): Bei konkreten Hinweisen auf ein Bedrohungspotenzial ist die durch die Staats- oder Jugendstaatsanwaltschaft in Auftrag gegebene Durchsuchung der Zimmer und Computer potenzieller Täter wesentlich für die Aufklärung. Die Justiz spielt auch eine wichtige Rolle bei der Verurteilung und der Anordnung von Strafen und Maßnahmen bei ernsthaft drohenden Jugendlichen.

Forschung: Es besteht weiterer Forschungsbedarf, der nicht nur die Datenbasis verbessern, sondern auch wirksame Interventionsmöglichkeiten bei mit Amok drohenden Schülern mit Verhaltens- und psychischen Auffälligkeiten untersuchen soll.

Fazit

School Shootings haben in den letzten 20 Jahren zugenommen.

Zielgerichtete Gewalt an Schulen erfolgt nie aus heiterem Himmel, sondern entwickelt sich schon lange vor der eigentlichen Tat in sich steigernden Phasen von narzisstischer Kränkung, Frustration, Rache- und Tatfantasien, Todeslisten, Tatplanung und Vorbereitungshandlungen – bis hin zur Tat selbst.

Oft deuten die Täter ihre Tatpläne schon lange vor der Tat wiederholt an, was als »Leaking« (Durchsickern) bezeichnet wird.

Die Täter von School Shootings sind ganz anders als die »typischen« gewaltbereiten Jugendlichen. Sie sind eher still und zurückgezogen, haben Kontakt- und Kommunikationsprobleme, zeigen Defizite in der sozialen Kompetenz und gelten unter den Mitschülern als Außenseiter und Sonderlinge.

Sie zeigen eine menschenverachtende Grundhaltung und eine narzisstische Persönlichkeitsstruktur.

Meist haben sie eine Affinität zu brutaler Gewalt in Filmen, Spielen und Musik sowie eine Faszination für Waffen.

Der »Ruhm« von Amoktätern in den Medien und im Internet begünstigt Nachahmungstaten. Daher sollten in der Medienberichterstattung die Opfer und ihre Angehörigen und nicht die Täter im Mittelpunkt stehen.

Präventionsansätze sollten auf einer interdisziplinär vernetzten Ebene stattfinden.

Wichtigste Erkenntnis für die Prävention ist, dass schweren, zielgerichteten Gewalttaten nahezu immer erkennbare Warnsignale vorausgehen. Das frühzeitige Erkennen dieser Signale und die dank einer richtigen Einschätzung getroffenen Maßnahmen können nicht nur School Shootings, sondern auch andere zielgerichtete Gewalttaten, zum Beispiel Tötungsdelikte im Rahmen von häuslicher Gewalt oder Gewaltdelikte von Stalkern, verhindern.

Nicht jeder Jugendliche mit einem »typischem Profil« plant ein School Shooting. Jugendliche, die durch Amokdrohungen aufgefallen sind, sollten nicht stigmatisiert werden. Vielmehr sollten Bemühungen um die soziale Integration solcher Schüler im Vordergrund stehen.

Junge Sexualstraftäter

Fallbeispiele

Die unglaubliche Begebenheit spielte sich in einer österreichischen Kleinstadt ab. Zwei 13-jährige Jungen lockten einen 7-jährigen Nachbarsbuben und dessen 5-jährige Schwester mit Süßigkeiten in eine Waldlichtung in der Nähe des Elternhauses. Dort verkündeten die beiden Jungen den verdutzten Kindern: »Wir zeigen euch jetzt, wie man bumst.« Dann vergewaltigte einer der Jungen das Mädchen anal, während der andere ihren Bruder festhielt. Als das Mädchen zu Hause wegen Durchfalls auffiel, erzählte der Bruder seiner Mutter von dem Vorfall.

In einer anderen Stadt wurde ein 13-jähriges Mädchen von 13 Jugendlichen im Alter zwischen 15 und 18 Jahren mehrfach vergewaltigt. Die Taten wurden jeweils von den anderen Jugendlichen mit dem Mobiltelefon gefilmt. Ein Vorfall ereignete sich im Beisein des 15-jährigen Freundes des Opfers in der Wohnung eines 18-jährigen Mittäters. Der Freund soll bei den Übergriffen sogar eine führende Rolle gespielt haben. Einige der Täter waren der Polizei bereits wegen anderer Delikte, unter anderem eines Raubes, bekannt.

Häufigkeit

Sexualstraftaten machen zwar nur rund 2 Prozent der von unter 17-Jährigen begangenen Delikte aus, die zur Anzeige gelangen. 2011 wurden von der Polizeilichen Kriminalstatistik des Bundeskriminalamtes Wiesbaden im deutschen Bundesgebiet 33 556 Fälle von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung erfasst. Davon wurden 1208 Taten von unter 14-Jährigen und 3926 Taten von 14- bis 18-Jährigen verübt. Diese Zahlen bilden aber nur die Spitze eines Eisberges ab, weil die Dunkelziffer in diesem Bereich aus verschiedenen Gründen sehr hoch ist. Viele Opfer schrecken vor dem Gang zur Polizei zurück, sei es aus Scham, sei es, weil sie befürchten, dass man ihnen ohnehin nicht glaubt. Eine Strafanzeige ist für die Opfer mit vielen Unannehmlichkeiten verbunden, weil es bei Sexualdelikten meistens keine Zeugen gibt, sodass die Beweislage schwierig und die polizeilichen Ermittlungen langwierig sind. Ein Hinweis auf die Größe der Dunkelziffer lässt sich einer Untersuchung bei den Rekruten der Schweizer Armee entnehmen (Haas, 2000). Diese Untersuchung ergab, dass 14 Prozent der 20-jährigen Wehrpflichtigen gemäß eigenem Bekunden innerhalb des Jahres vor der Befragung einen sexuellen Übergriff (Belästigung, Exhibitionismus, Vergewaltigung) begangen haben.

Obwohl die Gesamtheit der sexuellen Übergriffe in den vergangenen Jahren sogar leicht zurückgegangen ist, zeichnet sich bei den Sexualstraftaten sehr junger Täter eine beunruhigende Entwicklung ab. Täter und Opfer sind jünger geworden, und immer öfter werden die sexuellen Handlungen an wehrlosen Opfern von ganzen Gruppen begangen, wobei auch psychotrope Substanzen (Alkohol, Cannabis, Kokain etc.) konsumiert und physische Gewalt ausgeübt wird. Dieser Tendenz liegt zunächst einmal die Tatsache zugrunde, dass Teenager heute körperlich reifer sind als früher. Seit 1750 verschiebt sich die Pubertät jedes Jahrzehnt um 2,5 Monate nach vorne. Die heute 13-Jährigen sind die 18-Jährigen von damals. Im 18. Jahrhundert hatten die 18-jährigen Chorknaben den Stimmbruch noch nicht durchgemacht. Die Vorverschiebung von Pubertät und Adoleszenz zeigt sich aber nicht nur im Stimmbruch und in der sexuellen Reifung, sondern auch im Risikoverhalten. 13-Jährige sind heute so risikofreudig wie vor 200 Jahren die 18-Jährigen. Nicht vorverschoben haben sich aber die psychische Reife, die Selbstständigkeit und die Fähigkeit, besonnen zu handeln. Zudem sind Jugendliche heute sexuell aktiver und experimentierfreudiger als noch vor einer Generation. Sie sehen im Internet Praktiken, die sie gerne ausprobieren möchten, können sich aber nicht vorstellen, was solche Handlungen für die Opfer bedeuten.

Berichte über sexuelle Grenzüberschreitungen mit sehr jungen Tätern und Opfern dringen immer häufiger an die Öffentlichkeit. Gemäß einer Statistik der Schweizer Opferberatungsstelle Castagna hat sich der Anteil von minderjährigen Sexualstraftätern zwischen 2004 und 2009 von 9,6 Prozent auf 19,3 Prozent erhöht und somit praktisch verdoppelt. Opfer sind meistens sehr junge Mädchen.

Nicht neu ist allerdings das Phänomen, dass jugendliche Sexualstraftäter in Bezug auf ihren Anteil an der Bevölkerung überrepräsentiert sind. Je nach Quelle begehen Jugendliche bis 30 Prozent aller Sexualstraftaten, und die meisten erwachsenen Sexualstraftäter haben sich bereits in ihrer Jugend sexueller Grenzverletzungen schuldig gemacht. In Deutschland werden jährlich über 5000 Kinder und Jugendliche verdächtigt, Sexualdelikte begangen zu haben. Es handelt sich vorwiegend um männliche Jugendliche, während junge Frauen lediglich 5 Prozent der Tatverdächtigten ausmachen. Bei sexuellen Gewaltdelikten liegt der Anteil an jungen weiblichen Tatverdächtigten sogar lediglich bei 1,3 Prozent. Der Anteil der jugendlichen Tatverdächtigen ist stark vom Delikt abhängig. Besonders groß ist er bei Anzeigen wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern (§ 176 des deutschen StGB).

Persönlichkeit junger Sexualstraftäter

Was sind das für junge Menschen, die sich sexuell an anderen Menschen vergehen und verbindliche Grenzen überschreiten? Obwohl es darüber viele wissenschaftliche Untersuchungen gibt, ist gerade diese Frage schwer zu beantworten, weil Jugendliche derartige Delikte aus unterschiedlichen Motiven und in unterschiedlichen Situationen verüben können. Viele Studien weisen darauf hin, dass sie in ihrer Kindheit überdurchschnittlich häufig selber Opfer von sexueller oder körperlicher Gewalt waren. Ein nicht geringer Teil ist bereits früher wegen anderer Straftaten, insbesondere wegen Diebstählen, Raub und anderen Eigentumsdelikten, aufgefallen.

Gemäß einer Studie im Schweizer Kanton Zürich sind Jugendliche, die sexuelle Übergriffe verüben, meistens sehr jung und haben ihre ersten sexuellen Übergriffe bereits vor dem 14. Lebensjahr begangen. Gut zwei Drittel von ihnen leiden an einer psychischen Störung, und die Hälfte wendet sogar körperliche Gewalt an. Bemerkenswert ist, dass eine kleine Gruppe von nur 6 Prozent der Täter für über die Hälfte aller sexueller Übergriffe verantwortlich ist. Viele von diesen Intensivtätern sind bereits wegen anderer Straftaten aktenkundig.

Die meisten Täter weisen Besonderheiten in der Persönlichkeitsentwicklung auf, aufgrund derer sie sich in vier große Gruppen einteilen lassen:

Eine erste Gruppe stammt aus einer intakten Familie, hat jedoch Probleme mit der Verarbeitung neuer Körpererfahrungen in der Adoleszenz. Nicht selten handelt es sich dabei um schüchterne Einzelgänger.

Eine zweite Gruppe ist sozial randständig, hat Probleme in der Schule oder am Arbeitsplatz, hatte schon viele Polizeikontakte und zeichnet sich durch viele Intimkontakte ohne engere Beziehung (One-Night-Stands) aus.

Die dritte Gruppe ist sozial gut integriert und weitgehend unauffällig. Diese Jugendlichen haben jedoch Beziehungsprobleme, wobei sie die Schuld dafür nicht bei sich selber sehen.

Die vierte Gruppe schließlich leidet an einer Minderintelligenz und – damit verbunden – an einer Einschränkung der psychosozialen Kompetenz.

Einige jugendliche Sexualstraftäter leiden an einer psychischen Störung mit Krankheitswert, die mit der Tat in direktem oder indirektem Zusammenhang steht. Exhibitionistisches Verhalten tritt in 10 Prozent der Fälle bereits bei Jugendlichen auf. Unter Exhibitionismus verstehen wir das dranghafte Bedürfnis, das eigene Genital Fremden gegenüber zur Schau zu stellen. Bei sonst unauffälligen Jugendlichen ist dieses Verhalten in über der Hälfte der Fälle auf eine Lebensphase beschränkt. Bei desintegrierten, sozial randständigen Jugendlichen hingegen bleibt das exhibitionistische Verhalten oft während des ganzen Lebens bestehen. Deshalb ist eine frühe therapeutische Intervention von großer Bedeutung.

Ebenfalls schon in der frühen Adoleszenz kann sich eine Pädophilie manifestieren. Diese beginnt mit intensiven sexuellen Fantasien, die sexuelle Handlungen mit vorpubertären oder pubertierenden Kindern beinhalten. Wir unterscheiden die Kernpädophilie, bei der sexuelle Befriedigung nur durch sexuelle Handlungen mit Kindern möglich ist und die während des ganzen Lebens bestehen bleibt, von vorübergehenden oder episodisch auftretenden sexuellen Handlungen mit Kindern, die wir vor allem bei sexuell unerfahrenen, kontaktgestörten oder intelligenzgeminderten Jugendlichen finden. Die Pädophilie im psychiatrischen Sprachgebrauch deckt sich nicht mit dem juristischen Begriff der sexuellen Handlungen mit Kindern. Dieser bezieht sich auf sexuelle Handlungen mit unter 16-jährigen Kindern, die sich im Schutzalter befinden, die aber die Pubertät durchaus schon hinter sich haben können.

Oft ebenfalls in der Pubertät liegt ferner der Beginn von fetischistischen Neigungen, das heißt des dranghaften Bedürfnisses zur sexuellen Befriedigung mit unbelebten Gegenständen wie weiblicher Unterwäsche oder Leder. Meistens ist diese Störung nicht mit der Anwendung von Gewalt verbunden. Manchmal kommt es jedoch zur Anwendung von Gewalt zwecks Vertuschen der Neigung oder zum Beschaffen von weiblicher Unterwäsche.

Rückfallrisiko

Das Rückfallrisiko ist bei sexuellen Grenzüberschreitungen von Jugendlichen meistens nicht besonders hoch. Die Gefahr, dass ein Jugendlicher mit Sexualdelikten rückfällig wird, beträgt im Durchschnitt rund 8 Prozent; bestimmte Fachleute gehen allerdings von einem Rückfallrisiko von bis 15 Prozent aus. Dem gegenüber begehen viel mehr Jugendliche nach dem Sexualdelikt andere Straftaten (31 Prozent).

Zur Einschätzung des Rückfallrisikos im Einzelfall werden heute in der Regel Kriterienkataloge angewendet. Seit Jahren bewährt hat sich zum Beispiel der sogenannte »Estimate of Risk of Adolescent Sexual Offense Recidivism« (ERASOR, Worling & Curwen, 2001). Er ist für die Einschätzung des Rückfallrisikos von 12- bis 18-jährigen Sexualstraftätern geeignet und beruht auf 25 Punkten, die zu werten sind und die gemäß wissenschaftlichen Erkenntnissen mit dem Rückfallrisiko in einem Zusammenhang stehen. Wie immer bei der Einschätzung des Rückfallrisikos von Straftätern kann das Verhalten des Täters nicht vorausgesagt werden, sondern es kann lediglich abgeschätzt werden, ob das Risiko für eine weitere Sexualstraftat hoch, mittel oder niedrig ist. Das Instrument ERASOR besteht aus einem Katalog, mit dessen Hilfe folgende Bereiche nach ganz bestimmten Kriterien jeweils mit »vorhanden«, »nicht vorhanden«, »teilweise oder möglicherweise vorhanden« oder »unbekannt« eingeschätzt werden sollen:

Sexuelle Interessen, Einstellungen und Verhalten

abweichende sexuelle Interessen (Kinder, Gewalt oder beides)

zwanghaft-obsessive sexuelle Interessen

Einstellungen, die sexuellen Missbrauch unterstützen

fehlender Veränderungswille

Vorgeschichte sexueller Übergriffe

sexuelle Übergriffe an zwei oder mehr Opfern

zwei oder mehr Übergriffe mit dem selben Opfer

frühere Sanktionen durch Erwachsene für sexuelle Übergriffe

Drohung oder Gebrauch von exzessiver Gewalt

sexuelle Übergriffe auf ein Kind

sexuelle Übergriffe gegen unbekannte Personen verübt

willkürliche Auswahl der Opfer

sexuelle Übergriffe mit männlichem Opfer

Verüben verschiedenartiger sexueller Übergriffe

Psychosoziale Faktoren

antisoziale Orientierung/Verhalten

Fehlen enger Beziehungen zu Gleichaltrigen

negative Einflüsse von Gleichalterigen

aggressives Verhalten gegen andere

Eskalationen von Ärger oder negativen Affekten

mangelnde Fähigkeit zur Selbstregulation

Funktionsniveau der Familie/Umgebung

hoch belastete familiäre Umgebung

problematische Beziehung zu den Eltern

fehlende Unterstützung der deliktspezifischen Behandlung

Umgebung unterstützt Gelegenheit zum Rückfall

Behandlung

Fehlen realistischer Strategien zur Rückfallvermeidung

deliktspezifische Behandlung nicht abgeschlossen.

Die Anwendung dieses Risikoinstruments erfordert eine spezielle Ausbildung und Erfahrung. Es würde in die Irre führen, wenn man einfach die einzelnen Punkte nach Gutdünken durchgehen und dann die Summe der mit »vorhanden« bewerteten Kriterien addieren würde. Eine verlässliche Risikokalkulation erfordert eine Gesamtwertung des Ergebnisses vor dem Hintergrund der psychischen Verfassung und der Lebensgeschichte des jugendlichen Täters.

Opfer

Opfer der sexuellen Übergriffe von Jugendlichen sind vorwiegend Gleichaltrige oder etwas jüngere Kinder und in über vier Fünfteln der Fälle sind sie weiblich. Jede fünfte Frau und jeder zwölfte junge Mann im Alter zwischen 15 und 17 Jahren berichtet, schon mindestens einmal zum Geschlechtsverkehr gezwungen oder gegen seinen Willen an intimen Stellen berührt worden zu sein.

Das Risiko, zum Opfer sexueller Grenzverletzungen zu werden, ist nicht für alle Jugendlichen gleich hoch. Besonders gefährdet sind Jugendliche, die aus schwierigen familiären Verhältnissen kommen, Suchtmittel konsumieren und ihre Freizeit mit gewaltbereiten Jugendlichen verbringen.

Zahlenmäßig und in ihrer Wirkung nicht zu unterschätzen sind sexuelle Übergriffe unter Geschwistern. In Frankreich sollen sich 43 Prozent aller Sexualdelikte von Jugendlichen in der Kernfamilie ereignen. Täter ist in der Regel der ältere Bruder, der sich selber noch im Jugendalter befindet. Opfer ist klassischerweise die jüngere Schwester, die noch ein Kind ist und die Pubertät noch vor sich hat. Die Übergriffe können monate-, wenn nicht sogar jahrelang andauern und hören oft erst auf, wenn sich das Opfer zu wehren beginnt. Wenn die Handlungen bekannt werden, geraten die Eltern in eine besonders schwierige Situation, weil sie sowohl Eltern des Opfers als auch des Täters sind. Die Täter ihrerseits legen in der Regel Wert auf die Feststellung, keine Gewalt angewendet zu haben, was sie damit begründen, dass sich das Opfer ja nicht gewehrt habe.

Die Folgen eines sexuellen Übergriffs sind weniger vom objektiven Schwergrad der Grenzverletzung abhängig als davon, wie der Übergriff vom Opfer subjektiv erlebt wird. Oft wird ein sexueller Missbrauch, der von einem Täter aus dem direkten Umfeld des Opfers verübt wird, als besonders schwerwiegend erlebt, weil in diesem Fall meistens auch ein Vertrauensmissbrauch vorliegt.

Entgegen einer weit verbreiteten Meinung gibt es keine spezifischen Symptome, die beweisen würden, dass ein Kind Opfer eines sexuellen Übergriffs geworden ist. Die Folgestörungen sind unspezifisch und könnten immer auch eine andere Ursache haben. Wir wissen aber, dass von sexuellen Übergriffen betroffene Kinder überdurchschnittlich häufig an Ängsten, Aggressivität, Depressionen, Schlafstörungen, Essstörungen und ungenügendem Selbstwertgefühl leiden. Zudem können die Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung auftreten, eine Diagnose, die nach heutigen Erkenntnissen allerdings oft zu leichtfertig gestellt wird. In anderen Fällen wird ein altersunangemessenes Sexualverhalten beobachtet, zum Beispiel mit öffentlichem Masturbieren, Entblößen der Genitalien oder sexualisiertem Spiel mit Puppen. Neben den unmittelbaren Folgen gibt es auch Langzeitstörungen, die noch nach Jahren zu beobachten sind, zum Beispiel Depressionen, Selbstverletzungen, Suizidimpulse oder Störungen des Sexualverhaltens. Andererseits kann bereits das Ansprechen und Anerkennen der Übergriffe bei über der Hälfte der Kinder innerhalb von einigen Monaten zu einer Entlastung und zu einer Besserung – vor allem der Angstzustände und der psychosomatischen Beschwerden – führen.

Nicht nur der sexuelle Übergriff selber, sondern auch das Verhalten des Umfeldes danach und die strafrechtliche Untersuchung können für ein Kind traumatisch sein. Es ist deshalb wichtig, dass im Ermittlungsverfahren mit der nötigen Sorgfalt vorgegangen wird. Die Opfer selbst sehen als Ursache für ihre Schäden etwa zur Hälfte der Fälle die sexuelle Handlung selbst, zu einem Drittel das Verhalten des Täters danach und zu je einem Zehntel das Verhalten von Verwandten und Bekannten sowie der Polizei.

Da es keine eindeutigen psychischen Symptome oder Verhaltensauffälligkeiten gibt, die sexuelle Übergriffe beweisen, gibt es auch Falschbeschuldigungen. Diese sind allerdings selten, wenn ein Kind von sich aus, ohne speziell befragt zu werden, von sexuellen Übergriffen berichtet. Häufiger sind Falschaussagen, wenn sie im Rahmen von Scheidungs- und Sorgerechtskonflikten geäußert werden.

Jugendliche Sexualmörder

Besonders schwer nachvollziehbar und deshalb Aufsehen erregend ist es, wenn Jugendliche einen Sexualmord begehen. Trotz der vergleichsweise hohen Präsenz derartiger Vorfälle in den Medien handelt es sich um ein ausgesprochen seltenes Phänomen. Gemäß dem Bundeskriminalamt Wiesbaden gibt es in Deutschland pro Jahr jeweils zwischen null und drei Fälle von »Mord im Zusammenhang mit Sexualdelikten«, wie die amtliche Bezeichnung von Sexualmord lautet. Eine der ersten deutschsprachigen Untersuchungen über jugendliche Mörder (Lempp, 1977) ergab, dass die Tötungen meistens die Folge einer Situationsverkennung sind und dass die Tötung zur Befriedigung der Lust selten ist. Bei jugendlichen Tätern, die an einer Intelligenzminderung leiden, spielten Kontaktprobleme eine große Rolle, was sich auch darin zeigt, dass der Tat häufig ein plumper sexueller Kontaktversuch vorausgeht. Gemäß einer neueren Studie (Habermann, 2008) leiden die meisten jugendlichen Sexualmörder zum Zeitpunkt der Tatbegehung an einer schweren, lang anhaltenden psychischen Störung. Sie sind mehrheitlich durch körperliche Misshandlungen und emotionale Vernachlässigungen seitens ihrer Eltern traumatisiert. Wichtigste Risikofaktoren sind schwere Beziehungsstörungen – bis hin zu vollständiger sozialer Isolation – und die Entwicklung einer sadistischen sexuellen Deviation. Das Risiko für spätere schwere Folgedelikte ist am höchsten, wenn der Täter nicht zeitnah zum ersten Tötungsdelikt gefasst wird.

Therapie

Die Behandlung von minderjährigen Sexualstraftätern wird in der Regel von der Jugendanwaltschaft angeordnet. Auftraggeber der Therapie ist also weder der Jugendliche selbst noch die Eltern, sondern eine Behörde oder ein Gericht. Zudem besteht ein Nebeneinander von Erziehung, Strafe und Therapie.

Dieses besondere Setting muss bei der Behandlungsplanung berücksichtigt und mit dem Jugendlichen besprochen werden. Am Anfang der Therapie steht ein schriftlicher Behandlungsvertrag zwischen dem Jugendlichen, dem Therapeuten oder der Therapeutin und der Auftrag gebenden Behörde. In diesem muss auch der Umgang mit der ärztlichen Schweigepflicht geregelt werden. Zudem müssen regelmäßige Standortgespräche, periodische schriftliche Berichte an die Behörde und der Einbezug der Familie vorgesehen werden. Die Erfahrung zeigt, dass bei einer guten Zusammenarbeit von Justiz, Sozialpädagogik und Therapeuten eine angeordnete Therapie eine mindestens ebenso gute Erfolgsaussicht hat wie eine Therapie auf freiwilliger Basis.

Das übliche therapeutische Konzept der Behandlung von jugendlichen Sexualstraftätern sieht eine integrative, modular aufgebaute Therapie vor. Zentral sind verhaltenstherapeutisch ausgerichtete Programme. Die Therapie darf sich jedoch nicht auf diese beschränken, sondern muss auch familienthera-peutische, sozialtherapeutische, psychopharmakologische und pädagogische Aspekte berücksichtigen. Im deliktorientierten Rahmenprogramm wird aufgezeigt, wie es zu den sexuellen Übergriffen kommen konnte. Das Deliktverhalten wird dabei in verschiedene Phasen aufgeteilt und in einem sogenannten Deliktkreis dargestellt.

Der Deliktkreis beginnt mit bestimmten Belastungen oder täterspezifischen Risikosituationen. Der Jugendliche reagiert auf diese Stresssituationen emotional mit Gefühlen wie Hoffnungslosigkeit, Ohnmacht, Wut, Ärger, Verzweiflung, Langeweile etc. Dann sucht er Kompensationsmöglichkeiten, Gedanken eines Übergriffs tauchen auf und Fantasien werden entwickelt. Die damit verbundenen Gefahren werden vom Jugendlichen bagatellisiert, er sucht nach Entschuldigungen und Rechtfertigungen. Es werden Deliktvorbereitungen getroffen und Opfer ausgewählt. Anschließend wird eine Gelegenheit für den sexuellen Übergriff gesucht und die Entscheidung, das Vorhaben umzusetzen, getroffen. Der Prozess ist verbunden mit Gefühlen der Macht, aber auch mit Nervenkitzel und Erregung. Zur Überwindung von Widerständen werden unbewusst Wahrnehmungen verzerrt oder es werden künstlich vernünftig wirkende Deutungen für das deliktische Verhalten konstruiert (sogenannte Rationalisierungen und kognitive Verzerrungen). Durch Rationalisierungen und kognitive Verzerrungen versucht der Jugendliche, sich zu beruhigen und die Angst vor Konsequenzen zu bannen. Die Schuld wird entweder bagatellisiert oder auf andere abgeschoben. Nach der Tat gelobt der Täter Besserung, will nicht mehr über das Geschehene sprechen und alles vergessen. Das führt jedoch erneut zu Problemen und Belastungen, auf die der Jugendliche genau so wie immer reagiert. Er sucht nach Kompensationsmöglichkeiten, der Kreis kann von vorne beginnen.

Anhand dieses Modells wird das deliktische Verhalten des Jugendlichen in der Therapie drehbuchartig rekonstruiert. Der jugendliche Täter lernt zu erkennen, welche Prozesse in ihm ablaufen und wie er diese beeinflussen kann. Dieses therapeutische Vorgehen erscheint auf den ersten Blick einfach. Es kann jedoch sehr langwierig sein und Monate, ja Jahre in Anspruch nehmen, weil innere Widerstände des Jugendlichen seinen Blick auf die für ihn unangenehme Realität versperren.

Fazit

Jugendliche treten bei Sexualdelikten sowohl überdurchschnittlich häufig als Opfer als auch als Täter auf. Verlässliche Zahlen sind schwer zu eruieren, weil die Dunkelziffer in diesem Bereich hoch ist.

Aufgrund der früheren körperlichen Reifung, der Veränderung des Umfeldes und der sexuellen Reizüberflutung hat sich die Qualität der von Jugendlichen verübten sexuellen Delikte stark verändert. Insgesamt hat aber die Sexualdelinquenz in den vergangenen Jahren nicht zugenommen.

Es gibt bei jugendlichen Sexualstraftätern kein einheitliches Persönlichkeitsprofil. Täter können äußerlich gut integrich sozial verwahrloste oder minderintelligente Jugendliche. Viele der jugendlichen Sexualstraftäter werden auch in anderen Bereichen straffällig. Besonders häufig begehen sie Eigentumsdelikte und Raubüberfälle.

Nach dem Aufdecken der sexuellen Übergriffe und der Einleitung geeigneter Maßnahmen ist die Rückfallgefahr bei jugendlichen Sexualstraftätern eher gering. Allerdings gibt es von Fall zu Fall große Abweichungen. In der Regel besteht aber ein größeres Risiko, dass der jugendliche Sexualstraftäter später noch andere Delikte begeht.

Die Opfer von sexuellen Übergriffen leiden oft an erheblichen psychischen Folgeschäden, die manchmal jahrelang anhalten können. Es gibt aber kein Störungsbild, das eindeutig auf einen stattgefunden sexuellen Übergriff schließen ließe.

Für die Therapie von Sexualstraftätern gibt es bewährte Konzepte, in der verschiedene Behandlungsansätze integriert werden. Im Zentrum aber steht die Aufarbeitung des Delikts.

Gewisse krankheitswertige Störungen des Sexualverhaltens wie Pädophilie, Exhibitionismus und Fetischismus können bereits im Jugendalter beginnen.